Artivism:
Degrowth mit Fantasie beleben
Autor*innen:
John Jordan
übersetzt von Christiane Kliemann
Die Polizei nennt ihn einen „einheimischen Extremisten“, die Presse „Magier der Rebellion“. Schon seit 25 Jahren arbeitet John Jordan dafür, Kunst und Aktivismus miteinander zu verschmelzen. In verschiedensten Kontexten und Feldern aktiv – von der Tate Modern über besetzte Gemeinschaftszentren und internationale Theater-Festivals bis hin zu Klimacamps –, hat er die Initiativen Reclaim the Streets und Clown Army mitgegründet, war Mitherausgeber von „We Are Everywhere: The Irresistible Rise of Global Anti-Capitalism“ (Notes from Nowhere 2004) und am Schreiben des Films/Buches „Les Sentiers de l’Utopie“ (Fremeaux/Jordan 2012) beteiligt. Momentan organisiert er zusammen mit Isabelle Fremeaux das Laboratory of Insurrectionary Imagination (Labofii).
1. Artivism: die Verschmelzung der grenzenlosen Vorstellungskraft der Kunst mit radikalem politischen Engagement
Artivism ist keine Bewegung im eigentlichen Sinne. Es ist eher eine Haltung, eine Praxis in den fruchtbaren Grenzbereichen zwischen Kunst und Aktivismus. Artivism entsteht, wenn Kreativität und Widerstand ineinander fallen. Es ist das, was passiert, wenn unsere politischen Aktionen genauso schön werden wie Gedichte und genauso effektiv wie ein perfekt gestaltetes Werkzeug. Artivism ist die Clown Army (Clownsarmee), die die Einsatzschilder der Polizei küsst, um diese zurückzudrängen; es sind die Yes Men, die heimlich die Weltmedien infiltrieren, indem sie vorgeben, Konzernsprecher zu sein; es sind die Schwärme von Flamencotänzer_innen, die in Spanien Banken stilllegen, die Austerität vorantreiben; und es ist das Brandalism-Kollektiv, das Hunderte von Anzeigentafeln in Bushäuschen hackt und Werbung durch radikale Botschaften ersetzt. Dabei geht es keineswegs darum, politische Kunst zu machen oder Kunst über ein Thema, wie zum Beispiel eine Performance über die Krise von Geflüchteten oder ein Video über einen Aufstand. Es geht nicht darum, neue Sichtweisen auf die Welt zu zeigen, sondern darum, sie zu verändern.
Um jegliche Repräsentation zu verweigern, wählt Artivism die direkte Aktion. Die Befürworter_innen direkter Aktionen gehen davon aus, dass man Dinge am besten ändern kann, indem man selbst eingreift, anstatt andere dazu aufzufordern. Dies ist das genaue Gegenteil von Lobbyarbeit und Protestmärschen. Bei direkten Aktionen geht es darum, die Welt gemeinsam im Hier und Jetzt zu verändern. Indem wir direkten Aktionen den Geist der Kunst einhauchen, können wir unwiderstehliche Formen des Widerstands schaffen. Beim Anblick eines Bulldozers, der einen Wald niedermäht, damit ein neuer Flughafen entsteht, schreibst du kein Lied darüber, sondern blockierst den Weg, mit deinem Körper (vielleicht singenderweise!). Das Allerschönste dabei – also das ästhetische Ziel – ist es, zu gewinnen, in diesem Fall also das Überleben des lebendigen Waldes und seines Ökosystems in all seiner Fülle zu sichern. So verbindet Artivism das Schöne mit dem Nützlichen.
