Über Migration, Entwicklung und ökologische Krise

Von Miriam Gutekunst, Lydia Lierke und Matthias Schmelzer
14. Juni 2018

Der Zusammenhang zwischen Migration, selbstbestimmter Entwicklung und ökologischer Krise ist aus unserer Sicht absolut elementar. Denn es ist ausgesprochen zynisch und fatal, dass Flucht und Migration in Europa überwiegend unter Schlagworten wie Migrationskontrolle, Obergrenzen oder angeblich fehlender Integrationsbereitschaft diskutiert werden. Auf diese Weise wird vor allem der von Flüchtlingsselbstorganisationen bereits seit langem geprägte Slogan „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört!“ systematisch ausgeblendet. Demgegenüber möchten wir bei der Konferenz „Selbstbestimmt und solidarisch! Konferenz zu Migration, Entwicklung und ökologischer Krise“ darüber diskutieren, welche Entwicklungsperspektiven mit Flucht und Migration verbunden sind.

Unterschiedliche Perspektiven auf Flucht

Die aktuellen Fluchtbewegungen halten uns vor Augen, dass ein gutes Leben in vielen Ländern weltweit nicht möglich ist. Dabei ist Flucht ein politischer Akt, die dominierenden Machtverhältnisse und Verteilungsungleichheiten zu durchbrechen und sich Teilhabe am Wohlstand anzueignen. Die Abschottungspolitik und verschärfte Asylgesetzgebung der Europäischen Union machen deutlich, wie eigene Privilegien und der westliche Lebensstil gesichert und eine Öffnung sowie ein Teilen des Wohlstands unbedingt verhindert werden sollen. Geflüchtete und Migrant_innen werden als „Eindringlinge“ gesehen, denen das Recht auf Bewegungsfreiheit aberkannt wird. Gleichzeitig besitzen Europäer_innen das Privileg, nahezu ohne Hindernisse die Welt zu bereisen, kennenzulernen und sich anzueignen. Dass grenzüberschreitende Migration auch als gesellschaftliche Bereicherung und Normalität angesehen werden kann, zeigt die traditionelle Praxis der innerafrikanischen Pendelmigrant_innen, die im Rahmen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft festgeschrieben ist.

Das vorherrschende Wachstums- und Entwicklungsparadigma ist überholt

Deshalb nehmen wir den Entwicklungsbegriff selbst in den Fokus. Denn die Frage nach dem guten Leben basiert auf Überlegungen über künftige Lebensentwürfe und -chancen. In den 1940er Jahren versprach der Entwicklungsgedanke, Armut und Elend weltweit zu bekämpfen. Er versprach den Menschen im Globalen Süden ein Leben zu ermöglichen, das in den Industrieländern bereits gelebt wurde. Mithilfe dieser Idee wurde die Welt in Entwicklungsstufen unterteilt, kategorisiert und hierarchisiert. Ein einseitiges, unilineares Konzept gesellschaftlicher Ziele wurde konstruiert und mit politischer, wirtschaftlicher Macht und oftmals physischer Gewalt in kolonialisierten Weltregionen durchgesetzt. Dabei steht der klassische Entwicklungsansatz in direktem Bezug zum Wirtschaftswachstum und zielt auf die gesellschaftliche Integration in die kapitalistische Produktionsweise ab. Beides wurde als Heilversprechen für eine Zukunft ohne Armut und Hunger sowie für ein Leben in Wohlstand angesehen. Entwicklungs- und globale Handelspolitik setzen dieses Wachstumsmodell aktiv durch.

Darüber hinaus wurde das Bild des Westens von einem guten Leben und gesellschaftlicher Entwicklung zur Norm erhoben und auf andere Regionen weltweit übertragen – ein „Weltbild“ wurde geschaffen. Diese Vorstellung von Entwicklung, die Modernisierung und Rationalität zum Leitbild hat, ist zur hegemonialen Vorstellung geworden. Mit dem normativen Entwicklungsbegriff werden kapitalistische Verhältnisse reproduziert, die für die bestehenden sozio-ökonomische Ungleichheiten zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden verantwortlich sind.

Klimabedingte Migration: Vorsicht vor Vereinfachung komplexer Ursachen

Hierin begründet liegen viele Ursachen für Flucht und Migration. In den letzten Jahren wird auch der Klimawandel als weiterer Faktor für Flucht diskutiert. Neuere Veröffentlichungen dazu gehen von 60 Millionen Vertriebenen bis 2050 aus, die ihre Länder verlassen müssen. Die Lebensweise des Globalen Nordens und der globalen Elite verursacht in vielen Ländern des Globalen Südens ökologische Krisen und verschärft die soziale Lage vor Ort. Dennoch muss man den Begriff der klimabedingten Migration auch kritisch sehen. Denn der Klimawandel ist selten die einzige Fluchtursache. Insofern birgt der Begriff der Klimamigration die Gefahr, komplexe gesellschaftliche Verhältnisse zu depolitisieren. Daher ist es wichtig, Interdependenzen von ökologischen, sozialen und politischen Fluchtursachen zu diskutieren. Klimaflucht steht immer im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit in einem Land. Wer wo unter welchen Bedingungen lebt, ist von politischen Entscheidungen abhängig. Die übergeordnete Frage, die den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Entwicklung deutlich macht, muss daher lauten: Wie Klimagerechtigkeit und selbstbestimmte Entwicklung aussehe?

