Buen Vivir:

Die Welt aus der Perspektive des Buen Vivir überdenken

 

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Autor*innen:
Alberto Acosta
(übersetzt von Mercè Ardiaca Jovè)

Alberto Acosta ist ecuadorianischer Wirtschaftswissenschaftler, Forscher der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften FLACSO-Ecuador. Außerdem war er Minister für Energie und Bergbau, Vorsitzender der verfassungsgebenden Versammlung und Präsidentschaftskandidat der Republik Ecuador.

1. Was verstehen wir unter Buen Vivir?

„Wir werden nie eine perfekte Welt erschaffen.
Und wir sollten uns dessen bewusst sein.“

Carlos Taibo, 2015

In diesem Artikel werden die Reichweite und die Grenzen des Buen Vivir ‒ was im Deutschen als „gutes Leben“ übersetzt wird ‒ beleuchtet. Das Gute Leben wurde von Anfang an als plurales Konzept verstanden, nämlich als Buenos Convivires: als verschiedene Arten des guten Zusammenlebens. Denn es geht nicht darum, die Tore für ein einziges, homogenes, nicht realisierbares gutes Leben zu öffnen, sondern vielmehr um das gute Miteinander-Leben von Menschen in einer Gemeinschaft, von verschiedenen Gemeinschaften und von Individuen und Gemeinschaften einerseits und der Natur andererseits.

Das gute Leben muss als Kategorie verstanden werden, die sich im ständigen Konstruktions- und Reproduktionsprozess befindet. Es ist kein statisches und erst recht kein rückständiges Konzept. Buen Vivir ist eine zentrale Kategorie in der Lebensphilosophie vieler Gesellschaften. Aus dieser Perspektive wird sie zu einem Lebensentwurf, der globales Potenzial hat, obwohl er in der Geschichte marginalisiert wurde.

Zunächst ist festzuhalten, dass in einigen indigenen Wissenswelten keine analoge Vorstellung zum westlichen „modernen“ Konzept der Entwicklung existiert. Dann gibt es keine Wahrnehmung von einem linearen Lebensprozess, in dem ein vorheriger und ein späterer Zustand – die „Unterentwicklung“ und später dann die „Entwicklung“ – bestimmt werden. Die durch Akkumulation von und Mangel an materiellen Gütern bestimmten Konzepte des Reichtums und der Armut gibt es ebenfalls nicht.

Somit bringt Buen Vivir eine Weltanschauung mit sich, die sich von der westlichen insofern unterscheidet, als dass sie gemeinschaftliche, nicht kapitalistische Wurzeln hat. Sie bricht sowohl mit der anthropozentrischen Logik des Kapitalismus als dominanter Zivilisation als auch mit verschiedenen bisherigen Ausprägungen des Sozialismus. Letztere müssen aus einer sozio-biozentrischen Position neu gedacht werden und lassen sich nicht allein durch einen Namenswechsel aktualisieren.

Das gute Leben bringt eine dekolonialisierende Aufgabe mit sich, die zudem depatriarchalisierend sein sollte (vgl. Kothari u. a. 2015). Um das zu erreichen, braucht es einen tiefgreifenden Prozess der intellektuellen Dekolonialisierung auf der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ebene.

Letztendlich ist Buen Vivir eine hoch subversive Erfahrung, die keineswegs eine Einladung zur Rückkehr in die Vergangenheit oder in eine idyllische, im Übrigen gar nicht existierende Welt ist. Es darf auch nicht zu einer Art Religion mit eigenen Geboten, Vorschriften und Ämtern ‒ inklusive der politischen ‒ werden. Unter Buen Vivir können wir uns vorstellen: ein Leben des Menschen in Harmonie mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen in der Gemeinschaft, der Gemeinschaft untereinander und zwischen Mensch und Natur.