Artivism als Disziplinlosigkeit
Manche sprechen von kreativem Widerstand, andere von Kunst-Aktivismus – wieder andere nehmen den Begriff des deutschen Künstlers und Mitbegründers der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Joseph Beuys, auf und nennen es „soziale Skulptur“. Die Autor_innen des Buches „Artivisme: Art, Action Politique et Résistance Culturelle“ (Lemoine/Ouardi 2010) formulieren es so: Artivism ist Disziplinlosigkeit, da es im Kern um Verweigerung geht. Und in der Tat entzieht sich Artivism der Vereinnahmung durch die zweifelhafte Kategorie „Kunst“. Dasselbe gilt für die Aufspaltung der Identitäten „Künstler_in“ und „Aktivist_in“ – Etiketten, mit denen so getan wird, als hätten Künstler_innen das Monopol auf Kreativität und Aktivist_innen das auf sozialen Wandel, ganz so, als seien andere Leute wiederum nicht kreativ beziehungsweise nicht an der Veränderung der Welt beteiligt.
Artivism verwendet soziale Bewegungen als Gestaltungsmaterial. Deren Aktionsformen und Alternativen können unsere kollektive Vorstellungswelt verändern und neu erfinden. Genauso wie Künstler_innen mit Holz oder Farbe arbeiten, kann Artivism zum Beispiel mit Plänen für eine direkte Aktion zur Stilllegung eines Kohletagebaus arbeiten und Ideen dazu entwickeln, wie man sie kraftvoller und theatralischer machen kann. Artivism kann auch bedeuten, ein Klimacamp so zu gestalten, dass es als Ort, der Menschen willkommen heißt, offener und konvivialer (1) wird. Es könnte beinhalten, Formen horizontaler Versammlungen zu erfinden oder ein gemeinsames Ritual, bevor eine Bezugsgruppe hinausgeht, um einen Militärstützpunkt zu sabotieren. Wenn sich, wie Gerald Raunig schreibt, „Kunstmaschinen und Revolutionsmaschinen überschneiden“ (Raunig 2007), erleben wir Momente von Artivism.
Kapitel vom Buch
Degrowth in Bewegung(en)
32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation
Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.)
Die hier versammelten 32 sozialen Bewegungen, alternativ-ökonomischen Strömungen und Initiativen suchen nach Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell. Sie fordern einen Paradigmenwechsel: weg vom Fokus auf Wettbewerb, Gewinnstreben, Ausbeutung und Wachstum – hin zu mehr Kooperation, Solidarität und einer Orientierung an konkreten Bedürfnissen. Es geht darum, die Bedingungen für ein gutes Leben für alle zu schaffen. Aber welche unterschiedlichen Wege für eine sozial-ökologische Transformation gibt es? Welche Hürden sind zu überwinden? Welche Gruppen sind beteiligt, wer macht was und wie ist das Verhältnis zueinander? Welche Bündnisse sind möglich? Diesen Fragen sind Protagonist*innen der Bewegungen in einem zweijährigen Vernetzungs- und Schreibprozess nachgegangen. Die daraus entstandenen Beiträge motivieren zu eigenem Tun und Engagement.
2. Eine reiche, vielfältige und bunte Bewegung, die auf völlig unerwartete Weise Imperien stürzen kann
Die Strategien, die Artivist_innen nutzen, hängen von dem politischen Kontext ihrer Arbeit ab und sind zu zahlreich, um hier genannt zu werden. Ein wunderbares Handbuch plus Webseite zu angewandten Taktiken, Theorien und Prinzipien ist „Beautiful Trouble“ (Boyd 2010). Das Buch empfiehlt zum Beispiel als Hauptstrategie für Menschen, die unter repressiven Regimes oder Notstandsgesetzen leben, unter denen abweichende Meinungen verboten sind, Proteste so zu gestalten, dass sie nicht wie Proteste aussehen. In Zeiten des Kriegsrechts im Polen der späten 1980er Jahre, führte die Orange Alternative dies auf herrliche Weise vor: Obwohl Proteste verboten waren, rief sie zu einem „Gnomentreffen“ auf, um „Gnomenrechte“ einzufordern. Als die Soldaten des Regimes Tausenden jungen Leuten mit orangefarbenen Gnomenhüten gegenüberstanden, wussten sie sich nicht so recht zu helfen, und auch die Generäle sahen davon ab, Panzer zu rufen. Zum ersten Mal seit der Erklärung des Kriegsrechts hatte eine Menschenmasse den öffentlichen Raum zurückerobert, die Beteiligten hatten dabei eine gute Zeit und schafften es, Selbstvertrauen zu verbreiten. Innerhalb weniger Jahre war ganz Osteuropa auf der Straße. Einige Historiker_innen behaupten sogar, die Bewegungen, die letztendlich die Sowjetmacht stürzten, hätten mit Künstler_innen, Guerilla-Theater und Musiker_innen und mit den von ihnen gestalteten Räumen des Dissenses ihren Anfang genommen. Auch Humor ist häufig ein zentrales Element von Artivism-Taktiken (vgl. Horáková/Vuletic 2003).
