
Fast jeder Mensch wird eines Tages alt. Und so ziemlich alles in unserem aktuellen Rentenmodell wird durch den demografischen Wandel hin zu einer alternden Bevölkerung in Frage gestellt. Wir haben nicht nur mehr Kontrolle darüber, ob und wann wir Kinder haben wollen, sondern leben dank des medizinischen Fortschritts länger als früher. Dies führt zu einem beispiellosen demographischen Wandel, bei dem eine viel größere ältere Bevölkerung auf die Beiträge einer kleineren Erwerbsbevölkerung angewiesen ist. Dies stellt nicht nur die Finanzierung des deutschen Sozialversicherungssystems in Frage, sondern auch einen großen Teil der Wirtschaft, die von der Erwerbsbevölkerung abhängt. Verschärft wird das Problem dadurch, dass wir, obwohl wir länger leben, nicht unbedingt gesünder leben. Krankheiten wie Demenz nehmen zu und die wachsende soziale Ungleichheit trägt dazu bei, dass Menschen mit geringerem Einkommen einen schlechteren Gesundheitszustand haben.
Technologische Innovationen werden vorrangig als Lösung dieser gesellschaftlichen Herausforderungen diskutiert. Zugleich wäre jetzt die Möglichkeit sich grundlegende Fragen zu stellen und Lösungen zu diskutieren: Wie könnte eine Gesellschaft und Wirtschaft aussehen, die auf Pflege, insbesondere auf Altenpflege, ausgerichtet ist?
Globale Sorgeketten in der Altenpflege
Die Altenpflege in Deutschland ist, wie in den meisten Teilen Westeuropas, größtenteils auf weibliche, migrantische Arbeitskräfte angewiesen. Mitteleuropäische Pflegekräfte pendeln für ihre Jobs zwischen Deutschland und ihrem Heimatland. Die Arbeitsbedingungen sind zum Teil sehr prekär. Staatlich aufgesetzte Programme, wie das „Triple Win“-Programm der GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) rekrutieren Pflegekräfte aus Ländern wie Tunesien und den Philippinen. Dies lindere nicht nur den Mangel an Pflegekräften in Deutschland, sondern trage auch indirekt zur Stärkung der Wirtschaft in den Herkunftsländern bei. Oftmals schicken Pflegekräfte einen Teil ihres Lohns nach Hause. Zusätzlich entlaste das Programm ein angebliches Überangebot von Pflegekräften auf den Arbeitsmärkten der Entsendeländern.
Jedoch ist das „Triple Win“- Programm auf die Ungleichheit zwischen diesen Ländern und Deutschland angewiesen, sonst gäbe es keinen Grund für die Pflegekraft nach Deutschland zu kommen. Es besteht ein Interessenkonflikt zwischen dem Versorgungsbedarf Deutschlands und der Entwicklung dieser Länder. Schon jetzt entscheiden sich immer weniger Pflegekräfte für eine Arbeit in Deutschland, weil sie das Gefühl haben, dort nicht ausreichend entlohnt zu werden, da der Beruf neben der Qualifizierung auch den Erwerb einer Fremdsprache erfordert.
Altenpflege in Deutschland ist damit vergleichbar mit einer Art Lieferkette. In den öffentlichen Debatten geht es vordergründig um den Fachkräftemangel. Weniger diskutiert ist, warum Pflege ein unattraktiver Beruf ist. Bleiben Pflegeberufe unattraktiv, dann verknappt sich das Angebot bei einem steigenden Bedarf immer weiter. Dies hat zur Folge, dass die Kosten steigen und man sich Pflege immer weniger leisten kann, egal wie hoch die Rente ist. Außerdem verschiebt sich noch mehr ins Private, wo auch wieder vor allem FLINTA*s die unbezahlte Sorgearbeit übernehmen.
Nach Bedürfnissen pflegen anstatt nach Profit
Die Planung von Pflegeleistungen bei älteren Menschen ist kompliziert, da sie weniger vorhersehbar ist. Kinder haben oft ähnliche Entwicklungsschritte, aber Menschen altern in völlig unterschiedlichen Zeiträumen. Eine 80-Jährige Person kann total fit sein, eine 60-Jährige braucht bereits schon viel Unterstützung. Diese Unterschiede führen dazu, dass die Altenpflege einen hohen Grad an Personalisierung erfordert.