Gelebte Praktiken der Gegenseitigkeit in der der Anden- und Amazonasregion

Auf der wirtschaftlichen Ebene existieren in der Anden- und Amazonasregion viele Praktiken der Gegenseitigkeit, der Solidarität und viele Antworten, die auf verschiedene Arten im sozialen Handeln lebendig sind. In aller Kürze und ohne ihre Übertragbarkeit oder Verallgemeinerbarkeit zu behaupten, werden im Folgenden einige Formen der wirtschaftlichen Beziehungen in indigenen Gemeinschaften dargestellt:

  • Minka (minga): eine Institution gegenseitiger Hilfe auf gemeinschaftlicher Ebene. Sie garantiert eine Arbeitskraft, die dem Gemeinwohl dient und zur Deckung der kollektiven Bedürfnisse und Interessen verrichtet wird, beispielsweise bei Infrastrukturprojekten wie Bau und Instandhaltung eines Bewässerungskanals oder eines Weges. Es handelt sich also um eine Form der kollektiven Arbeit.
  • Ranti-ranti: Anders als die punktuelle und einmalige Tauschwirtschaft, die in Wirtschaftssystemen einiger Mestizos vorkommt, ist der Tausch hier Teil einer Kette, in der sich unendliche Transfers von Werten, Produkten und Arbeitstagen aneinanderreihen. Dies basiert auf dem Prinzip „Geben und Nehmen“, ohne es in Bezug auf Zeit, Aktion oder Raum einzugrenzen, und steht in Verbindung zu bestimmten ethischen, kulturellen und historischen Werten der Gemeinschaft.
  • Uyanza: Damit wird zum Zusammenleben und zur Einheit der Gemeinschaften aufgerufen. Außerdem bietet Uyanza die Gelegenheit, der Mutter Erde für ihre Fähigkeit, sich zu regenerieren und den Menschen ihre Produkte zu schenken, zu danken. Weiterhin handelt es sich um eine Institution sozialer Hilfe, auch spezifisch für die Familien, die ihre Arbeitskraft als Leihgabe zur Verfügung gestellt haben.
  • Uniguilla: eine Tauschmöglichkeit, die der Ergänzung von Nahrung und Nutzobjekten dient. Sie ermöglicht eine bessere Ernährung, nämlich mit Produkten anderer Regionen und besonders aufgrund ökologischer Nischen.
  • Waki: Bei Abwesenheit werden landwirtschaftliche Flächen anderen Gemeinschaften oder Familien zugeteilt, die das Land bewirtschaften. Die Erzeugnisse werden zwischen beiden Familien oder Gemeinschaften aufgeteilt. Dieses System findet auch bei der Tierpflege und Viehzucht Anwendung.
  • Makikuna: eine Art der Unterstützung, in welche die gesamte Gemeinschaft, die erweiterte Familie, befreundete Personen und die Nachbarschaft einbezogen werden. Sie beinhaltet die seelische Unterstützung in jenen Momenten, in denen sie am meisten gebraucht wird, besonders bei unvorhersehbaren Situationen und Notfällen.

Degrowth in Bewegung(en)

32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation

Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.)

Die hier versammelten 32 sozialen Bewegungen, alternativ-ökonomischen Strömungen und Initiativen suchen nach Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell. Sie fordern einen Paradigmenwechsel: weg vom Fokus auf Wettbewerb, Gewinnstreben, Ausbeutung und Wachstum – hin zu mehr Kooperation, Solidarität und einer Orientierung an konkreten Bedürfnissen. Es geht darum, die Bedingungen für ein gutes Leben für alle zu schaffen. Aber welche unterschiedlichen Wege für eine sozial-ökologische Transformation gibt es? Welche Hürden sind zu überwinden? Welche Gruppen sind beteiligt, wer macht was und wie ist das Verhältnis zueinander? Welche Bündnisse sind möglich? Diesen Fragen sind Protagonist*innen der Bewegungen in einem zweijährigen Vernetzungs- und Schreibprozess nachgegangen. Die daraus entstandenen Beiträge motivieren zu eigenem Tun und Engagement.

2. Buen Vivir: Indigene Bewegungen kämpfen für Lebensalternativen

Die ursprünglichen TrägerInnen des Buen Vivir

Die Gedanken um Buen Vivir tauchten erst vor kurzer Zeit im öffentlichen Diskurs auf, vor allem in Ecuador und Bolivien; ihr Aufkommen erklärt sich durch den Kampf der indigenen Bewegungen, der besonders Ende des 20. Jahrhunderts an Kraft gewann. Damit verbundene Werte, Erfahrungen, Praktiken und Weltanschauung im Allgemeinen waren schon vor Ankunft der europäischen Conquistadores präsent. Sie wurden jedoch unsichtbar gemacht, ausgegrenzt oder offen bekämpft. Es darf nicht vergessen werden, dass das gute Leben nicht nur in Lateinamerika, sondern in den verschiedensten Epochen und Regionen der Mutter Erde bekannt war und ist – und praktiziert wurde und wird.