Eine andere verbreitete Taktik ist das Umkonstruieren von Dingen. Ausgangspunkt ist die Hacker-Frage: „Was kann dieses Ding tun?“ Das bedeutet, ein alltägliches Objekt zu „hacken“ und es in eine Maschine des Widerstands zu verwandeln. In diesem Sinne ist alles umkonstruierbar, auch Gesetze: Studierende der Universität Texas kämpften gegen das neue Campusgesetz, das das offene Tragen von Schusswaffen erlaubte, indem sie sich Dildos umbanden! Die Organisator_innen der Kampagne Cocks not Glocks (Dildos statt Waffen) erklärten, dass Dildos – obwohl sie im Gegensatz zu Waffen nicht offen auf dem Campus getragen werden dürften, „uns genauso effektiv vor soziopathischen Schießwütigen schützen könnten, dabei aber viel sicherer seien beim entspannenden Spielen“. Dies ist ein gutes Beispiel für das Prinzip „Manövriere Deine Gegner in eine Dilemma-Position“: sie also in eine Situation zu bringen, in der sie zwar gezwungen sind, auf die Aktion zu reagieren, dabei aber in jedem Falle verlieren – weil sie entweder lächerlich oder gewalttätig erscheinen.
Die Akteur_innen des Artivism sind ebenso vielfältig wie ihre Taktiken: Einige studierten Kunst und andere Theater; wieder anderen ist es schlicht gelungen, sich in der Schule nicht ihrer Kreativität berauben zu lassen, und wenden sie in politischen Aktionen an. Die besten Artivism-Strategien sind vielleicht Innovation und Konfusion. Durch das Wiederholen der immergleichen Taktiken – dem Marsch von A nach B, der Mahnwache, dem Internet-Mem, dem Protestcamp und dem Aufstand – verlieren diese schnell an Einfluss. Dagegen sind Aktionen oft erfolgreich, wenn neue Formen erfunden werden, die die Autoritäten überraschen. Bewegungen müssen ständig ihre Taktiken erneuern, und zwar schneller als die Behörden zu reagieren in der Lage sind.
Unter den Myriaden von angewandten Taktiken finden sich auch Möglichkeiten, Protestierende vor Polizeigewalt zu schützen. Im letzten Jahrzehnt ließ sich eine große Vielfalt an kreativen Schutzschilden ausmachen: beispielsweise solche aus großen Bucheinbänden (das Bild eines Polizisten, der auf Orwells Buch „1984“ einschlägt, ist unvergesslich) oder die Klimacamp-Schilde mit wunderschönen Fotoportraits von Menschen, die vom Klimakollaps bedroht werden. Mit Letztgenannten wurden Polizeiblockaden durchbrochen, um den Bau einer neuen Startbahn zu verhindern.
Viele beliebte Taktiken wurden ursprünglich von Artivist_innen erfunden, so zum Beispiel das Blockieren der Software gegnerischer Webseiten durch unzählige Aufrufe (Dos-Attacken), inzwischen auf berühmt-berüchtigte Weise genutzt von Anonymous.
