Commons-Bewegung:
Selbstorganisiertes (Re)Produzieren als sozial-ökologische Transformation
Autor*innen:
Johannes Euler
Leslie Gauditz
Wir, Leslie Gauditz und Johannes Euler, sind im Commons-Institut e. V. aktiv, einer Gruppe, die unter anderem die Schaffung von Wissen und Bildungsarbeit zu Commons fördert. Wir sind knapp dreißig Jahre alt, bildungsbürgerlich aufgewachsen und lohnarbeiten im akademischen Betrieb. Uns hat zusammengebracht, dass wir Commoning betreibende Personen sind, die sich dazu Gedanken machen und Texte schreiben. Um Commonern aus unserem Umfeld die Möglichkeit zu geben, diesen Text mit zu formen, haben wir Vorversionen über unsere Mailinglisten verschickt. Mehrere Menschen haben sich durch sehr hilfreiche Kommentare an dessen Entstehung beteiligt.
Dieser Text spiegelt dennoch unsere persönliche Sicht auf Commons-Bewegungen wider; sie ist davon geprägt, dass wir uns an ganz bestimmten Stellen dieser Bewegung und der dazugehörigen Diskurse befinden.
1. Commoning: eine andere Art des gemeinsamen Lebens und Handelns – im Kapitalismus, aber über diesen hinausweisend
Commons, das sind gemeinsam hergestellte, gepflegte und genutzte Produkte und Ressourcen unterschiedlichster Art. Der Begriff findet in den letzten zwei bis drei Dekaden wieder vermehrte Verwendung – „wieder“ deshalb, weil Commons als Konzept und Praxis uralt und weltweit vorzufinden sind (vgl. Helfrich/Bollier/Heinrich-Böll-Stiftung 2016). Im deutschsprachigen Raum ist traditionell der seit dem Mittelalter verbreitete Begriff der Allmende bekannt, der die gemeinschaftliche Bewirtschaftung von Wiesen und Wäldern bezeichnet. Die Erforschung gemeinschaftlich genutzter Naturressourcen ist heute vor allem mit dem Namen Elinor Ostrom verbunden, die für ihre Forschungen im Jahr 2009 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt. Ostrom (1999: 75-132) hat Best-Practice-Beispiele gesammelt: Selbstgewählte Regeln und eigene Konfliktlösungsmechanismen etwa gehören zu den von ihr formulierten Designprinzipien langlebiger selbstverwalteter Institutionen. Im Unterschied zu Ostrom gehen andere Autor*innen davon aus, dass die wesentlichen Gemeinsamkeiten nicht vornehmlich in den Institutionen und Regeln, sondern in deren praktischen, sozialen Ausgestaltung, dem Commoning, zu suchen sind (vgl. Euler 2016; Meretz 2014a).
Entscheidenden Anteil an der gesteigerten Aufmerksamkeit für Commons in den letzten Jahren hatten die Verbreitung von digitalen wissenszentrierten Commons (zum Beispiel Wikipedia) und die Entwicklung von freier Software (zum Beispiel GNU/Linux und LibreOffice).
Gegenwärtig kann Commons – dieser Begriff ist inzwischen auch im Deutschen gebräuchlich – als ein auf Gleichberechtigung und Selbstorganisation basierendes Konzept verstanden werden, das im Widerspruch zur kapitalistischen Warenlogik steht (vgl. Meretz 2014a). Anstelle des Tausches von Waren wird auf freiwillige Beiträge gesetzt. Auch die im Kapitalismus verbreitete Trennung von Reproduktions- (also Sorge- und Pflegetätigkeiten für andere Menschen und die Natur) und Produktionstätigkeiten sowie von Produktions- und Nutzungsprozessen finden dabei keine Entsprechung: So geht es beispielsweise in urbanen Commons-Gärten in der Regel nicht um die Produktion von Lebensmitteln für den späteren Verkauf, sondern neben der ökologischen Produktion auch um gemeinsames Kochen, Essen und Feiern. Das soll nicht heißen, dass in Commons-Projekten weder Tausch noch besagte Trennungserscheinungen eine Rolle spielen. Allerdings funktionieren Commons primär nach einer anderen Logik: Beide Aspekte sind nicht funktional und werden eher aus dem Außen der kapitalistischen Welt hineingetragen.
