Kohlewiderstand:
Gegen Klimawandel, Kapitalismus und Wachstum!
Autor*innen:
Dorothee Häusermann
Laura Wollny
Wir sind in der Gruppe ausgeCO2hlt aktiv, die sich seit 2011 mit direkten Aktionen im rheinischen Braunkohlerevier gegen den Abbau und die Verbrennung von Kohle und für globale Klimagerechtigkeit einsetzt. AusgeCO2hlt gehört zum kapitalismuskritischen, aktionsorientierten Teil der Anti-Kohle-Bewegung, auf den wir in diesem Text unseren Fokus legen wollen. Ergänzend werden wir kurz auf die Arbeit in lokalen Initiativen und Umweltverbänden eingehen. Der Widerstand gegen Steinkohlekraftwerke kann in diesem Artikel nicht behandelt werden.
1. Von „Kohleausstieg ist Handarbeit“ zu globaler Klimagerechtigkeit und radikalem Systemwandel
In der linken Anti-Kohle-Bewegung, die sich als Teil der globalen Klimagerechtigkeitsbewegung versteht, gibt es zwei zentrale Forderungen, die miteinander verwoben sind. Zum einen ist es der Ruf nach radikalem Systemwandel, der im beliebten Slogan „System Change not Climate Change!“ (Systemwandel statt Klimawandel) zum Ausdruck kommt. Zum anderen ist es die Forderung, diesen Wandel selbst zu gestalten und ihn nicht der Politik zu überlassen, was in dem Ruf „Kohleausstieg ist Handarbeit“ deutlich wird.
Entstehung der Bewegung
In Deutschland entstand der linke Strang der Anti-Kohle-Bewegung in der Auseinandersetzung mit dem Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen 2009. Nach der groß angelegten Mobilisierung nach Kopenhagen im Vorfeld des Gipfels waren viele Aktivist*innen frustriert: nicht nur vom politischen Scheitern der Verhandlungen und der brutalen Polizeigewalt während der Gipfelproteste, sondern auch von der Strategie, auf die Gipfeltreffen als Ort der politischen Entscheidung zu setzen. Diejenigen in Europa, die trotz allem weiter gegen Klimawandel und für Klimagerechtigkeit arbeiten wollten, setzten ihren Fokus nun vermehrt auf die Stärkung von lokalem und direktem physischem Widerstand. Hier bietet der Kampf gegen die Kohle und insbesondere die Braunkohle einen konkreten Ansatzpunkt, der die beiden zentralen Forderungen – Systemwandel und „Handarbeit“ – verknüpft.
Warum Braunkohle?
Braunkohle ist ein extrem klimaschädlicher Energieträger, der bei der Verbrennung mehr CO2 freisetzt als jede andere fossile Ressource. Die Braunkohlekraftwerke Neurath, Niederaußem und Weisweiler im Rheinland sowie Jänschwalde in der Lausitz gehören zu den fünf größten CO2-Emittenten in der EU (vgl. Jones 2015). Sie tragen also erheblich zur globalen Erwärmung bei, deren Konsequenzen – Dürren, Unwetter, Ernteverluste – bislang vor allem in Regionen des globalen Südens zu spüren sind.
Braunkohle wird in Tagebauen gefördert. Die drei Abbaugebiete in Deutschland sind das rheinische Revier bei Köln, das sogenannte mitteldeutsche Revier bei Leipzig und das Lausitzer Revier an der Grenze zu Polen. Der Tagebaubetrieb hat verheerende Folgen für lokale Ökosysteme und Kulturlandschaften. Wälder und Ackerland werden zerstört, ganze Dorfgemeinschaften werden umgesiedelt. Die Vegetation in den umliegenden Gebieten leidet unter dem absinkenden Grundwasserspiegel, denn Wasser wird in großem Stil abgepumpt, damit die mehrere hundert Meter tiefen Tagebaue trocken bleiben.