Kreativität und das Erschaffen neuer Formen brauchen Zeit und Aufmerksamkeit, was angesichts der Dringlichkeit und des Tempos von Aktivismus nicht einfach ist. Allerdings trägt der Geist der Kunst dadurch einen anderen Rhythmus in den Aktivismus hinein, der besser zu den Zielen von Degrowth passt: ein entschleunigter, langsamerer und besser durchdachter Ansatz, der deshalb aber nicht weniger leidenschaftlich ist.
3. Den Raum für Träume öffnen: gemeinsam kreativ Denken und den spielerischen Geist in der Degrowth-Bewegung nähren
Im Moment fühlt es sich an, als hätten Artivist_innen weniger Bande zu Degrowth geknüpft als zu anderen Bewegungen wie etwa zur Geflüchteten-, Klima-, Anti-Austeritäts- und globalisierungskritischen Bewegung. Warum dies so ist, ist schwierig zu ergründen.
Das Weltklima wie auch das Konzept des Anthropozän sind zurzeit wichtige Themen in der Kunstwelt. Allerdings wird ein Großteil der in diesem Zusammenhang realisierten Projekte in Zusammenarbeit mit einer Wirtschaftselite veranstaltet, die Kultur als billiges Forschungs- und Entwicklungsinstrument und effektive PR-Kampagne für grünen Kapitalismus nutzt. Ein Beispiel dafür sind Volkswagen-Beauftragte, die im Projekt Über LebensKunst im Berliner Haus der Kulturen der Welt (2010–2012) mit Künstler_innen und Ökolog_innen zusammenarbeiteten, um die Zukunft des Verkehrs zu beleuchten. Auf der letzten UN-Klimakonferenz (COP21 in Paris 2015) betrieben viele Künstler_innen „artwashing“, indem sie für eine Greenwashing-Veranstaltung der Wirtschaft arbeiteten (Solutions cop21): Hier kamen, auf einer Messe, einige der größten Verschmutzer der Welt – fossile Energiekonzerne, Autohersteller, Agroindustrie-Giganten sowie Flughafen- und Straßenbauer – zusammen, um zu demonstrieren, dass sie Lösungen für die Krise besäßen. Business-as-usual-Veranstaltungen wie diese lieben es, Kunst als Maske zu benutzen, hinter der große Firmen ihre Verbrechen verstecken und sich ein Flair von moderner Kultiviertheit verleihen können. Mit „artwashing“ bereinigen sie ihre Logos und lassen uns vergessen, dass sie lebendige Gemeinschaften von Menschen und Ökosystemen für Profit zerstören. Eine wichtige Artivism-Strategie ist es hier, Künstler_innen und Institutionen zu kritisieren, die sich in diesem Sinne instrumentalisieren lassen. Dabei wird zurückgegriffen auf das, was Michel Foucault „parrhesia“ genannt hat: nämlich das Handeln von Menschen, die das Risiko auf sich nehmen, „alles zu sagen“, die „gefährliche“ Wahrheit auszusprechen, die der Mehrheitsmeinung entgegensteht. Das Liberate-Tate-Kollektiv tat dies in Form von atemberaubenden Interventionen im Kunstmuseum, die gegen die Finanzierung durch BP gerichtet waren (erfolgreich, da BP im März 2016 bekanntgab, ab 2017 die Tate Gallery nicht mehr zu finanzieren).
Wären mehr Künstler_innen in Bewegungen wie Degrowth engagiert – einer Bewegung, die versucht, Ideen und die persönliche Lebensweise miteinander in Einklang zu bringen –, wären weniger Künstler_innen damit beschäftigt, mit der einen Hand die Selbstmordmaschine Kapitalismus zu füttern und mit der anderen Hand Progressivität zu beanspruchen. Vielleicht wären dann auch mehr Künstler_innen motiviert, ihre Kreativität in soziale Bewegungen einzubringen.