Die bekanntesten sprachlichen Darstellungen des guten Lebens führen uns zu den ursprünglichen Sprachen von Ecuador und Bolivien: im ersten Fall das Buen Vivir (Spanisch) oder Sumak Kawsay (Kichwa) und im zweiten Fall das Vivir Bien (Spanisch) oder Suma Qamaña (Aymara), Sumak Kawsay (Quechua), Ñande Reko oder Tekó Porã (Guarani). Andere indigene Völker kennen ähnliche Konzepte, wie zum Beispiel die Mapuche in Chile, die Guarani in Paraguay, die Kuna in Panama, die Shuar und Achuar des ecuadorianischen Amazonasgebiets, ebenso die Maya in Guatemala und im mexikanischen Chiapas. Auch der afrikanische Ubuntu (Gemeinschaftssinn) und die indische Swaraj (Radikale Ökologische Demokratie) zählen dazu.

Aus dieser Vielfalt heraus entstehen viele Bewegungen, die die Ideen des guten Lebens voranbringen. Nichtsdestotrotz kann nicht von einer Bewegung des guten Lebens als solcher gesprochen werden. Denn bestimmte Gruppen stellen sich, obwohl sie Buen Vivir befürworten, verteidigen, artikulieren und eigene Impulse geben, nicht unter die Flagge des Buen Vivir. Zudem handelt es sich um Erfahrungen, Werte und Praktiken, die bereits in verschiedenen Teilen des Planeten existieren und ihre Kraft aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Perspektiven gewinnen. Es gibt keinen Versuch – zumindest bisher – diese Prozesse auf eine stärker institutionalisierte Weise zu organisieren, und womöglich ist dies auch nicht wünschenswert. So kann die Entstehung von starren und dogmatischen Visionen und Vorschlägen vermieden werden, die letztendlich jene Kreativität ersticken, die für die Konstruktion der Buenos Convivires unerlässlich ist. In Bolivien und Ecuador ist dieses Konzept durch die jeweilige Verfassung bekräftigt worden: die Verfassung der Republik Ecuador von 2008 und die Verfassung des Plurinationalen Staates Bolivien von 2009.

Die Verfassung enthält eine Reihe von Einsichten, die damals gleichzeitig Gestalt annahmen. In einem Moment des Schaffens, des Auftauchens neuer Ideen, haben sich einzigartige Vorschläge in dem kleinen Andenstaat Ecuador durchgesetzt – beispielsweise die Aufnahme der Rechte der Natur in die Verfassung oder die Anerkennung des Grundrechts auf Wasser, das jede Form der Privatisierung dieser lebenswichtigen Flüssigkeit verbietet, oder die Idee, Rohöl, das im Untergrund des Amazonasgebietes vorhanden ist, dort zu belassen. In der Präambel wird das Ziel genannt, „eine neue Form des Zusammenlebens der Bürger und Bürgerinnen in Vielfalt und Harmonie mit der Natur aufzubauen, um das Gute Leben, das Sumak Kawsay zu erreichen“.

Des Weiteren ist Aufmerksamkeit geboten, um nicht in die „Falle“ der ecuadorianischen oder bolivianischen offiziellen Propaganda vom guten Leben zu tappen. Auf staatlicher Ebene ist dieses Konzept letztendlich ausgehöhlt worden, insofern es dem Verlangen nach Machtkonzentration und Disziplinierung der Gesellschaften untergeordnet wurde, während zugleich der Kapitalismus modernisiert wurde.

Buen Vivir im Kontext der Geschichte Lateinamerikas

Um das gute Leben zu verstehen, braucht es die Geschichte und die Gegenwart der indigenen Völker und Nationen. Es ist im Wesentlichen ein Prozess, der sich auf das Prinzip der historischen Kontinuität stützt. Buen Vivir ist Teil einer langen Suche nach Lebensalternativen, die durch die leidenschaftlichen Kämpfe indigener Völker und Nationen geschmiedet werden. Das Besondere und Tiefgründige dieser Alternative ist, dass sie aus seit langem marginalisierten, ausgegrenzten, ausgebeuteten oder sogar zerstörten Gemeinschaften stammt. Ihre lange missachteten Vorschläge laden jetzt dazu ein, mit bisher als alternativlos erachteten Konzepten zu brechen.