Die Anti-Kohle-Bewegung will den Abbau sowie die Verstromung von Braunkohle vor Ort stoppen; damit leistet sie einen Beitrag zur Erhaltung der Natur und Lebensqualität in den Revieren, aber auch zur globalen Klimagerechtigkeit. Braunkohle-Infrastruktur liefert als konkretes Feindbild und fotogene Kulisse spannende Interventionsmöglichkeiten für direkte Aktionen. Die strategische Reduktion auf einen konkreten und praktischen Ansatzpunkt zieht aktionserfahrene Menschen an, wobei an die Widerstandstradition der Anti-Atom-Bewegung angeknüpft werden kann. So wurden die Braunkohlereviere zum Aktionsfeld kapitalismuskritischer, aktionsorientierter Klimaaktivist*innen, die sich vor allem auf Klimacamps und bei der Waldbesetzung im Hambacher Forst zusammenfinden.
Warum Handarbeit?
CO2 ist nicht Ursache, sondern Symptom eines Problems. Treibende Kraft hinter dem exzessiven Ressourcenverbrauch ist ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, das auf Gewinnmaximierung und der stetig wachsenden Ausbeutung von Mensch und Natur basiert. Darum können die Instrumente der UN-Klimaverhandlungen die globale Erwärmung nicht aufhalten, da sie innerhalb derselben Marktlogik und innerhalb derselben Machtverhältnisse operieren, die die sozialen und ökologischen Krisen hervorgebracht haben. Berüchtigtes Beispiel für eine marktbasierte Klimaschutzmaßnahme ist der „Clean Development Mechanism“ (CDM). Damit können Unternehmen in Industrieländern ihre Emissionen ausgleichen, indem sie Emissionsrechte von „grünen“ Projekten im globalen Süden einkaufen, die CO2 einsparen. Das kann ein Wasserkraftwerk sein, eine Monokultur-Plantage mit Energiepflanzen oder auch ein „sauberes“ Kohlekraftwerk. Die „Einsparung“ wird aus dem Vergleich mit dem Normalszenario errechnet, das als CO2-intensiver angenommen wird als eine Zukunft mit dem Offset-Projekt (= Kompensationsprojekt) (vgl. Gilbertson u. a. 2009). Abgesehen davon, dass dies zu keiner absoluten Emissionsreduktion führen kann, handelt es sich bei CDM-Projekten häufig um Mega-Anlagen, die ohne Absprache mit der lokalen Bevölkerung geplant werden und dieser weder Elektrizität noch Arbeitsplätze bringen. Oft führen sie sogar dazu, dass Menschen aus ihren Dörfern vertrieben werden oder unter gesundheitlichen Belastungen leiden. Kritische Stimmen sehen in marktbasierten Klimaschutzmaßnahmen die Fortführung einer neokolonialen Politik unter grünem Vorzeichen.
Große Teile der linken Anti-Kohle-Bewegung setzen keinerlei Hoffnung auf den UN-Prozess. Sie kritisieren den herrschenden Diskurs zur Energiewende, da er sich zu sehr auf technologische Innovationen fokussiert – wie den Ausbau erneuerbarer Energien oder Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz –, doch die Frage vernachlässigt, wie Lebens- und Produktionsweisen ressourcenschonender organisiert werden können. Am Beispiel der Braunkohlereviere wird deutlich, wie eng die Frage der Energieversorgung mit Machtverhältnissen verknüpft ist. Braunkohle wird industriell von großen Firmen abgebaut und zur Stromerzeugung verbrannt. Die Energieriesen RWE und Vattenfall genießen dabei eine Monopolstellung. Teile des öffentlichen Lebens der Kommunen werden durch Steuerabgaben der Konzerne, durch Dividenden oder durch direkte Spenden an Schützenvereine, Sportveranstaltungen etc. finanziert. RWE ist im Rheinland dicht mit der Politik verfilzt. Durch diese Verflechtungen wird der Übergang zu einer alternativen Energieversorgung behindert.
Aufgrund der Kritik an den bestehenden Lösungsansätzen liegt der Schwerpunkt von Anti-Kohle-Gruppen wie ausgeCO2hlt nicht auf Appellen an die parlamentarische Politik, sondern auf dem Aufbau einer sozialen Bewegung, in der sich Menschen dazu befähigen, selbst politische Wirklichkeit zu schaffen. Durch kollektive Selbstorganisation, zum Beispiel auf Klimacamps, können Menschen ihre Vereinzelung und ihr Ohnmachtsgefühl überwinden und gemeinsam am Systemwandel arbeiten. Dies geschieht einerseits durch direkten Widerstand gegen zerstörerische industrielle Abläufe, anderseits durch den Aufbau von alternativen Versorgungsstrukturen. Dazu zählen zum Beispiel dezentrale Energiegenossenschaften, die nicht nur Strom aus erneuerbaren Quellen produzieren, sondern zudem über demokratische Entscheidungsstrukturen verfügen.