Wir möchten betonen, dass es keine allgemeingültigen Patentrezepte gibt, Commons gemeinsam zu organisieren. Wir gehen davon aus, dass sich die Weisen und Regeln in den verschiedenen Zeiten und Kontexten an die Bedürfnisse der involvierten Menschen anpassen und sich daher unterscheiden. Trotzdem lassen sich Gemeinsamkeiten aufzeigen. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu klären, dass es sich beim Commoning nicht einfach um den Umgang mit kollektivem Eigentum handelt, sondern um einen Bruch mit der Exklusionslogik des Eigentums. Anstatt andere mit den Mitteln des abstrakten Rechts auszuschließen (Eigentum), geht es bei Commons um die tatsächlichen, physischen (und potenziell inkludierenden) Verfügungsmöglichkeiten (Besitz). Wesentlich ist hier die Ausrichtung auf die Bedürfnisse der an Commoning-Prozessen Betroffenen beziehungsweise an ihnen Teilhabenden. (1)
Die Commons-Perspektive nimmt eine Art des Zusammenlebens in den Fokus, in der Menschen einen großen Einfluss auf ihre je eigenen Lebensbedingungen haben und die Tätigkeiten, denen sie nachgehen, überwiegend danach auswählen, wie viel Freude sie ihnen bereiten und wie wichtig und richtig sie diese finden.2 So ist Wikipedia beispielsweise entstanden, weil Menschen eine für alle frei zugängliche Selbstorganisation von Wissen wichtig fanden und Spaß am Schreiben hatten. Fremdbestimmte, hierarchische und exkludierende Organisationsformen stehen, obschon sie durchaus vorkommen, solchen Motivationen eher entgegen und werden vielfach abgelehnt. Selbstentfaltung statt Selbstverwertung ist das Ziel.
Perspektivisch kann die Selbstorganisationsperspektive der Commons die Grundlage für eine Gesellschaft jenseits von Markt und Staat sein. Zentrale Prinzipien sind dabei: beitragen statt tauschen; Besitz statt Eigentum; teile, was du kannst (Habermann 2015); nutze, was du brauchst.
1Das heißt auch, dass es keine abstrakte Ex-post-Vermittlung („im Nachhinein“) von Angebot und Nachfrage auf einem Markt gibt, sondern eine Ex-ante-Vermittlung („im Vorhinein“), die sich an den konkreten Bedürfnissen der involvierten Personen und nicht-menschlicher Akteur*innen wie Pflanzen ausrichtet.
(2) Dies ist nicht mit einem impulsiven, „reinen“ Lustprinzip zu verwechseln. Es schließt explizit langfristige Verantwortungsübernahme und den Umgang mit den Notwendigkeiten des Lebens ein.
Kapitel vom Buch
Degrowth in Bewegung(en)
32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation
Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.)
Die hier versammelten 32 sozialen Bewegungen, alternativ-ökonomischen Strömungen und Initiativen suchen nach Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell. Sie fordern einen Paradigmenwechsel: weg vom Fokus auf Wettbewerb, Gewinnstreben, Ausbeutung und Wachstum – hin zu mehr Kooperation, Solidarität und einer Orientierung an konkreten Bedürfnissen. Es geht darum, die Bedingungen für ein gutes Leben für alle zu schaffen. Aber welche unterschiedlichen Wege für eine sozial-ökologische Transformation gibt es? Welche Hürden sind zu überwinden? Welche Gruppen sind beteiligt, wer macht was und wie ist das Verhältnis zueinander? Welche Bündnisse sind möglich? Diesen Fragen sind Protagonist*innen der Bewegungen in einem zweijährigen Vernetzungs- und Schreibprozess nachgegangen. Die daraus entstandenen Beiträge motivieren zu eigenem Tun und Engagement.
2. Die soziale Bewegung als ein Teil der Commons-Welt: Wer stellt was wie, warum und mit welchen Folgen her und (ver)nutzt es?
