Wie sieht die Demokratie aus, in der du leben willst?

Arne Semsrott und ich sitzen auf einem schattigen Platz in Berlin-Kreuzberg und essen French Toast. Wir blinzeln uns aus müden Augen über den Rand unserer Kaffeetassen an. Nachdem wir uns über aktuelle Proteste, Sommerpläne und Träumereien ausgetauscht haben, kommen wir zur Sache:

Arne arbeitet für FragdenStaat, das „Portal für Informationsfreiheit“ sowie den Freiheitsfonds, der die Geldstrafen von Menschen zahlt, die wegen „Fahren ohne Fahrschein“ im Gefängnis sitzen. Er hat gerade ein Buch darüber geschrieben, was passiert, wenn Rechtsextreme die Macht übernehmen und was wir dagegen tun können. Arnes Buch Machtübernahme ist Anfang Juni erschienen. Ich will von ihm wissen welche autoritären und antidemokratischen Tendenzen er beobachtet und was ihm Sorgen bereitet.

Ob unsere Demokratie auch in Deutschland bedroht ist, steht schon länger zur Diskussion. Im Demokratieindex der britischen Zeitschrift The Economist wird Deutschland zwar seit Jahren als „vollständige Demokratie“ gelistet und schneidet im globalen Vergleich gut ab. Trotzdem fragt man sich auch hier zu Lande, wie es um eine Demokratie bestellt ist, deren Bundeskanzler in den CumEx-Skandal verwickelt ist, in der der Mietenvolksentscheid in der Hauptstadt so offensichtlich verschleppt wird und nur ein paar Kilometer weiter ein Mann in Hochgeschwindigkeit seine Elektroautofabrik hochziehen kann, unter Umgehung ökologischer und arbeitsrechtlicher Richtlinien.
Für Arne stellt vor allem die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) Ende letzten Jahres einen Angriff auf demokratische Grundwerte dar. Möglich werden dadurch unter anderem Abschiebungen in unsichere Drittstaaten, dass Kinder in Grenzverfahren kommen und damit de facto inhaftiert werden können und, dass EU-Staaten Geld an außereuropäische Drittstaaten zahlen können, statt Geflüchtete aufzunehmen. Das ist ein sozialer Kipppunkt: eine Normalisierung der Ausgrenzung von Menschen, die – einmal eingetreten – kaum wieder rückgängig zu machen ist. Es ist auch der Erfolg der Rechten in der Diskursverschiebung um das Asylrecht, meint Arne wütend.
Ein anderes Beispiel sei die Genderdebatte, fügt er hinzu. Im Grunde genommen ist die Frage, welche Sprech- und Schreibweisen in der Gesellschaft vorherrschend sind, eine kulturelle Aushandlung. In einigen Bundesländern wie Bayern, Hessen oder Sachsen wurde nun aber von staatlicher Seite festgelegt, dass in öffentlichen Einrichtungen nicht „gegendert“ werden darf. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Entscheidungen autoritär von oben gefällt werden, statt deutlich mehr Menschen sprachlich einzubeziehen.
Zu unguter Letzt sind die derzeitigen Umfragewerte der AfD überaus Besorgnis erregend. Eine Woche nachdem Arne und ich in Kreuzberg French Toast gegessen haben, wurden in Sachsen sogar Menschen, die Wahlplakate für demokratische Parteien aufgehängt haben, von rechten Schlägern angegriffen. Ein SPD-Politiker wurde schwer verletzt.
Arne erklärt diese hochgradig demokratiegefährdende Lage damit, dass die etablierten politischen Akteure in den vergangenen Jahren nur unzureichende Antworten auf die multiplen Krisen gefunden haben. Sie sind so offensichtliche damit überfordert, die notwendige Transformation zu gestalten, weg von einem System, das uns der Lebensgrundlagen beraubt. Stattdessen wird an alten Lösungen festgehalten, die sehr wenigen sehr große Privilegien gebracht haben. Trotzdem wird so getan, als hätte man alles im Griff!