Kapitel vom Buch
Degrowth in Bewegung(en)
32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation
Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.)
Die hier versammelten 32 sozialen Bewegungen, alternativ-ökonomischen Strömungen und Initiativen suchen nach Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell. Sie fordern einen Paradigmenwechsel: weg vom Fokus auf Wettbewerb, Gewinnstreben, Ausbeutung und Wachstum – hin zu mehr Kooperation, Solidarität und einer Orientierung an konkreten Bedürfnissen. Es geht darum, die Bedingungen für ein gutes Leben für alle zu schaffen. Aber welche unterschiedlichen Wege für eine sozial-ökologische Transformation gibt es? Welche Hürden sind zu überwinden? Welche Gruppen sind beteiligt, wer macht was und wie ist das Verhältnis zueinander? Welche Bündnisse sind möglich? Diesen Fragen sind Protagonist*innen der Bewegungen in einem zweijährigen Vernetzungs- und Schreibprozess nachgegangen. Die daraus entstandenen Beiträge motivieren zu eigenem Tun und Engagement.
2. Die drei Stränge der Anti-Kohle-Bewegung: Bürgerinitiativen aus betroffenen Dörfern, Umweltverbände und systemkritische Klimacamps
Die Anti-Kohle-Bewegung in Deutschland setzt sich grob aus drei Strängen zusammen: den lokal verwurzelten Initiativen, großen, überregionalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Verbänden sowie systemkritischen aktivistischen Gruppen.
Regionale Bürgerinitiativen
Der älteste Strang sind Bürgerinitiativen und Einzelpersonen, die sich schon seit Jahrzehnten in den drei Braunkohlerevieren gegen die Auswirkungen des Abbaus und der Verstromung von Kohle in ihrer Region wehren. Die Aktiven kommen aus den Revieren und sind von den Auswirkungen der Tagebaue in der einen oder anderen Weise selbst betroffen. Sie setzen sich für den Erhalt der Natur und der Dörfer ein, in denen sie und ihre Familien zum Teil schon seit Generationen leben.
Ein Problem ist, dass in den Dörfern auch viele Menschen leben, die von der Arbeit im Tagebau leben und daher – in eher strukturschwachen Regionen – derzeit davon abhängig sind. Um die angespannte Situation nicht noch zu verschärfen, setzen die Aktiven vor allem auf weniger konfrontative Widerstandstechniken wie Sternmärsche und rechtliche Schritte. Dabei wurden und werden sie oft von großen Umweltverbänden unterstützt.
Umweltverbände und Nichtregierungsorganisationen
Die großen Umweltverbände – wie BUND und Greenpeace – setzen sich schon seit langer Zeit gegen den Abbau und die Verbrennung von Kohle ein. Häufig legen sie dabei ihren Fokus auf die fatalen Auswirkungen auf menschliche Gesundheit und lokale Ökosysteme, da diese als kampagnenfähiger eingeschätzt werden als das Klimathema. Sie unterstützen die Bürger*innen rechtlich gegen Kohleprojekte und erstellen Studien zu deren Auswirkungen. Sie wollen Einfluss auf die Politiker*innen gewinnen, um so den Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen.
Gerade in den Jahren nach dem Scheitern des Klimagipfels 2009 spielte Klimawandel in den Anti-Kohle-Kampagnen der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nur eine untergeordnete Rolle. Ausnahme bildet hier der BUND Nordrhein-Westfalen, der zu allen Aspekten der Kohleverstromung umfangreiche Informationen zusammengestellt hat. Der Verband verursachte 2008 viel Wirbel mit einer Obstwiesenbesetzung im Abbaggerungsgebiet des Garzweiler Tagebaus. Die BUNDjugend NRW organisierte 2010, also mitten in der Flaute, die die Bewegung nach Kopenhagen erfasste hatte, das erste Klimacamp im rheinischen Braunkohlerevier.