Einen Commons-Dachverband gibt es nicht, wohl aber sichtbare Netzwerke wie die Commons Strategies Group und die P2P-Foundation, das Commons-Institut im deutschsprachigen Raum und die School of Commoning in Barcelona. Welche Menschen sich tatsächlich dem Vorantreiben einer Commons-Welt verschreiben und dies öffentlich vertreten, wer also die Commons-Bewegung ausmacht, ist nicht einfach festzustellen, denn es gibt bisher keine systematischen Untersuchungen dazu. Dieser Text dient also nicht zuletzt einer Selbstbeschäftigung und -verständigung von uns Autor*innen: Möchten wir überhaupt von einer Commons-Bewegung sprechen? Wir beanspruchen dabei explizit nicht, einen umfassenden Überblick zu liefern, erst recht nicht über das, was in anderen Teilen der Welt passiert.
Commoning kann sich in allen denkbaren sozialen Kontexten und verbunden mit unterschiedlichen Ressourcen – wie etwa mit Luft, Saatgut, Wasser, aber auch beim Kümmern um Bedürftige, bei digitaler Technologie, Wohnen und Kochen, Kunst und Musik, modularem Fahrradbau, Produktionsmitteln – finden. Das liegt darin begründet, dass es nicht in der Natur einer Ressource liegt, ob sie ein Commons ist, sondern der Umgang der Menschen mit ihr und miteinander entscheidend sind (vgl. Acksel u. a. 2015; Helfrich 2012; Euler 2016). Betrachten wir aktuell gängige Definitionen sozialer Bewegungen (zum Beispiel: della Porta/Diani 1999), so eint diese ein mehr oder weniger stark pointierter Fokus auf ein verbindendes Selbstverständnis (beziehungsweise eine Identität) und das intentionale Ausrichten ihrer Aktivitäten auf gesellschaftliche Transformation und/oder ein politisches Ziel. Weiter werden Bewegungen anhand ihres Protestverhaltens identifiziert. Die Beantwortung der Frage nach einer Commons-Bewegung hängt also vom politischen Handlungsrepertoire ab und davon, wer sich subjektiv als Commoner (3) versteht – also von der Frage, wer eigentlich als Träger*innen einer solchen Bewegung infrage käme.
Commoner sind Menschen, die „was bewegen“. Das einzige was sich aus unserer Sicht mit Sicherheit über die Commons-Bewegung sagen lässt: Sie ist eine globale Bewegung, die sowohl international vernetzt als auch lokal aktiv ist. Aber Commons sind mehr als „nur“ eine soziale Bewegung. Unter Umständen verfolgen Commoner den Transformationsgedanken nicht explizit und betreiben keine ausgesprochene Kapitalismuskritik, sind nicht entsprechend vernetzt, kennen und nutzen den Begriff Commons gar nicht oder beanspruchen keine Commons-Identität für sich. Es gibt aber auch Commoner, die in bewusster Abgrenzung zur kapitalistischen Waren- und Verwertungslogik agieren. Diese wollen wir Commons-Aktivist*innen nennen und als die Träger*innen dieser Bewegung bezeichnen. Sie streben eine Transformation der Welt nach Commons-Maßstäben an und organisieren sich in entsprechenden Gruppen und/oder Netzwerken und engagieren sich politisch.
Vielen Aktivist*innen ist ein präfiguratives, also vorbildliches Handeln im Alltag wichtiger, als auf der Straße zu demonstrieren. Das heißt, dass es den Träger*innen der Commons-Bewegung ein Anliegen ist, durch gegenwärtige Handlungen in Entscheidungsprozessen und zwischenmenschlichen Beziehungen Räume zu schaffen, in denen Aspekte utopischer Ziele gelebt werden können: „In meinem eigenen Leben praktiziere ich, was ich im Großen sehen will.“ Das Wichtige ist, dass die sozialen Praktiken des Commoning, deren Logik die kapitalistische unterläuft, als solche gesellschaftsverändernd wirken sollen.
Gegenwärtig lassen sich zwar viele Bewegungen zum Schutz von Commons und Widerstände gegen Einhegungen weltweit ausmachen. Daneben ist aber eine gewisse Bezugnahme auf die Gemeinsamkeit der Kämpfe um Commons wie auch auf andere alternativ-ökonomische Bewegungen nötig. Wenn sich zwar viel in Richtung Commons bewegt, dabei aber das Gemeinsame dieser Aktivitäten nicht wahrgenommen, gedacht, praktiziert und kommuniziert wird, so wird sich das große Ganze nur schwerlich verändern.