Partizipative Pädagogik
Die Tatsache, dass die Degrowth-Konferenz 2014 neben den wissenschaftlichen und sozialen Strängen auch einen Kunst-Strang beinhaltete, ist ermutigend. Es bedarf mehr solcher Initiativen, sodass „akademische“ Versteinerungen aufgebrochen werden, um kreativere Formen des Wissensaustausches und einen ganzheitlicheren Ansatz zu ermöglichen. Die Lehrmethoden von Artivist_innen sind üblicherweise horizontaler als andere. Sie basieren auf beliebten partizipatorischen Bildungsansätzen, die eher versuchen, das gemeinsame geteilte Wissen weiterzuentwickeln als (mit Power-Point und Konferenzen) Wissen von oben nach unten, von den Lehrenden zu den Lernenden, weiterzugeben. Für gewöhnlich gehen Artivist_innen dabei über das reine Sprechen und Zuhören hinaus und arbeiten mit dem Körper, mit Spiel und Materialien und beziehen Kopf, Herz und Hand gleichermaßen mit ein. Dies sollte eine pädagogische Schlüsselstrategie sein – vielleicht eine Rückkehr zu den pädagogischen Ideen des Polytechnischen, wo die Beschäftigung mit Philosophie und der Bau eines Stuhls auf gleicher Ebene angesiedelt waren.
Als ein gutes Instrument, starke Bezugsgruppen zu entwickeln und Menschen erstmalig in Kontakt zu sozialen Bewegungen zu bringen, erweist sich das gemeinsame Herstellen von Dingen. Neuen Aktivist_innen kann zum Beispiel der Besuch eines Workshops, in dem man lernt, für eine Aktion aufblasbare silberne Pflastersteine herzustellen (wie bei Tools For Action), viel weniger Angst einjagen als die Teilnahme an einer großen Plenumsdiskussion zu einer Kampagne gegen eine neue Fracking-Lizenz.
Um die Degrowth-Bewegung mit dem Geist von Artivism zusammenzubringen, wäre es wichtig, Workshops oder Labore für transdisziplinäre Lösungen zu bestimmten Themen einzurichten, an denen Künstler_innen beteiligt sind – und zwar nicht als „ästhetische Kommunikator_innen“ von Ideen, sondern als kreative Teilnehmer_innen, die zusammen mit anderen Disziplinen an Lösungen arbeiten. Dabei ist es entscheidend, Räume zu schaffen, die ein solches kreatives Denken und Spiel als wesentlichen Teil eines Bewegungsprozesses nähren. Es scheint, als hätte Degrowth trotz des manchmal über-akademischen Tons die Kapazität und Sensibilität, um diesen Geist zu verkörpern, da es der Bewegung im Kern um einen Kulturwandel weg von quantitativen hin zu qualitativen Seinsformen geht. Es heißt, Degrowth sei ein Beispiel aktivistischer Wissenschaft. Vielleicht werden wir es eines Tages auch als aktivistische Kunst bezeichnen können.
4. Degrowth unwiderstehlich machen: die Rolle von Sehnsucht und Fantasie beim Erschaffen einer neuen Kultur
Ich schreibe als jemand, der in einer holzbeheizten Hütte in einer kleinen Kommune auf einem Biohof in Frankreich lebt, wo Degrowth im Zentrum unserer gemeinsamen Werte steht. Für uns ist Degrowth verbunden mit dem guten Leben, getreu dem französischen Sprichwort „Moins de biens, plus de liens“ – weniger Dinge, mehr Beziehungen. Im vorherrschenden Mainstream wird Degrowth jedoch oft missverstanden als Aufruf zu Selbstkontrolle („Hört auf mit Shoppen, Autofahren, Fliegen etc.!“) und Entbehrung („Hört auf, neue Dinge zu kaufen oder zu wollen!“) oder zur Rückkehr in eine Vergangenheit („Hört auf, fossile Brennstoffe, neue Technologien etc. zu nutzen!“), als das Leben schwer war („Pflanzt euer eigenes Gemüse an, backt euer eigenes Brot, lebt lokal!“) und das Glück rar gesät. Hinzu kommt, dass Degrowth in den Rahmen eines apokalyptischen Zeitstrahls eingebettet ist, der auf den Kollaps der lebenserhaltenden Systeme des Planeten verweist – nicht gerade die attraktivste Vorstellungswelt sozialer Bewegungen. Solche Karikaturen von Degrowth sind weit entfernt von Konzepten wie Fülle, Freude und Spiel – Konzepten, die häufig Teil künstlerischer Prozesse sind und die der Kapitalismus vereinnahmt hat.