Heute haben jüngere, internetaffine NGOs wie campact und 350.org die Braunkohle als politisches Interventionsfeld für Klimapolitik wiederentdeckt. Zusammen mit den großen Umweltverbänden organisierten NGOs 2014 eine Menschenkette im Lausitzer und 2015 eine weitere im rheinischen Revier. Das Thema Wachstums- oder Systemkritik wird von den Umweltverbänden punktuell behandelt, allerdings nicht in Verbindung mit Anti-Kohle-Kampagnen.
Systemkritische aktivistische Gruppen
Der dritte Strang des Anti-Kohle-Widerstandes sind kapitalismuskritische Gruppen und Aktivist*innen. Die meisten kommen nicht direkt aus den Abbaugebieten. Ihre ursprüngliche Motivation, sich gegen Kohle einzusetzen, rührt meist aus einer breiteren politischen Perspektive, zum Beispiel aus dem Konzept der Klimagerechtigkeit. Sie sind eher jung und haben oft studiert oder tun dies gerade. Ihr jährlicher Sammelpunkt sind die Klimacamps; eine beliebte und dauerhafte Anlaufstelle ist der von Aktivist*innen besetzte Hambacher Forst.
Die Idee des Klimacamps kommt aus Großbritannien, wo es seit 2006 anti-kapitalistische Massenmobilisierung gegen Kohlekraft gibt. Das erste Klimacamp in Deutschland fand 2008 in Hamburg-Moorburg statt und richtete sich gegen den Neubau eines Steinkohlekraftwerkes. Seit 2010 beziehungsweise 2011 finden im Rheinland und in der Lausitz jeden Sommer Klimacamps statt. Dabei geht es darum, Orte zu schaffen, an denen Menschen sich vernetzen und Alternativen leben, selbstorganisierte Bildung stattfindet und von denen Aktionen ausgehen können. Im Umfeld der Klimacamps im Rheinland kam es seit 2011 zu mehreren Blockaden der Hambach-Kohle-Bahn und von Braunkohlebaggern. Diese Blockaden haben einerseits zum Ziel, Menschen zu empowern, einen zerstörerischen Ablauf ganz direkt zu verhindern. Andererseits sollen die Aktionen politischen Druck aufbauen und als Zeichen für die Dringlichkeit der Klimakrise in eine breitere Öffentlichkeit hineinwirken.
2011 startete im Rheinland die Wiesen- und Waldbesetzung Hambacher Forst: Aktivist*innen aus ganz Europa setzen sich seitdem durch die Besetzung von Bäumen und durch Sabotageaktionen für den Erhalt des Hambacher Forstes ein, der aufgrund des Tagebaues stückweise erst abgeholzt und dann abgebaggert wird. Durch ihre Anwesenheit und ihre Aktionen gelang es, auch Anwohner*innen aus den umliegenden Dörfern wieder zu politisieren, auch wenn die direkten Aktionen der Besetzer*innen immer wieder für Konfliktstoff sorgen.
Im Bündnis gegen Braunkohle sind linke Klima-Aktivist*innen und Menschen aus Bürgerinitiativen im Rheinland vernetzt. Zusammen organisieren sie Aktionen, Bildungsveranstaltungen und betreiben kritische Öffentlichkeitsarbeit. Dazu gehören Interventionen bei den Jahreshauptversammlungen von RWE ebenso wie Waldspaziergänge durch den Hambacher Forst oder die Gestaltung einer Etappe des Staffellaufs Run for your life, der 2015 von Nordschweden zu den UN-Verhandlungen nach Paris führte.
