
Care-Arbeit für globale Gerechtigkeit und Solidarität
Dieser Text zeigt anhand des Beispiels der indigenen Chagreras (Bäuerinnen) in den indigenen Gemeinden von AATICAM, Kolumbien, wie globale Gerechtigkeit und Care miteinander verbunden sind. Er ist aus einer nicht-akademischen Perspektive und Erfahrung geschrieben, mit einer kritischen Haltung zu Macht und insbesondere zu Rassismus. Er ist aus der Perspektive einer migrantischen cis-hetero Frau mit Migrationshintergrund aus dem globalen Süden im globalen Norden lebend geschrieben. Er hat die Absicht, verschiedene Formen sozialer Ungleichheiten sichtbar zu machen, zu identifizieren und zu benennen. Und er möchte das Bewusstsein für Wege in eine globale Gerechtigkeit schärfen!
Globale Perspektive
Um aus einer globalen Perspektive zu sprechen, ist es wichtig klarzustellen, dass es sich hier um eine plurale Position handelt. In diesem Fall von „Feminismen“ im Plural. Dies erkennt an, dass es nicht nur eine einzige Strömung oder Aktionsform gibt, sondern mehrere. Einige sind aktiv, andere inaktiv. Weitere reagieren auf soziale Veränderungen, leisten Widerstand oder haben sich mit den etablierten Machtstrukturen verbunden.
Eine globale Perspektive verweist auf verschiedene Identitäten und Positionen, die eine globale Solidarität fordern. Dafür ist es notwendig sich zwischen den Dynamiken zu bewegen, die von Positionen wie dem globalen Norden und dem globalen Süden präsentiert werden. Bei dieser Kategorisierung handelt es sich nicht um eine geografische Einteilung, sondern um einen historischen Hintergrund. Dabei werden immer Positionen zwischen Macht und Unterdrückung eingenommen: Unterdrücker – Unterdrückte, Kolonisierte – Kolonisatoren.
Aus dieser globalen Perspektive ist es noch komplexer, geschlechtliche Identitäten oder sexuelle Orientierungen herzustellen, ohne hegemoniale Machtverhältnisse und Strukturen zu reproduzieren. Bislang wird der „Mainstream“ von denjenigen definiert, die das Privileg haben, sich selbst zu benennen und zu positionieren, sowie andere zu benennen und zu positionieren. Die globale Perspektive zeigt auf, dass Heteronormativität eine Strategie oder ein Werkzeug der hegemonialen Macht des Kolonialismus ist und war.
Im Falle einer geschlechtergerechten Perspektive ist es wichtig, die verschiedenen Positionen und Ausrichtungen sowie den Pluralismus einzubeziehen. Denn je nach Kontext, Territorium oder Gemeinschaft werden sie als Identitäten bestimmt und anerkannt.
So bezieht sich der Begriff „Frau“ oder „Frauen“ beispielsweise auf eine Person oder eine Personengruppe, die sich selbst als weiblich bezeichnen, sowie auf „Mädchen“ im Falle von Minderjährigen. Ohne seine Berechtigung in Frage zu stellen [1].
Für die verschiedenen Identitäten gibt es folgende Beispiele:
- FLINTA: Feminin, Lesbisch, Inter*, Nicht-binär, Transgender und Agender.
- LGTBIQ+: Lesbisch, Schwul, Transgender, Bisexuell, Inter* [2] und Queer.
- Disidencias [3], muxes (trans Frau), travesti (Transvestit), maricas [4] (Homosexuell) und marimachxs. Identitäten aus dem Territorien von Abya Yala.
- Identitäten aus der Peripherie: All jene, die nicht benannt werden, weil sie vom Mainstream noch nicht anerkannt oder benannt sind. Identitäten aus der Peripherie, die sich selbst als solche erkennen, was wiederum ein politischer Akt des Widerstands ist. Gerechtigkeit!
Aus einer dekolonialen Perspektive gibt es Möglichkeiten, sich selbst zu positionieren oder auszusuchen, wer man ist und sich in verschiedenen Orientierungen zu erkennen. Dies wirft jedoch die Frage auf, inwieweit es aus einer globalen Perspektive zu einem Privileg wird, sich in einer nicht-binären Geschlechtsorientierung zu positionieren?
Herausforderungen von Geschlechtervielfalt am Beispiel der Ziele für Nachhaltige Entwicklung
Leider bleibt das Patriarchat ein gemeinsamer Nenner als globaler Beherrscher der Unterdrückung und der Unterdrückten, der immer noch seine Macht ausübt und reproduziert. Der Feminismus in seiner Pluralität und Vielfalt ist eine Antwort auf emanzipatorisches Handeln und globale Ermächtigungsprozesse, der Gerechtigkeit einfordert!
In vielen Ländern ist Nicht-Binarität illegal. Gesetzlich wird an der heteronormativen Zwei-Geschlechterordnung festgehalten. Internationale Aktionspläne oder Programme, wie beispielsweise die SDGs (Ziele für Nachhaltige Entwicklung) [5] zielen darauf ab, geschlechtliche Diskriminierung abzubauen, bleiben jedoch in einer binären Geschlechterordnung verhaftet. Damit stellen sie ihre Ressourcen nur einem Teil ihrer Zielgruppen zu Verfügung und beschränken oder gefährden jene sogar.
