Ich bin mit einem Vorsatz in das neue Jahr gestartet: Ich möchte akzeptieren, dass es immer mindestens 10% Chaos in meinem Leben gibt. Ordnung ist für mich und viele andere Menschen ein wichtiger Teil der Psychohygiene. Chaos sorgt bei uns Menschen oft für Verunsicherung und Angst. Das machen sich rechte Kräfte leider zunutze, um progressive soziale Bewegungen zu bremsen. Wenn wir Angst haben und gelähmt sind, können wir uns nicht wehren, geschweige denn uns kreative Lösungen ausdenken für die Herausforderungen unserer Zeit. So wird die Krise als Symptom unseres Systems gleichzeitig zu dessen Selbsterhaltung. Dem müssen wir aber nicht ausgesetzt sein. Der Versuch, Chaos komplett zu verhindern, ist zum Scheitern verurteilt. Wie also können wir einen resilienten Umgang mit Chaos finden oder unsere Perspektive darauf ändern?

In der mathematischen Physik, genauer der Dynamik, ist die sogenannte Chaosforschung verortet. Sie beschreibt eine Theorie, in der bei Prozessen mit unvorhersehbarem Ausgang der Zusammenhang von Ursache und Wirkung erforscht wird. Die erforschten Phänomene erstrecken sich dabei über den Bereich der Physik hinaus und finden auch Anwendung in der Medizin oder der Meteorologie, sogar in Bereichen wie der Konjunkturforschung, der Nachrichtenforschung oder der Psychologie. Ein besonders populäres Phänomen ist dabei die „Schmetterlingstheorie“. Sie beschreibt die Sensitivität nichtlinearer Systeme. Oder griffiger formuliert und daher oft zitiert: „Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann einen Tornado in Texas auslösen“. Es geht hierbei keineswegs um Zufall oder Schicksal. Die Vorstellung, dass ein Flügelschlag überhaupt irgendetwas auslösen könnte, geschweige denn eine Folge im Ausmaß eines Tornados, mag uns absurd vorkommen. Ein und dasselbe Ereignis wäre in der Tat völlig unerheblich, wenn das System stabil wäre. Wir wissen aber, dass Waldbrände allein durch den kleinsten Funken ausgelöst werden können. Allerdings nur, wenn der Wald in einem trockenen Zustand ist. Der allgemeine Zustand muss also sensitiv beziehungsweise instabil sein!

Die Schmetterlingstheorie besagt außerdem, dass eine unendliche Präzision notwendig wäre, um vom Flügelschlag ausgehend vorhersagen zu können, wie das System reagiert. Das ist ungefähr so unmöglich wie Börsengänge, Tiktok Trends oder das Wetter langfristig zu prophezeien. Und doch holen ein paar zu selbstbewusste Analytiker*innen immer mal gerne die Glaskugel raus und sind sich ganz sicher, dass ab der nächsten Wahl der Faschismus regiert, die Klimaapokalypse unabwendbar ist oder morgen diesmal wirklich die Welt untergeht. Sie übersehen, dass diese Vorhersagen selbst Flügelschläge sind, die zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden können. Denn sie lösen potentiell Verhaltensweisen aus, die den prophezeiten Zukünften in die Hände spielen. Wagen wir einen Blick in die Meme-Kultur, fällt uns auf, dass seit ein paar Jahren immer häufiger die Formulierung „Das stand nicht auf meiner Bingo-Karte für 20xx“ genutzt wird, um zu verdeutlichen, wie überraschend öffentliche Ereignisse oft sind. Wenn das Wetter nicht länger zuverlässig prognostizierbar ist als für drei Tage, wie sollen wir dann langfristige politische und gesellschaftliche Entwicklungen vorhersagen?

Was können wir von der Chaosforschung lernen, wenn wir eine Welt frei von Machtstrukturen schaffen wollen? Mit dieser Aufgabe fühlen wir uns oft überfordert. Wir wissen, dass aufgrund von Globalisierung die meisten Krisen nur global zu bewältigen sind. Unser Gesellschaftssystem ist von immer schneller aufeinanderfolgenden multiplen Krisen geprägt und somit nicht gerade mit Stabilität gesegnet. Das muss aber kein Nachteil sein. Im Gegenteil: Ein instabiles System heißt, dass jede kleine Tat das Potential hat einen großen Effekt zur Folge zu haben. Außerdem: Wenn der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado auslösen kann, so kann er auch den Effekt haben, ihn zu verhindern.

So oder so, Instabilität beziehungsweise Chaos ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass Neues entstehen kann. Nur wenn lineare Prozesse unterbrochen werden, wenn die Atome sich nicht für immer an ihren berechenbaren Platz begeben, kann Evolution stattfinden. Kurz: Chaos schafft Möglichkeitsräume. Chaos als Teil geordneter Prozesse zu akzeptieren, soll keinesfalls ein Plädoyer dafür sein, das Leid auf der Welt als notwendiges Übel anzunehmen oder sich der Ohnmacht hinzugeben. Im Gegenteil: Alle Akteure im politischen Wandel – seien es Journalist*innen, Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen oder Künstler*innen – können mit ihrem kleinen Anteil etwas auslösen, das – ganz bescheiden gesagt – die Welt, wie wir sie kennen, grundlegend verändert. Das ist keine naive Hoffnung, sondern Mut an die Möglichkeit zu glauben, dass eine gerechtere Welt möglich ist und dass wir einen echten Teil dazu beitragen können.

 

Autor*in
Foto von Parwaneh Mirassan

Parwaneh Mirassan (keine Pronomen)

Dieser Text wurde in der dem philosophischen Wirtschaftsmagazin „agora42“ in der Ausgabe 02/2025 zu „Chaos“ veröffentlicht.

TRAG UNS MIT

Im Konzeptwerk setzen wir uns für eine gerechte und ökologische Wirtschaft ein, die ein gutes Leben für alle sichert.

Wir haben Ideen, Mut und brauchen einen langen Atem. Den kannst du uns geben.

Unterstütze das Konzeptwerk mit einer regelmäßigen Spende und trage uns mit.