Ende Gelände
Im August 2015 gelang es einem Bündnis aus linken Gruppen und NGOs, im Rheinland ein großes Klimacamp und eine Aktion zivilen Ungehorsams zu organisieren, an der rund 1 500 Menschen teilnahmen und die den Betrieb im Tagebau Garzweiler für einen Tag lahmlegte. Die Aktion Ende Gelände fand breiten Widerhall auch in bundesweiten und internationalen Medien. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren wurde die Baggerblockade öffentlich, mit Ort und Zeit, angekündigt und fand im Rahmen eines Aktionskonsenses statt, der im Bündnis entwickelt worden war. Damit knüpfte Ende Gelände an eine Tradition des zivilen Ungehorsams an, wie er unter anderem im Anti-Atom-Widerstand im Wendland praktiziert wurde. Umweltverbände und NGOs, die zu den Blockaden im rheinischen Revier bis dato Abstand gehalten hatten, unterzeichneten eine Solidaritätserklärung und organisierten am Tag der Aktion zusammen mit örtlichen Bürgerinitiativen eine unterstützende Demonstration, um ein legales Aktionsangebot zu schaffen.
In der Woche vor der Ende-Gelände-Aktion fand auf dem Klimacamp die Sommerschule Degrowth konkret: Klimagerechtigkeit statt, die, hervorgegangen aus der Degrowth-Konferenz in Leipzig im Vorjahr, nun eine ganz neue Zielgruppe ins Rheinland brachte.
Im Mai 2016 fand eine weitere Ende-Gelände-Aktion in der Lausitz statt, bei der fast 4000 Menschen zwei Tage lang ein Kraftwerk blockierten. Die Besetzung war Teil der globalen Aktionswelle Break Free from Fossil Fuels und fand großen Widerhall in der bundesweiten und internationalen Öffentlichkeit. Auch im Rheinland wird der Widerstand mit einem weiteren Klimacamp inklusive Degrowth-Sommerschule und Aktionstagen fortgeführt.
3. Degrowth und die Anti-Kohle-Bewegung: eine ganz besondere Liebesgeschichte von Theorie und Praxis
Degrowth-Sommerschule auf dem Klimacamp im Rheinland
Das Verhältnis zwischen Degrowth und Anti-Kohle-Bewegung wird in den sozialen Medien der Bewegungen auch als „Liebesgeschichte“ beschrieben (Müller 2014). Los ging es schon 2014, als Aktivist*innen des rheinischen Braunkohle-Reviers ihre Initiative im Rahmen des Projektes Stream towards Degrowth im Vorfeld der Degrowth-Konferenz in Leipzig vorstellten. Es blieb nicht beim rein theoretischen Austausch. Am Abschlusstag der Konferenz strömten nach einer Demonstration im Zentrum Leipzigs knapp hundert Menschen zum nahegelegenen Kohlekraftwerk Lippendorf und nahmen dort an einem Aktionstraining teil. Dieses war unter dem Motto „Heute üben wir, morgen machen wir ernst“ unter anderem von ausgeCo2hlt organisiert worden. Im nächsten Jahr fand die Sommerschule Degrowth konkret: Klimagerechtigkeit auf dem Klimacamp im rheinischen Braunkohlerevier statt. Hier trafen zwei Bewegungen aufeinander, die sich wunderbar ergänzen.
Die große Degrowth-Konferenz in Leipzig 2014 war ein Startschuss für eine Postwachstumsbewegung, die aufregend vielfältig und dynamisch wirkte, aber irgendwie auch diffus und ziellos, mit einem Hang zu alternativen Nischenprojekten und langen Artikeln. Die Degrowth-Sommerschule 2015 an den Ort einer konkreten politischen Auseinandersetzung, ins rheinische Braunkohlerevier, zu bringen, gab der Bewegung einen klaren Fokus und war eine Einladung, auf aktionsorientierte Methoden des gesellschaftlichen Wandels zu setzen. Ein großer Teil der rund 500 Teilnehmer*innen der Sommerschule entschied sich kurzfristig dazu, bei der Aktion Ende Gelände mitzumachen – für viele war es das erste Mal, dass sie an einer Aktion zivilen Ungehorsams teilnahmen.
Die Anti-Kohle-Bewegung wiederum wird durch die inhaltliche Expertise der Degrowth-Bewegung bereichert. Die Forderung nach sofortigem Kohleausstieg und Systemwandel wirft viele Fragen auf, die wir gemeinsam bearbeiten können. Wie sieht ein sozial-ökologischer Umbau aus, der die Ängste der Arbeitnehmer*innen ernst nimmt? Welche alternativen Konzepte für Arbeit gibt es? Funktioniert das bedingungslose Grundeinkommen? Und natürlich: Wie ist ein Wirtschaften ohne Wachstum und CO2-Ausstoß möglich?