Die Vorschläge des Buen Vivir gewinnen in einem Moment der allgemeinen Krise des oligarchischen, kolonial verwurzelten Nationalstaates und des Neoliberalismus in Lateinamerika an Präsenz und sind der wachsenden Organisationskraft indigener und anderer Basisbewegungen zu verdanken. Mit der Perspektive des Einklangs mit der Natur, die Buen Vivir auszeichnet, verstetigte sich auch die Diskussion über Alternativen rund um den Umweltschutz.

Die indigene Gemeinschaft im weitesten Sinne verfolgt ein kollektives Zukunftsprojekt. Die Utopien der Anden- und der Amazonasregion prägen momentan den Diskurs, die politischen Projekte und die soziale, kulturelle sowie wirtschaftliche Praxis. Der Ansatz darf jedoch nicht ausgrenzend sein und keine dogmatischen Visionen hervorbringen. Er muss durch andere Diskurse und weitere Vorschläge aus den verschiedenen Erdregionen ergänzt und erweitert werden, die in ihrem Kampf für eine zivilisatorische Transformation spirituell und vielleicht auch politisch miteinander verbunden sind.

Yasuní-ITT – über die Schwierigkeit, globale Utopien zu erreichen

Zur Förderung des großen Wandels gibt es nicht nur Theorien, sondern auch konkrete Praktiken und dies sogar auf globaler Ebene. Der Vorschlag der Yasuní-ITT-Initiative, das Erdöl aus dem ecuadorianischen Amazonasgebiet in der Erde zu belassen, war und ist nach wie vor ein hervorragendes Beispiel für eine globale Aktion, die von der Zivilgesellschaft eines kleinen Landes ausging. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die ecuadorianische Amazonasregion seit Jahrzehnten von der Ölförderung betroffen ist. Infolgedessen haben viele indigene Völker, die in selbstgewählter Isolierung leben, die Förderregionen verlassen. Zurzeit leben sie in den letzten übrig gebliebenen Waldregionen. In einem immer weiter schrumpfenden Gebiet, das seinen eigentlichen Reichtum – die Artenvielfalt – zum Teil bereits verloren hat, konzentriert sich und steigt die indigene Bevölkerung. Das führt dazu, dass es immer mehr Widerstand seitens dieser Gruppen gegenüber der Ölförderung gibt, was wiederum zu einer wachsenden Unterstützung durch Bewegungen in Ecuador und der gesamten Welt geführt hat.

Im Angesicht einer hochkomplexen Realität verfolgte die Yasuní-ITT-Initiative vier Ziele: 1. der Schutz des Territoriums und damit des Lebens der indigenen Völker in selbstgewählter Isolierung, 2. der Erhalt einer weltweit nicht vergleichbaren Artenvielfalt (die größte wissenschaftlich erfasste regionale Biodiversität des Planeten), 3. der Schutz des globalen Klimas durch die Nichtausbeutung großer Rohölmengen und die damit einhergehende Vermeidung von 410 Millionen Tonnen CO2-Emissionen, 4. ein erster, weltweit beispielhafter Schritt Ecuadors hin zu einem postfossilen Wandel.

Das ist noch nicht alles. Es könnte ein fünftes Ziel, ein weiterer Pfeiler, ausgemacht werden: die Möglichkeit aufzuzeigen, kollektiv als Menschheit konkrete Antworten auf die schwerwiegenden weltweiten Probleme zu finden, die in Zusammenhang mit dem – menschlich herbeigeführten und durch die letzte Phase der globalen Kapitalexpansion verschärften – Klimawandel stehen.

Als Gegenleistung erwartete Ecuador die finanzielle Beteiligung der internationalen Gemeinschaft in Form einer geteilten und differenzierten Verantwortung, dies im Verhältnis zum Ausmaß der Umweltzerstörung, getragen durch die verschiedenen verursachenden Gesellschaften, besonders durch die reichsten. Es sollte sich nicht um eine Entschädigung handeln, um weiterhin gemäß dem traditionellen Entwicklungsbegriff (desarrollismo) zu agieren. Vielmehr sollte die Gegenleistung den Ausgangspunkt bilden für den Aufbau eines Szenarios, in dem die schweren – durch den Extraktivismus und durch das Wirtschaftswachstum hervorgerufenen – globalen Ungleichgewichte gestoppt und rückgängig gemacht werden. Die Initiative gilt als gescheitert, weil die reichen Länder ihre Verantwortung nicht übernommen haben und weil die ecuadorianische Regierung nicht auf der Höhe der aus der Zivilgesellschaft heraus entstandenen revolutionären Herausforderung war (vgl. Acosta 2014ab).