Die Ursachen für Flucht und Migration systematisch untersuchen

Mit der Konferenz „Selbstbestimmt und solidarisch! Konferenz zu Migration, Entwicklung und ökologischer Krise wollen wir globale Machtverhältnisse analysieren, die sich in politischen Entscheidungen und internationalen Abkommen ausdrücken. Wie genau das aussieht, wollen wir an konkreten Beispielen wie den Themen Ernährungssouveränität, Landgrabbing, Freihandelsabkommen und den Auswirkungen der Lebensweise des Globalen Nordens aufzeigen.

Debatten um Degrowth haben das Potential, hier eine wichtige Rolle zu spielen, denn sie bringen soziale, ökologische und demokratische Fragen zusammen und stellen Räume zur Verständigung zur Verfügung. Auch wenn Degrowth nicht der Lösungsweg ist, so ist der Ansatz doch ein Kristallisationspunkt und eine relevante Perspektive für eine sozial-ökologische Transformation und global nachhaltige Entwicklung. Die Verbindung zwischen Degrowth und Migration liegt bei den Fluchtursachen selbst. Diese sind Produkt und Resultat von kolonialistischen Kontinuitäten und Wirtschaftsweisen sowie der imperialen Lebensweise und der damit einhergehenden Rohstoffpolitik des Globalen Nordens. Um der Frage nachzugehen, wie eine selbstbestimmte Entwicklung und ein selbstbestimmtes Leben aussehen kann, müssen die Ursachen für Flucht und Migration systematisch und historisch analysiert werden.

Erweitert werden soll die Degrowth-Perspektive durch Kooperationen mit Menschen aus dem Globalen Süden, die wiederum ihre Erfahrungen und Perspektiven einbringen. Zum einen wird so eine noch differenzierte Sichtweise möglich und das Repertoire um weitere Handlungsoptionen bereichert.

 

Welche Fragen wird die Konferenz diskutieren?

 

>> Was meinen wir (wir alle, die jeweils ganz unterschiedliche Erfahrungen, Hintergründe und politische Ideen haben), wenn wir von Entwicklung sprechen? Geht es um die Befriedigung von Grundbedürfnissen oder haben wir weitergehende Konzepte zur Veränderung ganzer Gesellschaften im Kopf?

>> Welche alternativen Konzepte oder Strategien zum dominanten westlichen Entwicklungsmodells gibt es bereits? Was können wir von Konzepten wie „Ernährungssouveränität“, „Buen Vivir“, „Klimagerechtigkeit“ oder „Post-Development“ lernen?

>> In welche Richtung müssen sich die reichen Industrie- und Schwellenländer entwickeln, wenn es nicht endgültig zum ökologischen (Klima-)Kollaps kommen soll? Konkreter: Wie müssen die Ökonomien der reichen Industrieländer schrumpfen, damit die Menschen in den seit Jahrhunderten arm gemachten Ländern des Globalen Südens endlich Luft zum Atmen bzw. zur selbstbestimmten Entwicklung bekommen?

>> In welchen Bereichen muss es auf globaler, nationaler und lokaler Ebene jeweils Veränderungen geben, damit überhaupt so etwas wie selbstbestimmte Entwicklung möglich ist?

>> Wie können Migrant_innen und Geflüchtete in Europa – oder die Diaspora-Communities insgesamt – alternative Entwicklungswege von unten in ihren Herkunftsländern politisch, finanziell und sozial unterstützen?

>> Inwieweit führt die Abschottungspolitik der EU dazu, dass genau solche Unterstützungen durch die Diaspora verhindert werden – vor allem dadurch, dass es keine Bewegungsfreiheit und somit auch keine zirkuläre Mobilität gibt?

>> … und viele andere Fragen mehr – je nach dem, welche Interessen formuliert werden …

Über diesen Text

Dieser Text ist im Vorfeld der Konferenz „Selbstbestimmt und solidarisch! Konferenz zu Migration, Entwicklung und ökologischer Krise“ im Oktober 2017 entstanden. Das Konzeptwerk hat die Konferenz als eine von mehreren Organisationen mitorganisiert hat.

Miriam Gutekunst, Lydia Lierke & Matthias Schmelzer

haben 2017 beim Konzeptwerk die Konferenz „Selbstbestimmt und solidarisch! Konferenz zu Migration, Entwicklung und ökologischer Krise“ mitorganisiert.