3. Die Commons- und die Degrowth-Bewegung enthalten sich gegenseitig und unterscheiden sich in Fokus und Strategie
Als wir Autor*innen gefragt wurden, ob wir einen Text schreiben wollen, der die Bewegung und den Ansatz von Degrowth mit Commons in Beziehung setzt, da stellte sich für uns auch die Frage nach der strategischen Bedeutung: Dieses Projekt heißt „Degrowth in Bewegung(en)“. Würde ein Commons-Beitrag darin nicht den Eindruck erwecken, dass Commons ein Teil der Bewegungen rund um Degrowth seien? Oder ist es auch andersherum: dass Degrowth ein Teil der Bewegungen rund um Commons ist? Es ist eine Frage der Deutungshoheit, eine Frage der Rahmensetzung, der Ebenen: Welches ist Ober- und welches Querschnittthema und wozu brauchen wir diese Deutung? Wir gehen davon aus, dass eine Commons-Welt eine Welt jenseits von Wachstumszwängen wäre – doch denkt die Degrowth-Bewegung ebenso automatisch Commons mit?
Im Beitrag „Degrowth: In Bewegung, um Alternativen zu stärken und Wachstum, Wettbewerb und Profit zu überwinden“ (Burkhart et al. 2016) dieser Veröffentlichung wird die Degrowth-Bewegung unter anderem anhand der Teilnehmer*innen der Leipziger Degrowth-Konferenz 2014 charakterisiert. Darin beteiligten sich zahlreiche Menschen, die eher der „Commons-Ecke“ zuzurechnen sind. So sind im Konferenzprogramm etliche Beiträge zu Commons zu finden, und auch mehrere Plenarvorträge wurden von Commonern gehalten. Die damit einhergehende Vereinnahmung kann durchaus kritisiert werden. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass es im umgekehrten Fall ähnlich abliefe. Denn letztlich ist es aus unserer Sicht so, dass Commons und Degrowth sich in gewisser Weise gegenseitig enthalten.
Wenn Degrowth heißt, dass wir Menschen uns von den Fesseln des Wachstumszwangs befreien müssen, und wenn Commons-Aktivist*innen sich für mehr Commoning in der Welt einsetzen, dann müssen wir uns wohl folgende Fragen stellen: Von welchem Wachstum gilt es sich zu lösen? Wovon brauchen wir mehr? Wie könnte das gehen? Wer setzt sich dafür ein? Auf der Akteur*innenebene scheint es ein hohes Maß an gegenseitiger Wahrnehmung und Sympathie zu geben. Insbesondere der auf der Leipziger Konferenz stark vertretene kritische und progressive Teil der Degrowth-Bewegung scheint dabei mit dem kapitalismuskritischen Teil der Commons-Bewegung zu harmonieren. Beiden geht es darum, mit alten Mustern zu brechen, die in der Logik des heutigen Gesellschaftssystems begründet sind und bis in die (und durch die) individuellen Handlungs- und Denkgrundlagen wirken. In Degrowth-Kreisen werden Wachstumszwänge angeprangert. Die Commons-Bewegung kritisiert die Verwertungszwänge der heutigen Gesellschaft. Dass beides zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, liegt auf der Hand.
Da sich Degrowth als wachstumskritische Gegenbewegung formierte, stand eine eigene Alternativvorstellung zunächst nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit Commoning hingegen kann eine Welt gedacht werden, in der unsere Lebensbedingungen auf eine nicht kapitalistische Art (re)produziert werden, jenseits von Wachstumszwängen. In diesem Sinne wird Commoning bei der Formulierung einer Postwachstumsgesellschaft vielfach als integraler Bestandteil betrachtet. Vor allem die im Degrowth-Kontext häufig herangezogenen Überlegungen zu Buen Vivir (vgl. Acosta 2016; Muraca 2014) – dem guten Leben – weisen bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit Commons-Ansätzen und -Prinzipien auf.