Ein Vermächtnis der Initiative sollte besonders hervorgehoben werden: eine starke, soziale Bewegung junger Menschen, die sich für die Verteidigung des Yasuní einsetzen und sich im Kampf bestens organisieren und verbünden, um einen zivilisatorischen Wandel herbeizurufen.

Gegenwärtig gibt es viele konkrete Alternativvorschläge, die hier aus Platzgründen nicht angesprochen werden können. Wichtig ist, dass diese Ideen in den letzten Jahren stark expandieren, sogar über Landesgrenzen hinweg (1), und dass dieser Aufbau Teil eines langen und komplexen Emanzipationsprozesses der Menschheit ist.

1 Folgende Beispiele sind unter vielen anderen hervorzuheben: In Ecuador schlugen die verschiedenen Gruppen, die sich in der Plurinationalen Einheit der Linken (Unidad Plurinacional de Izquierdas) zusammentaten, einen Regierungsplan auf der Grundlage des Buen Vivir oder Sumak Kawsay vor. Siehe dazu: Acosta 2013 und das Programm von RAIZ – Movimiento Cidadanista in Brasilien, 2016: Carta Cidadanista Estatuto, www.raiz.org.br.

3. Horizonterweiterung des Postwachstums durch Buen Vivir

Postwachstum im globalen Norden, Post-Extraktivismus im globalen Süden

Wir stehen vor einer Herausforderung. Die Raserei des wirtschaftlichen Wachstums zu stoppen oder gar eine Wachstumsrücknahme zu erreichen, besonders im globalen Norden, ist unerlässlich. Auf einem endlichen Planeten ist kein Platz für permanentes Wirtschaftswachstum. Folgen wir weiterhin dem eingeschlagenen Weg, kommen wir in eine Situation, die ökologisch immer weniger haltbar ist und die sich in sozialer Hinsicht durch eine zunehmende und gefährliche Sprengkraft auszeichnet. Diese Art Religion des Wirtschaftswachstums zu überwinden, besonders im globalen Norden, wird mit der Abkehr vom Extraktivismus im globalen Süden einhergehen müssen. Das bedeutet, dass wir post-extraktivistische Strategien entwickeln und verfolgen müssen.

Der Zusammenhang dieser beiden Prozesse – Degrowth und Post-Extraktivismus – im globalen Kontext liegt auf der Hand: Wenn im Norden die Volkswirtschaften nicht mehr wachsen sollen, muss ihre Nachfrage zurückgehen. Somit wäre es nicht mehr länger im Sinne der Länder des Südens, ihre eigene Wirtschaft auf die Ausfuhr von Rohstoffen für diese Volkswirtschaften zu stützen. Aus diesem und vielen anderen Gründen ist es wichtig, dass auch verarmte Länder sich des Themas Postwachstum verantwortungsvoll annehmen.

Aus der Konvergenz der Visionen und Aktionen im Post-Extraktivismus und im Postwachstum folgt jedoch keineswegs, dass die Gesellschaften der verarmten Länder –um den reichen Ländern ihr nicht nachhaltiges Konsum- und Verschwendungsniveau weiterhin zu ermöglichen – ihre Lebensbedingungen nicht verbessern sollten. Mitnichten.

Kapitalismuskritik als gemeinsamer Nenner

Der gemeinsame Nenner beider Perspektiven ist die vehemente Kritik am Kapitalismus, der eine immer stärkere Kommerzialisierung der verschiedenen sozialen Gefüge und der Naturelemente mit sich bringt. Die VertreterInnen beider Kritikansätze sind sich darin einig, dass das Grundsatzproblem in den sozial stark verankerten Verständnissen und Praktiken von Fortschritt, Entwicklung und Wirtschaftswachstum liegt. Beide Ansätze ergänzen sich sogar konzeptuell: Degrowth ist ein „Raketenwort“ (missile word), destruktiv, nicht konstruktiv, während das Buen Vivir im Kern konstruktiv ist (vgl. Unceta 2014).