Nehmen wir nun an, ein*e Patient*in möchte nicht seine*ihre gewohnte Pflegeroutine beibehalten. Soll die pflegende Person die Wünsche ignorieren oder die Routine anpassen? Und wenn die Routine angepasst wird, wie wird sie dann dokumentiert und passt sie in die vordefinierten Kategorien des Abrechnungssystems? Aus Gründen der Preiseffizienz und Transparenz werden Pflegemaßnahmen nach bestimmten Normen festgelegt. Abweichungen von diesen Normen sind schwierig zu berücksichtigen, da der Spielraum der Pfleger*innen für individuelle Entscheidungen eingeschränkt ist. Dies ist insbesondere bei Demenz der Fall, bei der die emotionale Belastung unbeständig und ebenso lähmend sein kann wie die körperlichen Einschränkungen selbst. Darüber hinaus stellt Demenz als Abweichung von neurologischen und intellektuellen Normen eine besondere Herausforderung für technologische Entwicklungen dar, die bei ihrer Gestaltung bestimmte normative Annahmen mit sich bringen.
Angesichts abweichender Bedürfnisse in der Altenpflege kann die Bereitstellung dieser Dienste durch den Capabilities Approach verbessert werden. Im Gegensatz zu einem System, in dem der Zugang zu Pflege auf Beiträgen basiert, erkennt der Capabilities Approach an, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben, um ein Mindestmaß an Wohlbefinden zu erreichen, und weist Ressourcen auf der Grundlage dieser Bedürfnisse zu.
Was kommt nach dem Beitragsmodell?
Zweifellos wirft die Abkehr von einem Beitragsmodell Fragen auf, wie man ein solches System finanzieren kann. Der Capabilities Approach kann kostspielig sein; weil er auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen eingeht und deshalb noch mehr Pflegekräfte braucht. Eine Anhebung der Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen könnten jedoch mehr Pflegekräfte anziehen und zu gezielten finanziellen Verbesserungen für einige der finanziell schwächeren Teile der Bevölkerung führen, nämlich für FLINTAs*-. Diese leisten traditionell einen Großteil der unbezahlten Pflegearbeit, was zu niedrigeren Rentenbeiträgen und somit zu einem geringeren Zugang zu Leistungen im Alter führt.
Es wird derzeit viel Geld für die Altenpflege ausgegeben in Deutschland, und die deutsche Regierung gewährt je nach Pflegestufe Zuschüsse. Investor*innen sehen im Pflegebedarf eine Geschäftsmöglichkeit. Es gibt immer mehr private Altenpflegeheimketten. Altenpflegeheime werden von einigen Immobilien und Private-Equity-Firmen als eines der vielversprechendsten Investitionsobjekte angesehen, da der Markt mit einer alternden Bevölkerung nahezu garantiert ist. Um die Gewinne zu steigern, werden die Arbeitskosten häufig durch die Reduzierung der vertraglich angestellten Pflegekräfte erwirtschaftet, was zu erdrückend schlechten Arbeitsbedingungen führt. Obwohl Tarifverhandlungen die Löhne der Pflegekräfte erhöht haben, kann dies den Druck des Personalmangels nicht mindern. Zudem geben die Unternehmen einen Großteil dieser Erhöhung an die Pflegebedürftigen oder ihre Familienangehörige weiter, um ihre Profite konstant zu halten bzw. zu steigern. Dies schränkt den Zugang zu Pflege nach Einkommen ein und wirkt sich in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs zusätzlich negativ aus.
Im Gegensatz dazu können öffentliche Investitionen in Pflegestrukturen in öffentlicher Hand mehr Pflegekräfte einstellen und vermeiden, dass die Kosten auf den Einzelnen abgewälzt werden. Dadurch wird sichergestellt, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Einkommen Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Pflege haben, und externe Kosten, wie z. B. die emotionale Belastung von Familienmitgliedern, die derzeit nur unzureichend berücksichtigt werden, werden reduziert. Mehr besser bezahlte Arbeitskräfte bedeuten eine resilientere Bevölkerung, die weniger von staatlichen Leistungen wie Bürgergeld abhängig ist und die in der Lage ist, sowohl Geld auszugeben als auch in die lokale Wirtschaft zu investieren. Die Arbeitskräfte sind so auch besser in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern, was nach den Grundsätzen der Präventivmedizin den allgemeinen Pflegebedarf und die Kosten in der Zukunft senken kann. Ohne den Druck, die Einnahmen in Richtung der Gewinne privater Investoren zu lenken, besteht sogar die Möglichkeit, dass solche Strukturen in öffentlichem Besitz auf lange Sicht sich selbsttragende Gemeinschaften schaffen können. Und was noch wichtiger ist: Es wird den Menschen helfen, ein Leben in Wohlstand und Würde zu führen.
Foto: Anna Shvets via Pexels
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Autorin

Vienne Chan (sie)
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