Wie ein Großteil der traditionellen progressiven Politik neigt auch Degrowth dazu, politische Arbeit im Sinne eines wissenschaftlichen, scheinbar realitätsbasierten Prozesses zu gestalten. Eine Menge Arbeit wird in das Aufbereiten von Informationen, Statistiken, Fakten und in ökonomische Analysen gesteckt. Degrowth fühlt sich oft über-akademisch und kopflastig an, Emotionen werden ignoriert. Aber wo ist das Träumen und ist die Fantasie geblieben? Obwohl es auf der letzten Degrowth-Konferenz Räume für intuitives Lernen und fürs Feiern gab, werden diese leider allzu oft als bloßer Zusatz zu den „rationalen“ Vorträgen, Workshops etc. wahrgenommen.
Die Fantasie vom Kapitalismus zurückstehlen
Der Kapitalismus hat unsere Fantasie mit Konsumspektakeln eingefangen; seine Celebritys sind zu unseren mythologischen Held_innen geworden und seine Videospiele zu unseren wilden Abenteuern. Er verspricht uns die Fantasie eines besseren Lebens, das immer noch besser gemacht werden kann. Fantasie ist der Brennstoff des Unterhaltungsgeschäfts, der Popkultur und der meisten Religionen und dennoch fürchten wir sie als politisches Werkzeug; wir misstrauen allem, was irrational scheint und verweisen es ins „Kunstprogramm“.
Artivism erkennt hingegen an, dass es bei der Politik seit jeher um Fantasie geht, darum nämlich, dass wir uns die Zukunft vorstellen, die wir wollen. Es gelang uns, solche Werkzeuge zu nutzen, sie zurückzustehlen von der Populärkultur und das zu erschaffen, was Stephen Duncombe, Autor und Gründer des Center for Artistic Activism, „ethical spectacle“, ethisches Spektakel, nennt. Darin stellen wir unsere Träume gemeinsam dar, mit visionären und partizipativen Aktionen. Auf diese Weise schaffen wir neue Realitäten, mithilfe von Symbolen und Geschichten, die eine neue Wahrheit bilden – statt auf Befreiung zu warten.
Die Degrowth-Bewegung könnte von Artivism lernen und anerkennen, dass erfolgreiche Politik ebenso eine Sache von Sehnsucht und Fantasie ist wie von Vernunft und Ratio. Es ist ein Fehler, all diese kraftvollen Werkzeuge dem Kapitalismus zu überlassen. Solange die Verlockungen des Kapitalismus scheinbar mehr Spaß machen und unsere tiefen Sehnsüchte berühren können, werden wir dabei scheitern, den so notwendigen radikalen kulturellen Wandel zu vollziehen. Der Erwerb eines I-Pads wird viel cooler bleiben als das Reiten auf einem Esel.
Statt dass Künstler_innen ausschwärmen, um ihre Kreativität in der Degrowth-Bewegung auszuleben, arbeiten sie weiterhin in der Werbeindustrie und in anderen Maschinerien, die die kapitalistischen Sehnsuchtsfallen reproduzieren. Ohne ihre Kreativität wird Degrowth jedoch eher eine nette Ideensammlung bleiben als eine neue Kultur. Die Fragen, die wir uns stellen müssen, lauten: Wie lernen wir, uns gegenseitig darin auszubilden, anders zu begehren und anderes zu ersehnen? Wie kann Degrowth genauso sexy werden wie Kapitalismus und wie kann „klein“ wirklich schön werden? Und zu guter Letzt: Wie können wir lernen, die in der industriellen Zivilisation enthaltene Gewalt wirklich zu spüren und die endlos fortgeführten Verbrechen gegen das Leben wirklich zu fühlen? Wie können wir die Betäubung abschütteln und zur Sensibilität zurückkehren?