Für den Ausstieg aus dem Kapitalismus muss der Weg für die Transitionen durch eine Vielzahl verschiedener alternativer Praktiken frei gemacht werden. Auf der gesamten Welt existieren viele dieser Praktiken, die nicht kapitalistisch sind. Es gibt darunter Beispiele, die sich an utopischen Zielvorstellungen orientieren und sich für ein harmonisches Zusammenleben von Mensch und Umwelt aussprechen. Diese Idee und Praxis verbinden das gute Leben mit dem Bestreben von Postwachstum. Letzten Endes geht es darum, sich von dem gescheiterten Versuch zu verabschieden, produktionsorientierten Fortschritt und Entwicklung als mechanistisch verstandene Einbahnstraße des Wirtschaftswachstums, als globales Mandat und als geradlinigen Weg weiterzuverfolgen. Das ist entscheidend. Es geht nicht darum, Beispiele, die in den Industrieländern vermeintlich erfolgreich sind, im globalen Süden neu aufzulegen. Erstens ist es unmöglich. Zweitens sind sie eben nicht wirklich erfolgreich (vgl. Tortosa 2011).

4. Umsetzung der Utopie in der indigenen Welt

Die indigene Welt war Opfer der Conquista und der der Kolonialisierung. Diese ausbeuterischen und repressiven Prozesse wirken sich bis in die heutige republikanische Zeit aus. Der koloniale und kapitalistische Einfluss zeigt sich in vielen verschiedenen Formen, und dies schließt die Möglichkeit einer romantischen Annäherung an die indigene Realität aus. Das Gute Leben als Summe von Lebenspraktiken im Widerstand gegen Kolonialismus und dessen Folgen fördert jedoch eine bestimmte Lebensweise in verschiedenen indigenen Gemeinschaften – besonders in jenen, die nicht von der kapitalistischen Modernität aufgesogen wurden oder die sich entschieden haben, sich davon abzugrenzen. Aber auch in Gemeinschaften, die der Modernität „erlegen“ sind, finden sich Elemente des Buen Vivir. Und selbst in Räumen, die nicht unmittelbar mit der indigenen Welt in Verbindung stehen, werden gemeinschaftliche Lebensentwürfe entwickelt, die Harmonie zwischen ihren Mitgliedern und mit der Natur ermöglichen.

Im Bereich der Politik – genauer gesagt: in der politischen Entscheidungsfindung – wird mit Buen Vivir auf gemeinschaftlicher Ebene und auf Ebene der Ayllu (2) in weiten Teilen der Anden- und Amazonasregion ein anderer Stil und eine andere Form des Regierens praktiziert. Diese zielen auf den Aufbau einer horizontal gestalteten Gesellschaft ab. Das erfordert direkte Demokratie, direkte Aktion und Selbstverwaltung statt neuer Formen des Top-down und – noch wichtiger – statt einer individuellen, „erleuchteten“ Führung. Mit breiten und partizipativen Debatten wird ein Konsens erreicht, der von der Gemeinschaft getragen wird.

Ein Schlüsselelement ist dabei: Die Lösung ist nicht der Staat – und noch weniger der Markt. Es braucht vielmehr eine andere Art von Staat – einen plurinationalen Staat, wie die indigenen Bewegungen von Bolivien und Ecuador ihn vorschlagen2 –, der nicht hierarchisch und nicht autoritär ist, der von unten, auf der gemeinschaftlichen Ebene, kontrolliert wird. Dabei stellt sich die große Frage, wie Politik als ein lebendiger Raum innerhalb der Gesellschaft zurückgewonnen werden kann. Unsere Demokratie kann viel von diesen Erfahrungen lernen.

Buen Vivir im städtischen Raum

Buen Vivir ist nicht auf das Ländliche beschränkt. Es stimmt, dass die Grundlagen aus dem ländlichen Raum stammen. Die heutigen urbanen Räume scheinen relativ weit entfernt von der Praxis eines solidarischen und respektvollen Umgangs mit der Umwelt zu sein. Dies ist eine der größten und komplexesten Herausforderungen: das gute Leben für und aus den Städten heraus zu denken.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele in Städten lebende Migrantinnen und Migranten enge Beziehungen zu ihren ursprünglichen Gemeinschaften unterhalten. Als Beispiel dafür seien verschiedene Gruppen erwähnt, die sich zusammengefunden haben, um in der bolivianischen Stadt El Alto Formen des Buen Vivir zu (re)konstruieren. Auch in anderen Teilen der Welt lassen sich viele interessante Praktiken und Ansätze finden. Exemplarisch für das immer größer werdende Universum solcher Alternativen sei Transition Town genannt. Diese Initiativen beabsichtigen, die Kontrolle den Gemeinschaften zu übergeben, um die Herausforderung des Klimawandels zu überstehen und um eine postfossile Wirtschaft aufzubauen. Diese Bewegung ist in verschiedenen Ländern der Welt aktiv und weist in gewisser Hinsicht viele Parallelen zu Buen Vivir auf.