Es lassen sich jedoch auch Differenzen feststellen. Degrowth-Kreise legen den Fokus auf Resilienz und Suffizienz. Bei Commons sind diese eher implizit enthalten, als offensiv im Sinne der ökologischen Grenzen der Erde diskutiert zu werden. Aus Commons-Perspektive kann wiederum argumentiert werden, dass Teile der Degrowth-Bewegung der kapitalistischen Verwertungslogik nicht kritisch genug gegenüberstehen sowie zu sehr auf staatliche Steuerungsmechanismen setzen. In gewisser Weise handelt es sich hier sowohl um eine (auch in der Theorie angelegte) unterschiedliche Problemfokussierung als auch um eine andere Herangehensweise, was die Frage der Transformationsstrategie anbelangt.
4. Voneinander lernen: ökologische Kreisläufe, Staats- und Herrschaftskritik, nachhaltige Technologien und Selbstentfaltung
Welche Leerstellen weist die Commons-Perspektive auf und welche Anregungen bietet die Degrowth-Bewegung – und umgekehrt? Ein Feld, in dem die Commons-Bewegung von der Degrowth-Bewegung lernen kann, sind die ökologischen Kreisläufe im globalen Zusammenhang. Die Beschreibung und Analyse von lokalem und praktischem Wissen ist bei Commonern stark und tiefgehend ausgeprägt. Die Erforschung der planetaren Grenzen und globaler ökologischer Kreisläufe ist hingegen etwas, das die Degrowth-Wissenschaft vergleichsweise stärker betreibt. Gerade unter dem Gesichtspunkt, dass Aktivist*innen der Commons-Bewegung eine Commons-Welt für möglich halten, ist Austausch an dieser Stelle fruchtbar und könnte vor unangebrachtem Optimismus wie auch unrealistischen Szenarien bewahren.
Umgekehrt könnte die Degrowth-Bewegung sich von der Commons-Perspektive inspirieren lassen. Bei Degrowth geht es vielfach um relativ abstrakte Kennziffern zu CO2-Emissionen, Wirtschaftswachstum oder Rohstoffverbrauch, aus denen Konsumkritik und Verzichtsforderungen für den globalen Norden abgeleitet werden. Aus Commons-Perspektive treten qualitative Unterschiede und strukturell-systemische Veränderungsnotwendigkeiten stärker in den Vordergrund. Kritisiert wird Konsum, der nicht auf Bedürfnisbefriedigung abzielt, sondern auf Status oder Mehrwertproduktion, und es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass ein volles, genussreiches Leben für alle erreichbar ist. Das heißt, es geht nicht primär um individuellen Verzicht, sondern unter der Prämisse der kollektiven Selbstentfaltung aller darum, wer was, wie und warum herstellt und (ver)nutzt.
Vor dem Hintergrund des Prinzips „Beitragen statt tauschen“ wird die Geld- und Tauschlogik in Commons-Kreisen grundsätzlich kritisiert. Mit Blick auf die Frage einer Reformierung der Geldsysteme wird diskutiert, ob diese dabei hilft, jene Logik zu überwinden, oder ob sie sie eher verfestigt. Als langfristige Commons-Vision kann wohl eine Gesellschaftsform gelten, die sich vom Tausch als gesellschaftlichem Vermittlungsmodus freimacht. Auch ist in der Commons-Bewegung eine grundsätzlich kritische Haltung staatlichen Institutionen gegenüber vorhanden – nicht nur weil Markt und Staat maßgeblich für diverse Einhegungen verantwortlich gemacht werden, sondern auch weil Commons nicht zentralisiert funktionieren. Dies ist auch eine wesentliche Abgrenzung der Commons-Bewegung zum marxistisch-staatszentrierten Kommunismus. Die Verortung von Commons jenseits von Markt und Staat lässt erahnen, dass die Commons-Aktivist*innen sowohl mit marktwirtschaftlichen als auch mit nationalstaatlichen Prinzipien brechen wollen. Normative Grundlage, so lässt sich sagen, ist dabei die grundsätzliche Ablehnung jeglicher Formen der Herrschaft. Eine stärkere Beachtung solcher Diskurse, die Staat und Markt als gesellschaftsbestimmende Institutionen kritisch diskutieren, könnte die Degrowth-Bewegung bereichern und dazu beitragen, strukturelle Hindernisse für eine Postwachstumsgesellschaft sichtbar zu machen.