Die folgenden Beispiele zeigen Formen der expliziten Diskriminierung, dargestellt durch eine weibliche Positionierung. Andere geschlechtliche Orientierungen sind nicht berücksichtigt. Es ist durchaus möglich, dass in dieser Statistik auch andere Formen der geschlechtlichen Orientierung und Positionierung enthalten sind. Es gibt jedoch immer noch Länder in dieser Liste, in denen nicht-binäre Formen der geschlechtlichen Orientierung kriminalisiert werden, was durch die jeweiligen Rechtssysteme und Regierungsformen erfolgt. Aus diesem Grund ist es notwendig, eine Ernennung aus dieser „Legalität“ oder „Legitimität“ heraus vorzunehmen, um die Integrität der verschiedenen Menschen nicht zu gefährden.
Gemäß dem Ziel 5 „Gleichstellung der Geschlechter“ der SDGs wird folgendes Unterziel auf globaler Ebene formuliert [6]: “Alle Formen der Diskriminierung von Frauen und Mädchen überall auf der Welt beenden.”
Jedoch zeigen weltweit diskriminierende Gesetze gegen Frauen eine andere Realität:
- In 18 Ländern können Ehemänner ihre Ehefrauen rechtlich daran hindern zu arbeiten
- in 39 Ländern haben Töchter und Söhne nicht das gleiche Erbrecht
- in 49 Ländern fehlen Gesetze zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt
- in 37 Ländern werden Vergewaltiger nicht strafrechtlich verfolgt, wenn sie mit der vergewaltigten Frau verheiratet sind oder sie später heiraten
- in 63% der Länder fehlen Vergewaltigungsgesetze
- Dreiviertel der Länder haben kein Mindestheiratsalter von 18 Jahren festgelegt
Offensichtlich sind alle nicht-binären Identitäten von den Zahlen ausgeschlossen, was die Zahlen und Fälle von Diskriminierung weiter erhöht. Es ist daher ein Privileg gesellschaftlich, strukturell und systematisch benannt, anerkannt und einbezogen zu werden, ohne die körperliche und geistige Unversehrtheit derjenigen zu gefährden, die dazu in der Lage sind. Es stellt aber auch in Frage, was global legitim ist, und zeigt die große Kluft der sozialen Ungleichheit für unterschiedliche Menschen auf. Gerechtigkeit!
Widerstand und Solidarität
In westlichen Gendertheorien „wurde der Feminismus weiß und bürgerlich geboren” [7]. Er ist hauptsächlich von weißen, privilegierten Menschen aus dem globalen Norden entwickelt worden. Als Gegenreaktion gibt es einen großen emanzipatorischen Widerstand aus der antirassistischen und dekolonialen Haltung von BiPoC-Personen (Schwarze, indigene Menschen und People of Color). Bevor sie einen emanzipatorischen Prozess von ihren Geschlechtsidentitäten etablieren können, müssen sie sich gegen die doppelte Unterdrückung durch Patriarchat und Kolonialismus wehren.
Die begleitende Fotoserie zeigt eine Form des Widerstands durch die Aktionen indigener Chagreras (Bäuerinnen), Mitglieder indigener Gemeinschaften in der Region des indigenen resguardo (Schutzgebiet) von AATICAM im Südwesten Kolumbiens. Dieses Beispiel steht für einen sogenannten „Community Feminismus“. Dieser beschreibt eine dekoloniale Vision von Geschlechtervielfalt, in der der Feminismus nicht nur auf das Weibliche anspielt, sondern auf alle Diversitäten, die vor der Kolonisierung bestanden. Und er beschreibt, dass Gemeinschaften eine Praxis der sozialen Bewegung sind.
Die Fotoserie zeigt den Zubereitungsprozess des „Chicha brava“ mit Maniok. Maniok ist eine Knolle, die im Regenwaldgebiet des Amazonas leicht gesät, angebaut und kultiviert werden kann. Ohne spezielle Zubereitung ist diese Knolle für den menschlichen Verzehr giftig, schädlich und tödlich. Durch die Zubereitung mit dem überlieferten Wissen der indigenen Frauen wird der hohe Gehalt an Zyanid reduziert, so dass es für den menschlichen Verzehr geeignet ist.
Dieses Getränk hat nicht nur ein großes Nährwertpotenzial, sondern auch heilende Eigenschaften und wird für spirituelle und kulturelle Feiern verwendet. Gegen die Symptome des COVID19 Virus wird ihm eine heilende Wirkung bescheinigt.
Dieses Wissen und Know-how wird seit Tausenden von Jahren von den Vorfahren weitergegeben, und zwar aus der Perspektive der Geschlechter. Es sind die einheimischen Frauen, die Zugang zu diesem Wissen haben, es erlernen, anwenden und an andere Generationen weitergeben. Generationsübergreifend, von den Großmüttern bis zu den Mädchen.