5. Gutes Leben als mobilisierender und vielstimmiger Ansatz

Das Buen Vivir integriert verschiedene humanistische und anti-utilitaristische Ansätze aus verschiedenen Regionen (oder sollte es zumindest tun). Besonders seit Anfang des 21. Jahrhunderts gewinnen immer mehr und vielfältige Protestbewegungen gegen das klassische Entwicklungs- und Fortschrittsverständnis an Kraft. Hervorzuheben ist angesichts der Umweltzerstörung und der Ausschöpfungssignale der Natur die immer stärker werdende Umweltbewegung (vgl. Acosta 2012).

Die Ansätze des guten Lebens der indigenen Anden- und Amazonasregion verbinden sich also mit verschiedenen Ansätzen gemeinschaftlichen Lebens, etwa mit jenen der Zapatistas oder der KurdInnen sowie mit feministischen, bäuerlichen, ökologischen Kämpfen. Hier finden sich viele Gemeinsamkeiten mit der aufblühenden Postwachstumsbewegung.

Daraus lässt sich die Lehre ziehen, dass es nicht den einen wahren Ansatz gibt. Das Buen Vivir ist kein synthetisierter, monokultureller Vorschlag. Vielmehr nimmt das gute Leben Beiträge und Wissen anderer Kulturen auf, die in Frage stellen, was die dominante Modernität (voraus-)setzt. Dabei lehnt es Technologien der modernen Welt nicht ab, solange sie mit dem Aufbau gemeinschaftlicher Beziehungen in Einklang und mit Respekt gegenüber der Natur vereinbar sind.

Eine doppelte Begegnung mit Natur und Gemeinschaft ist nötig

Es braucht eine neue Ethik, um das Leben aus selbstverwalteten, gemeinschaftlichen Räumen heraus zu organisieren, mit Verzicht auf Herrschaftsbeziehungen. Die daraus entstehende Gesellschaft soll horizontal, offen und nicht sektiererisch sein. Von dieser Ethik ausgehend wird eine Wirtschaft entstehen, die die Reproduktion des Lebens fördert und nicht die des Kapitals. Auch wird sie die Existenz aller Lebewesen sichern und die jetzige menschenzentrierte Realität – mit dem Menschen als Herrscher des Universums – in all ihren Varianten überwinden.

Wenn die Ausbeutung der Natur zum Zwecke der Anhäufung von Kapital überwunden werden soll, gibt es umso mehr Gründe dafür, die Ausbeutung von Menschen hinter uns zu lassen. Wir werden erkennen müssen, dass wir Menschen als Wesen der Natur keine isolierten Individuen sind, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind, dass wir selbst letztendlich Gemeinschaft sind. Diese Gemeinschaften, Völker, Nationen und Länder sollten in einer harmonischen Beziehung zueinander stehen.

Diese doppelte Verbundenheit – mit der Natur und in der Gemeinschaft – erfordert von uns, jenen zivilisatorischen Schritt zu gehen, mit dem die Menschenrechte und die Rechte der Natur uneingeschränkt anerkannt werden und Gültigkeit erlangen.

Fußnoten:

1) Folgende Beispiele sind unter vielen anderen hervorzuheben: In Ecuador schlugen die verschiedenen Gruppen, die sich in der Plurinationalen Einheit der Linken (Unidad Plurinacional de Izquierdas) zusammentaten, einen Regierungsplan auf der Grundlage des Buen Vivir oder Sumak Kawsay vor. Siehe dazu: Acosta 2013 und das Programm von RAIZ – Movimiento Cidadanista in Brasilien, 2016: Carta Cidadanista Estatuto, www.raiz.org.br.

2) Ayllu bezeichnet die Gesamtheit der miteinander verwandten und verschwägerten Familien.