Grundsätzliche Technologiekritik, die sich zum Beispiel an Ivan Illich (1998) orientiert und sich in Degrowth-Kontexten findet, wird in zeitgenössischen Commons-Kreisen konstruktiv gewendet, indem gefragt wird: Welche Ausgestaltung von Technologien entspricht menschlichen Bedürfnissen und wem nützt Technik wozu? Unter anderem durch die starke Verwurzelung in der digitalen Welt und aufgrund der Beteiligung eher technikaffiner Menschen in Hacker- und Maker-Spaces und in der Open-Hardware-Szene ist ein gewisser Technologieoptimismus vorhanden (vgl. Siefkes 2013). Technologiekritik und Technikoptimismus gehen dabei Hand in Hand: Während die einen sich mit der Kritik an heutigen, als problematisch wahrgenommenen Technologien beschäftigen, entwickeln die anderen neue, die nach anderen Prinzipien, wie Modularität, Reparierbarkeit oder Ressourcenschonung, funktionieren – Prinzipien, die auch mit Degrowth-Ansprüchen vereinbar sind. Das Projekt Open Source Ecology zum Beispiel hat es sich zur Aufgabe gemacht, fünfzig industrielle Maschinen zu bauen, die ein kleines Dorf braucht, damit die Bewohner*innen nachhaltig sowie relativ autark ein gutes Leben führen können.
Wie eingangs erwähnt, scheint viel Degrowth in Commons zu stecken und viel Commons in Degrowth. Ähnlich verhält es sich auch mit anderen in diesem Projekt versammelten Strömungen. Viele der Anregungen werden in Commons-Zusammenhängen diskutiert und praktisch umgesetzt. Auf Gleichberechtigung abzielende Perspektiven zu Mensch-Natur-Verhältnissen, wie beispielsweise in Umwelt- und Tierschutzkreisen und in verschiedenen Gerechtigkeitsdiskursen, spielen ebenso eine Rolle wie das Ziel eines gleichberechtigten Miteinanders der Menschen, wie es zum Beispiel No-Border-Gruppen fordern, die sich eine Welt ohne Staatsgrenzen wünschen. Insbesondere viele Souveränitätsbewegungen (etwa für Lebensmittelsouveränität) haben viel mit Commons gemein, geht es ihnen doch um die Möglichkeit, über die je eigenen Lebensbedingungen zu verfügen. (4) Auf andere Transformationsbemühungen beziehen sich Commons-Aktivist*innen hingegen mitunter kritisch, etwa wenn die vorgeschlagenen Mittel der Umsetzung im Widerspruch zu den jeweiligen Zielen stehen (zum Beispiel wenn sich hierarchisch organisierte politische Parteien für Commons einsetzen). Ebenso werden Ansätze und Umgangsweisen kritisiert, die die zu überwindenden Logiken – Tausch-, Verwertungs- und Geldlogik – ebenso wie Hierarchien und Zwangsverhältnisse unreflektiert reproduzieren beziehungsweise manifestieren (zum Beispiel die Reformierung des Geldsystems durch alternative Tauschwährungen wie Bitcoin).
1Nationalistische und andere Bewegungen, die primär auf den Ausschluss anderer abzielen und sich dabei ebenfalls positiv auf den Souveränitätsbegriff beziehen, sind hier explizit nicht gemeint.
5. Gemeinsam auf dem Weg in eine postkapitalistische Welt: emanzipatorisch, bedürfnisorientiert, ressourcenschonend und ohne Wachstumszwang
Eine Transformationsperspektive, die den Weg in eine Commons-Gesellschaft vordenkt, wird als Keimform-Ansatz beschrieben (vgl. Meretz 2014b). Diese Perspektive bildet insbesondere im deutschsprachigen Raum einen wichtigen Bezugspunkt. Vereinfacht gesprochen, geht es um die These, dass eine konsequente Praxis von Commons sich im Hier und Jetzt verbreiten und unter anderem aufgrund der Krisenhaftigkeit des heutigen Gesellschaftssystems dazu in der Lage sein könnte, zur gesellschaftsbestimmenden Logik zu werden. Demnach sind im heutigen Commoning die Potenziale einer Commons-Gesellschaft schon angelegt, wenn auch noch nicht voll entfaltet. Dabei finden sich Commons-Projekte immer der Gefahr ausgesetzt, vereinnahmt zu werden. Verteidigungs-, Aneignungs- und Aushandlungskämpfe von gemeinsam verwalteten Ressourcen sind notwendig, solange der hierarchische Nationalstaat und der kapitalistische Markt mit ihren jeweiligen Logiken dominant sind. Diese Kämpfe werden erfolgreicher sein, wenn sie im Kontext einer starken, gemeinsamen und vor allem emanzipatorischen Bewegung stattfinden.