Über die Kohle hinausdenken
Wie eingangs beschrieben, versteht sich der aktivistische Teil der Anti-Kohle-Bewegung seit seinen Anfängen als systemkritisch und ist nicht erst durch die Degrowth-Bewegung auf die Idee gekommen, an unserer Wirtschaftsweise zu zweifeln. Doch Klimagerechtigkeit zu verwirklichen, ist nicht die Sache eines einzelnen Kampfes oder einer einzelnen Forderung. Denn die strategische Fokussierung auf Kohle, die einerseits Erfolg versprechend ist, birgt andererseits auch Gefahren. Beim sozial-ökologischen Umbau unserer Gesellschaft muss die ganze Bandbreite der sozialen Bewegungen zusammenwirken. Doch es ist fraglich, ob Kohlereviere zu einem bewegungsübergreifendem Kristallisationspunkt taugen. Teilweise ist es gelungen, Gruppen mit an Bord zu holen, die für eine andere Landwirtschaft kämpfen – da durch Tagebaue auch fruchtbares Ackerland zerstört wird. Was die Frage der Diversität angeht, ist allerdings festzuhalten: Die Besucher*innen des Klimacamps sind weiß. Und für Flüchtlinge hat es verständlicherweise nicht oberste Priorität, sich vor ein deutsches Kohlekraftwerk zu setzen.
Ein weiteres Problem der strategischen Reduktion ist, dass die Forderung des sofortigen Kohleausstiegs nicht unbedingt Wachstumskritik beinhaltet. Diskussionen um grünes Wachstum und grünen Kapitalismus zeigen, dass das Ziel Kohleausstieg zunächst durchaus kompatibel ist mit der „Mainstream-Energiewende“, die propagiert, dass alle Probleme gelöst sind, sobald das Land mit Solarzellen und Windrädern gepflastert ist. Eine systemkritische Klimabewegung kämpft jedoch nicht nur gegen fossile Energie und die großen Stromkonzerne, sondern auch gegen die Scheinlösungen des grünen Wachstums, die nichts daran ändern, dass Unternehmen mehr und mehr produzieren müssen, um auf dem Markt überleben zu können. Sie kritisiert nicht nur, wo unsere Energie herkommt, sondern auch, wofür sie verwendet wird. Energiedemokratie wird nicht nur als kollektiver Entscheidungsprozess zu erneuerbaren Quellen verstanden, sondern auch als Forderung nach einer Plattform, auf der ausgehandelt werden kann, ob mit begrenzten Ressourcen Panzer hergestellt werden oder Krankenwagen.
Die Botschaften der Anti-Kohle-Bewegung – „Leave it in the ground“ und „selbst anpacken“ – sind stark. Doch sie bleiben unvollständig ohne die Ergänzung durch andere Themen und Ziele. Denkbar wäre in Zukunft eine stärkere Zusammenarbeit mit dem Widerstand gegen unnütze Großprojekte oder mit Gruppen im globalen Süden, die gegen den Abbau von mineralischen Rohstoffen aktiv sind. So könnten direkte Aktionen stärker die Verbrauchs- und Produktionsebene problematisieren.
4. Unsere Forderung an die Degrowth-Bewegung: Raus aus den Hörsälen und klare Kante gegen Kapitalismus und Unterdrückung
Die K-Frage
Wie oben beschrieben, gibt es viele Punkte, bei denen die Anti-Kohle-Bewegung von der Degrowth-Perspektive lernen kann. Doch in Teilen der Anti-Kohle-Bewegung wird die Degrowth-Bewegung skeptisch gesehen. Sie wird als eine Art „Kapitalismuskritik light“ betrachtet, die das Veränderungspotential von Individuen und Lifestyle-Trends überschätzt und ignoriert, wie sehr unsere Spielräume von äußeren Machtstrukturen dominiert und eingeschränkt werden. Der Degrowth-Ansatz reduziere die Problempalette auf den Aspekt des Wirtschaftswachstums, während Themen wie Herrschaft, Privateigentum, Verteilungsfragen und Geschlechterverhältnisse vernachlässigt werden. Solange die Degrowth-Bewegung Kapitalismus nicht als Problem benennt, ist sie vereinnahmbar für konservative oder unpolitische Strömungen. Andererseits muss anerkannt werden, dass die Degrowth-Bewegung gerade aufgrund ihrer unverbrauchten Sprache, die nicht nach staubigen Marxbänden müffelt, neue Zielgruppen erschlossen hat – Menschen hören neu hin und stecken das Gesagte nicht so schnell in eine Schublade.