Mehr Übereinstimmung zwischen Denken und Leben
Was Degrowth seinerseits zu Artivism und vor allem zur Welt der Kunst beitragen kann, ist das Streben nach Übereinstimmung zwischen Denken und Leben. Die Kluft zwischen dem, was wir glauben, und dem, wie wir handeln, führt uns zwangsläufig ins Leid und zu verwirrenden Vorbildern. Im kulturellen Bereich leben viele mit einer Spaltung zwischen ihrer Politik, ihrer Ästhetik, ihrer Ethik und dem alltäglichen Leben. Viele Künstler_innen und Kulturproduzent_innen fliegen von Konferenzen zu Biennalen, um zum Klimawandel zu arbeiten. Andere machen systemkritische Arbeiten in Museen, die von Banken finanziert werden. Indem sie ihr Leben nicht als Material begreifen, mit dem sie arbeiten – was Foucault als Lebenstechnik oder Lebenskunst bezeichnet –, reproduzieren sie die typischen Aufspaltungen des Kapitalismus. Anstatt ihre Kreativität darauf zu verwenden, wie wir reisen können, ohne einen Klimakollaps zu verursachen, wie wir uns herrschaftsfrei organisieren können, wie wir unsere Nahrung anbauen können, ohne unsere Böden zu zerstören, und wie wir neue Kommunen aufbauen können, leben sie weiterhin mit der Kluft zwischen ihren Überzeugungen und ihrem Verhalten. Die Degrowth-typische Ausrichtung auf ganzheitliche Praktiken könnte dies verändern.
5. Der Aufbau einer Kultur des Widerstands, in der Kunst und Aktivismus nicht mehr vom täglichen Leben getrennt sind
Eine der dringlichsten Aufgaben ist der Aufbau einer Kultur des Widerstands. Ich glaube nicht, dass wir ohne Akte des Widerstandes Lösungen für die anhaltende soziale und ökologische Katastrophe installieren können, denn diejenigen, die vom bestehenden Wirtschaftssystem profitieren, werden ihre Macht nicht aufgeben. Wir brauchen Bewegungen, die wünschenswerte Alternativen aufzeigen bei gleichzeitiger Bereitschaft, dem gegenwärtigen System zu widerstehen. Ohne eine gemeinsame Sammlung von Werten und Verhaltensweisen, ohne eine Kultur, in der Akte des Widerstands (von Protest bis hin zu Sabotage) von breiten Bevölkerungsteilen – über die unmittelbar Teilnehmenden hinaus – unterstützt werden, werden wir nicht in der Lage sein, jenen Systemwandel herbeizuführen, der notwendig ist, um Gerechtigkeit herzustellen und den Zusammenbruch unserer Lebenserhaltungssysteme zu verhindern.
Deswegen sind Dinge wie die Zusammenführung von Degrowth mit, zum Beispiel, einem Klimacamp entscheidend, da nicht jede_r Einzelne in der Lage sein wird, an vorderster Front Widerstand zu leisten. All diese Menschen müssen allerdings Teil einer gemeinsamen Kultur werden. Und doch gerät dies von Seiten der Bewegungen häufig in Vergessenheit: Sie übersehen dabei, wie wichtig es ist, die materiellen Infrastrukturen und die emotionale Sensibilität zu kreieren, die den Widerstand langfristig stützen. Leider scheinen viele in den Transition-Town-Netzwerken oder im Rahmen anderer ökologischer Alternativen wie etwa Permakultur zu glauben – auch wenn es um langfristige und materielle Strukturen geht –, dass unsere Kultur es schaffen wird, sich ohne Widerstand, magisch, vom Kapitalismus in „etwas Schöneres und Grüneres“ zu verwandeln. Ich glaube nicht, dass diese unsere Kultur irgendwie einen freiwilligen Wandel zu einer vernünftigen, gerechten und nachhaltigen Lebensweise durchlaufen wird. Ich glaube, dass wir vieles von dem, was Bestandteil dieser Kultur ist, auflösen müssen und dass wir völlig andere Weisen, zu sein und unsere Welt zu teilen, aufbauen müssen. Und genau das ist Widerstand: er bedeutet, ungerechte Machtstrukturen zu konfrontieren und aufzulösen, um den Weg freizumachen für das Erblühen anderer Kulturen.