Eine konkrete postkapitalistische Vision ist eine Welt, die nicht hierarchisch ist, sondern netzwerkartig über funktional differenzierte Verbindungspunkte selbstorganisiert ist und in der die individuellen Bedürfnisse aller Personen durch Commons befriedigt werden können. Diese Welt würde sich zudem durch selbstbestimmte und verantwortungsvolle Tätigkeitsverhältnisse auszeichnen, die Freude und Sinn bringen, ohne Ressourcen zu übernutzen oder Ökosysteme zu zerstören. Die Commons-Bewegung vertraut in die menschlichen Potenziale und übersetzt den Nachhaltigkeitsgedanken in die Sprache menschlicher Bedürfnisse: Es gibt ein Bedürfnis, den Planeten zu erhalten, das nur befriedigt werden kann, wenn wir unsere individuelle wie kollektive Bedürfnisbefriedigung im Einklang mit den Grenzen der Erde organisieren. Commoning ist eine konkrete Art und Weise, mit Menschen und nicht menschlicher Natur umzugehen, die nicht auf einem abstrakten Wachstumszwang aufbaut, sondern anerkennt, dass wir Menschen ein (re)produktiver Teil der Erde sind.
Commons mögen langfristig nicht alle Probleme der Welt lösen. Doch wir leben in einer endkapitalistischen Welt, in der sich Gegensätze tendenziell eher verschärfen und Konflikte immer brutaler ausgetragen werden. Da ist die Schaffung positiver Perspektiven, das Formulieren und – mehr als alles andere – das Praktizieren einer solidarischen Vision von besonderer Bedeutung. Für die Zukunft erscheint es aus Bewegungsperspektive wünschenswert, dass eine aufeinander abgestimmte Laufrichtung gefunden wird. Unter dem Stichwort Konvergenz finden derartige Allianzbildungsprozesse (an denen auch zahlreiche andere in diesem Band vertretene Strömungen beteiligt sind) statt. Gleichwohl sollten auch die inhaltlichen Auseinandersetzungen intensiviert werden, um auch strategische Fragen offen und kontrovers zu diskutieren. Nur so kann vermieden werden, dass die unterschiedlichen Strömungen unverbunden nebeneinanderstehen, und wird dafür gesorgt, eine Verbundenheit in Vielfalt entstehen zu lassen. Als gemeinsames Dach könnte sich ein emanzipatorisch verstandener, den Kapitalismus überschreitender Begriff der „sozial-ökologischen Transformation“ anbieten. Obwohl er bereits ansatzweise „vernutzt“ ist, vermag er wohl den gemeinsamen Zielhorizont der unterschiedlichen Strömungen zu fassen.
Fußnoten:
1) Das heißt auch, dass es keine abstrakte Ex-post-Vermittlung („im Nachhinein“) von Angebot und Nachfrage auf einem Markt gibt, sondern eine Ex-ante-Vermittlung („im Vorhinein“), die sich an den konkreten Bedürfnissen der involvierten Personen und nicht-menschlicher Akteur*innen wie Pflanzen ausrichtet.
2) Dies ist nicht mit einem impulsiven, „reinen“ Lustprinzip zu verwechseln. Es schließt explizit langfristige Verantwortungsübernahme und den Umgang mit den Notwendigkeiten des Lebens ein.
3) Wir sind nicht zufrieden mit der Eindeutschung des Begriffs, da er sehr männlich konnotiert ist.
4) Nationalistische und andere Bewegungen, die primär auf den Ausschluss anderer abzielen und sich dabei ebenfalls positiv auf den Souveränitätsbegriff beziehen, sind hier explizit nicht gemeint.