In ihrem Tätigsein tragen die indigenen Chagreras (Bäuerinnen) zu globaler und ökologischer Gerechtigkeit bei. Sie tragen einen Teil der Verantwortung für die Ernährungssouveränität ihrer Gemeinden, die durch Care-Arbeiten wie das Pflanzen, Pflegen und Kultivieren einer Vielzahl von Knollen und Früchten in der Chagra erbracht werden [9]. Wenn diese Aktivität in großem Maßstab durchgeführt werden, könnten sie als ein Beitrag zur Renaturierung des Amazonas-Regenwaldes aus seinen angestammten Praktiken heraus gesehen und verstanden werden.
Das Amazonasgebiet als Ökosystem trägt einen wesentlichen Teil für das ökologische Wohlbefinden des Planeten bei. Die Handlungen der indigener Bäuerinnen tragen zur Erhaltung, zum Schutz und zum Wachstum dieses Ökosystems bei. Gleichzeitig garantieren sie die Ernährungssouveränität der Völker (Gemeinschaften), die Weitergabe des überlieferten Wissens und die Selbstverwaltung ihrer Territorien.
Das Anbausystem funktioniert im harmonischen Einklang mit den Zeiten und Zyklen der Natur und ihrer spirituell-antiken Vision. Aktuell ist es verschiedenen Bedrohungen ausgesetzt. Legale und illegalen Abholzungen, Umweltverschmutzung und die Umweltveränderungen aufgrund des Klimawandels machen dem Anbausystems zu schaffen. Die Zyklen von Regen und Dürre verändern sich.
Während die Länder des globalen Nordens den Planeten Erde auf unbestimmte Zeit verschmutzen, haben Ökosysteme wie das Amazonasgebiet eine globale Wirkung, indem sie die Luft reinigen und große Mengen an CO2 speichern. Auch die Aktionen der indigenen Chagreras (Bäuerinnen) haben eine globale Wirkung. Aber wer oder was entlohnt diese Arbeit? Diese Art von Arbeit reiht sich ein in die Liste der schlecht bezahlten oder unbezahlten Sorgearbeit ein.
Indem wir bekannt machen, was die indigenen Chagreras (Bäuerinnen) tun und es sichtbar machen, kann mehr Gerechtigkeit hergestellt werden! Das ist ein Weg um eines Tages gerechte Entschädigung zu erlangen. Die indigenen Gemeinschaften fordern:
Die Anerkennung ihres angestammten Wissens über die Bewirtschaftung und Pflege des Amazonas-Regenwaldes.
Die Unterstützung mit finanziellen Mitteln von Regierungen und internationalen Initiativen für ökologische, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Programme der lokalen Gemeinschaften.
[1] Es ist anzumerken, dass es weltweit Kontexte gibt, die von Heteronormativität beherrscht werden und es nur möglich ist, sich in der Binarität zu erkennen.
[2] „Es gibt keine eindeutige, vereinbarte Definition von Intergeschlechtlichkeit und keine klare Abgrenzung, welche spezifischen Bedingungen eine Person inter* machen.“ Alice D. Dreger. «Progress and Politics in the intersex rights movement, Feminist theory in action“. https://www.aisia.org/wp-content/uploads/2016/11/Dreger__Herndon_2009.pdf 23.01.2025.
[3] Sie bezieht sich auf die Vielfalt der Geschlechter und Sexualitäten, auf deren Entkolonialisierung und zum Beispiel auf die Art und Weise, wie Körper gesehen oder wahrgenommen werden.
[4] Ajata Hinojosa, Brígida Felipa. 19.02.2020. “ENCAMINAR LA LUCHA TRANS DESDE MI IDENTIDAD AYMARA”, Maricas en Movimientos Bolivia. https://maricasbolivia.wordpress.com/
[5] United Nations, 2015. “Agenda para el desarrollo sostenible, 20230”. Departamento de Asuntos Económicos y Sociales. Desarrollo Sostenible. Objetivo 5: Igualdad de Género. https://sdgs.un.org/goals/goal5
[6] UN-Women and DESA. 2024. Progress on the Sustainable Development Goals: The Gender
Snapshot 2024. New York: UN-Women and DESA. https://unwomen.de/sdg-5-gleichstellung-der-geschlechter/
[7] Drullard, Mikaelah. 2024. “El feminismo ya fué”. ONA Ediciones. Ciudad de México, México.
[8] Guzman , Adriana. 11.04.2024. “Adriana Guzmán, Indigenous Aymara woman: ‘Eurocentric feminism has a paternalistic gaze, it perceives us as an anecdote, something exotic”. El País, Madrid. https://english.elpais.com/society/2024-04-10/adriana-guzman-indigenous-aymara-woman-eurocentric-feminism-has-a-paternalistic-gaze-it-perceives-us-an-anecdote-something-exotic.html
[9] Chagra ist die Bezeichnung für ein Waldgebiet, das von den indigenen Völkern für Pflanzungen, Landwirtschaft und Waldpflege genutzt wird. Quelle ihrer Ernährungssouveränität. Kollektives Wissen der indigenen Gemeinschaften in der AATICAM-Region.
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