So sieht eine Kultur des Widerstands aus
Eine Kultur des Widerstands ist eine Kultur, die darauf basiert, unsere materielle und emotionale Unterstützung mit den in einer Widerstandsbewegung Aktiven zu teilen. Eine Kultur des Widerstands zeigt sich darin, wenn, wie im Winter 2015 in Frankreich geschehen, Bürger_innen ihre Häuser und Höfe für die 200 Menschen eines Traktor- und Fahrradkonvois öffnen, der von la zad (einer autonome Zone gegen einen Flughafenbau in Westfrankreich) bis zur COP21-Konferenz führte, trotz des ausgerufenen Notstands und der Protestverbote. Eine Absage an eine Kultur des Widerstandes ist es hingegen, wenn der sogenannte „ökologische“ Philosoph Bruno Latour es ablehnt, einen Brief gegen den Bau desselben Flughafens zu unterschreiben – aus Angst, dass sein Name mit radikalen Ökos in Verbindung gebracht wird.
Ein schönes Beispiel für eine Kultur des Widerstandes war die Untergrundeisenbahn, die es Sklaven ermöglichte, den amerikanischen Südstaaten zu entfliehen. Eine Absage an eine Kultur des Widerstandes ist es, wenn die französische Regierung die selbstgebauten Camps der Geflüchteten in Calais räumt, um deren Bewohner_innen an einen gefängnisartigen Ort ohne öffentliche Räume und Gemeinschaftsflächen zu verfrachten.
Im Zentrum einer Kultur des Widerstands steht die Ablehnung der Kultur der Herrschaft zugunsten einer Definition von Liebe, die es den anderen ermöglicht, frei zu sein.
Die Trennung einreißen
Letztendlich denke ich, dass sich in einer neuen Kultur, die die Kultur des Kapitalismus und der Herrschaft ersetzen wird, die Rolle von Kunst und Aktivismus radikal verändern wird. Kunst als etwas vom täglichen Leben Getrenntes, als etwas für die Sammlungen und den Profit der Reichen, als etwas zum Besitzen oder Anschauen, von anderen geschaffen – all dies wird der Vergangenheit angehören. Kunst wird eher als Verb denn als Substantiv verstanden werden, als eine Art des Tuns und eine bestimmte Qualität der Aufmerksamkeit, die jede_r im täglichen Leben ausüben kann, nicht nur Künstler_innen.
Vielleicht wird auch die Vorstellung verschwinden, dass Aktivist_innen Spezialist_innen dafür sind, die Gesellschaft zu verändern. In einer Gesellschaft der Commons, die nicht durch einen hierarchischen Staat, sondern lokal und basisdemokratisch organisiert ist, wird sich jede Person als Teil des sozialen Transformationsprozesses und der politischen Praxis verstehen. Politik wird nicht mehr von Ethik getrennt sein. Aristoteles sah das Streben nach dem Wohl der politischen Gemeinschaft, nach dem Gemeinwohl der Menschheit als ganzer, als Teil der Ethik an. Dieses Streben nannte er „eudaimonia“, was „das gute Leben“ bedeutet. Dies, so glaubte Aristoteles, sei das oberste Ziel aller Menschen. 2300 Jahre später bringt uns die Degrowth-Bewegung diesem Traum vielleicht näher als jemals zuvor.
Fußnoten:
1) Lebensfreundlicher, dem Leben dienend