Wie sähe denn die Demokratie aus, in der du leben willst, für die du kämpfst, frage ich Arne. Er braucht einen Moment bevor er gedanklich von unserer dystopischen Gegenwart in eine utopische Zukunft wechseln kann. „Auf jeden Fall sind die Grenzen dort offen und es sterben nicht mehr tausende Menschen im Mittelmeer. Außerdem gibt es dort eine menschenwürdige Grundsicherung und keinen Arbeitszwang mehr. Der heutige Überreichtum einiger Weniger wurde als das erkannt, was er ist – strukturelle Gewalt – und durch sehr starke Besteuerung und Enteignung umverteilt. Wir würden so leben, dass unsere natürliche Lebensgrundlage regenerieren kann, statt weiterhin so übermäßig viel Ressourcen zu verbrauchen und Verschmutzung zu erzeugen. Es gäbe öffentliche und kostenlose Bildung, Gesundheitsversorgung und Mobilität, statt immer weitere Privatisierungen und Sparmaßnahmen in diesen Bereichen.“ Darüber wird aber wenig geredet, stellt Arne nachdenklich fest. Eine Welt, die menschenwürdig, gerecht und ökologisch verträglich ist, erscheint den meisten so unrealistisch, dass sie sich nicht einmal erlauben, von ihr zu träumen, geschweige denn für sie einzutreten. Dem kann ich aus eigener Erfahrung nur zustimmen. Aber ich kann eines meiner Lieblingszitate der großartigen Schriftstellerin Ursula Le Guin aus der Tasche ziehen, um dem etwas entgegenzusetzen: „We live in capitalism, its power seems inescapable – but then, so did the divine right of kings.“ Also: Die Macht des Kapitalismus scheint unausweichlich – wie einst die gottgegebene Herrschaft der Könige. Arne lacht. Ja, manchmal hilft es, einen Schritt – oder ein paar Jahrhunderte – zurück zu treten und das große Ganze zu betrachten.
Die Welt wird nicht so bleiben, wie sie ist, denn Veränderung wird es immer geben. Daher: Welche Veränderung wollen wir? Und was können wir dafür tun, dass sie eintritt? Das will ich zum Schluss von Arne wissen. „Da gibt es viele verschiedene Möglichkeiten: einige realpolitischer Natur, wie zum Beispiel Kapitaleinkünfte und Vermögen wie Einkommen zu besteuern oder schutzsuchenden Menschen und marginalisierten Gruppen Möglichkeitsräume zu schaffen, statt sie auszuschließen.“ Wir können uns auf den worst case vorbereiten und solidarische Netze knüpfen, schlägt Arne vor. Wen rufen wir an, wenn die AfD bei den Landtagswahlen im September so viele Stimmanteile bekommt, wie die Umfragewerte befürchten lassen? Wen unterstützen wir, weil für sie oder ihn eine rechte Regierung noch viel schlimmere Konsequenzen hätte als für uns? Es lohnt sich, sich immer mal wieder zu fragen, wie man sein Wissen und die eigene Erfahrung einbringen kann, um Teil des Wandels zu sein. Im Zweifelsfall heißt das vielleicht einen bullshit job zu kündigen oder Lohnarbeitszeit zu verkürzen, um mehr Sorgearbeit im eigenen Umfeld übernehmen zu können und vielleicht von weniger Geld, aber in stabileren sozialen Netzen zu leben.
Es gibt schon viele Menschen, die nicht mehr auf die Politik warten, um die Veränderung, die sie sich wünschen, herbeizuführen. Beispielsweise die, die sich beim Freiheitsfonds engagieren und sich dafür einsetzen, dass der Straftatbestand der „Beförderungserschleichung“ abgeschafft wird. Ein anderes Beispiel ist der Verein Sanktionsfrei, der Menschen, die vom Jobcenter unter Druck gesetzt werden und behördliche Willkür erleben, finanzielle und juristische Unterstützung bietet. Damit und mit Kampagnen setzt sich Sanktionsfrei für eine menschenwürdige Grundsicherung ein. Wir können uns auch von den Menschen inspirieren lassen, die sich in der zivile Seenotrettung einbringen: SOS Méditerranée, Sea Watch, Sea Punks oder Mission Lifeline retten im Mittelmeer Menschen vor dem Ertrinken. Alle diese Wir-fangen-schon-mal-an-Organisationen kann man mit Spenden unterstützen.
Am wichtigsten ist und bleibt das eigene politische Engagement. Die Welt verändert sich nur dann zum besseren, wenn wir uns darum kümmern.

Der Toast ist gegessen, der Kaffee ausgetrunken und die nächsten Termine stehen an. Ich will einen mutmachenden Abschluss für das Gespräch finden und komme wieder auf Ursula Le Guin. „Mein derzeitiges Lieblingszitat“ grinse ich Arne verschwörerisch an, als ich ihm eine Karte zuschiebe: „How we play is what we win.“

Dieser Text ist erstmals ist in der Rubrik „Zukunft für alle“ in der Agora42 03/2024, einem philosophischen Wirtschaftsmagazin, erschienen.

Autor*in
Foto von Mascha Schädlich

Mascha Schädlich (sie)

erschien in der Agora42 03/2023

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