Die Handlungsfrage
Manchmal beschleicht uns das Gefühl, dass es mehr Menschen gibt, die die Degrowth-Bewegung erforschen, als Menschen, die sie mit Aktionen vorantreiben. Deswegen würden wir unseren Degrowth-Freund*innen gerne mitgeben: Hört auf, Daten zu produzieren. Macht Bewegung. Klettert weiter mit uns auf die Braunkohle-Bagger. Blockiert Landebahnen und Autobahnerweiterungen, umzingelt nutzlose Mega-Infrastruktur! Es gilt, Orte auszumachen, die für exzessiven Ressourcenverbrauch stehen und an denen Widerstand gegen das abstrakte Wirtschaftssystem konkret und physisch werden kann. Das könnte eine wichtige Aufgabe für die Degrowth-Bewegung in den nächsten Jahren sein – und damit könnte sie die Anti-Kohle-Bewegung sinnvoll ergänzen.
5. Der Sprung in die neue Gesellschaft – mit einer Bewegung aller Bewegungen
„Die Zeit der kleinen Schritte ist vorbei“, heißt es in dem kanadischen Leap Manifesto (Klein u. a. 2015), das unter anderem von Naomi Klein initiiert wurde, und das die Grundzüge einer Gesellschaft umreißt, die auf Achtsamkeit gegenüber Menschen und der Natur basiert. Um die aktuellen ökologischen und sozialen Krisen zu überwinden, müssen wir stattdessen einen großen Sprung tun. Wir brauchen einen tiefgreifenden systemischen Wandel, und den kann die Anti-Kohle-Bewegung natürlich nicht alleine herbeiführen. Aufgabe der nächsten Jahre wird es sein, Schnittpunkte zu anderen politischen Kämpfen – zum Beispiel für Frieden, Bewegungsfreiheit, Ernährungssouveränität – sowie die globale Vernetzung zu suchen, um eine „Bewegung aller Bewegungen“ zu bilden. Nur so kann aus der Klimabewegung tatsächlich eine diverse, internationale Klimagerechtigkeitsbewegung werden – oder wie auch immer sie sich nennen mag.
Denkbar wäre beispielsweise eine Aktionswoche neuer Dimension: Während in Polen tausende Menschen ein Dorf umzingeln, um es vor der Abbaggerung durch die Braunkohlebagger zu schützen, strömen in London Heathrow so viele Menschen auf die Landebahnen, dass der Flugverkehr zum Erliegen kommt. Zeitgleich setzen Sabotage-Aktionen von Anti-Freihandels-Aktivist*innen die Grenzanlagen zwischen Mexiko und den USA außer Betrieb. Und Menschen, die ihre zerstörten Herkunftsländer verlassen mussten, schließen sich mit Aktivist*innen der Friedensbewegungen zusammen, um europäische Waffenexporte zu blockieren. Parallel zu den global koordinierten Aktionen wächst die Zahl der selbstorganisierten Netzwerke, die alternative Versorgungsstrukturen aufbauen und nach dem Prinzip der solidarischen Ökonomie wirtschaften. Nachbarschaften und Hausprojekte bilden Einkommensgemeinschaften und organisieren im Kleinen Umverteilung und Altersvorsorge. Das ermöglicht den Menschen, weniger zu arbeiten und mehr Zeit mit Sorgetätigkeiten zu verbringen oder mit Dingen, die sie erfüllen. Sie basteln aus Recyclingschrott Computer, die zwanzig Jahre lang halten, lernen endlich Dudelsack spielen und stärken soziale Netze, die Menschen integrieren können: egal, ob sie neu in Europa angekommen sind oder schon lange dort sind.