Der Versuch, praktisch etwas im Gesundheitssystem zu verändern

Ein Interview mit der Poliklinik Leipzig

Von Mia Smettan

19. August 2020

 

Die Poliklinik Leipzig ist ein Modellprojekt für ein neues solidarisches Gesundheitswesen, unter dem Motto „Weil alle Menschen das Recht auf Gesundheit haben.“ Mit Jonas Löwenberg und Luise Sachs von der Poliklinik Leipzig haben wir über die Umsetzung des Projektes gesprochen.

Seit dem Ausbruch des Coronavirus Anfang dieses Jahres wird mehr denn je über die Missstände im deutschen Gesundheitssystem gesprochen. Verändert hat sich seitdem nichts Grundlegendes.

Ist ein anderes, ein solidarisches Gesundheitswesen denkbar?

Ja, sagen Jonas Löwenberg und Luise Sachs von der Poliklinik Leipzig. Die Poliklinik ist ein Stadtteil-Gesundheitszentrum, in dem die Anwohner*innen des Viertels sowohl medizinische Versorgung als auch psychosoziale Beratung bekommen können. Gesundheit wird hier ganzheitlich betrachtet. Denn Gesundheit ist mehr als Medizin. Körperliches und seelisches Wohlbefinden hängen maßgeblich mit sozialen und ökonomischen Faktoren wie Wohnen, Einkommen, Mobilität, Diskriminierung und Umwelteinflüssen zusammen. Die jüngste Studie des Robert-Koch-Instituts zeigt, dass Menschen die über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügen, eine deutlich geringere Lebenserwartung haben. Armut ist ein Gesundheitsrisiko und die Zahl der Menschen, die von Armut betroffen sind steigt in Deutschland

Die Bedarfe der Anwohner*innen ins Zentrum stellen

Das Verständnis einer sozial determinierten Gesundheit ist der Ausgangspunkt der Gründung der Poliklinik-Initiative in Leipzig vor drei Jahren. Nach zwei Jahren der Vorbereitung stehen die Türen der Poliklinik im Leipziger Stadtteil Schönefeld nun offen für Patient*innen, Klient*innen und Interessierte. Die feierliche Eröffnung im März musste auf Grund der Corona-Maßnahmen verschoben werden, doch seit Anfang Juni können die Angebote unter Einschränkungen stattfinden.
Das Stadtteilgesundheitszentrum ermöglicht die Vernetzung zwischen den Bewohner*innen des Viertels und bietet Angebote für Unterstützung in diversen Lebensbereichen. Dafür besteht das Team der Poliklinik sowohl aus Ärzt*innen, Ergotherapeut*innen, als auch aus Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen.

„Die WHO hat schon Mitte der achtziger Jahre Strategien für die Gesundheitsförderung unter Berücksichtigung der sozialen Faktoren aufgestellt“, sagt Jonas Löwenberg, „doch das deutsche Gesundheitssystem ist in dieser Hinsicht noch weit hinterher“. Die Poliklinik ist in Schönefeld angesiedelt, einem Leipziger Stadtteil mit überdurchschnittlicher Jugendarbeitslosigkeit und einem hohen Anteil an Sozialhilfeempfänger*innen. Gleichzeitig gibt es eine gute soziale Infrastruktur im Viertel. „Wir machen hier keine Pionierarbeit. Aber wir glauben, jedes Viertel Leipzigs kann eine Poliklinik gebrauchen,“ so Jonas Löwenberg. Luise Sachs meint dazu: „Wir wollen herausfinden, was genau die Bewohner*innen im Kiez brauchen und unser Angebot danach ausrichten“.

Die Bedarfe der Anwohner*innen ins Zentrum zu stellen ist das Kernanliegen der Poliklinik. So macht es auch die Poliklinik Veddel in Hamburg, die es bereits seit drei Jahren gibt. In den Sprechzeiten der Ärzt*innen fiel auf, dass viele Patient*innen gesundheitliche Beschwerden auf Grund von Schimmel in ihren Wohnungen hatten. Prekäre Wohnverhältnisse waren also Ursache von Krankheiten. Daraufhin gründeten die Bewohner*innen der Veddel eine Stadtteilinitiative für bessere Wohnverhältnisse und trafen sich in den Räumen der Poliklinik. Auch in den Räumen der Poliklinik Leipzig trifft sich bereits die Mietergemeinschaft Schönefelder Höfe, um sich gegen Mietsteigung zu wehren. Polikliniken sind Orte der Vernetzung, die eine medizinische und soziale Verbesserung der Lebensqualität im Viertel ermöglichen.

„Gesundheit wird hier ganzheitlich betrachtet. Denn Gesundheit ist mehr als Medizin. Körperliches und seelisches Wohlbefinden hängen maßgeblich mit sozialen und ökonomischen Faktoren wie Wohnen, Einkommen, Mobilität, Diskriminierung und Umwelteinflüssen zusammen.“

In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?

Die Idee der Polikliniken ist nicht neu und sie existiert nicht nur in Leipzig. Zwei Polikliniken gibt es bisher in Deutschland, drei weitere sind in Gründung. Gemeinsam haben sie das Poliklinik Syndikat gegründet, welchen sich neben der täglichen Arbeit für eine grundsätzliche Veränderung im Gesundheitswesen einsetzt. Die Poliklinik Leipzig und das Poliklinik Syndikat sind „der Versuch etwas im Gesundheitssystem zu verändern“, sagen Luise Sachs und Jonas Löwenberg. Ein solidarisches Gesundheitssystem wird durch die Polikliniken gelebte Realität. Neben ihrer täglichen Arbeit ist es den Aktiven zusätzlich wichtig, den Zusammenhang von Gesundheit und sozialen Faktoren hervorzuheben und Missstände im Gesundheitswesen öffentlich anzusprechen. So sagt Luise Sachs: „Wir müssen weg von der Profitorientierung des Gesundheitssystems in Form von Fallpauschalen und Privatisierung. Diese führt zu Personalmangel, Zeitknappheit und vorzeitigen Entlassungen.“ Sie fordert die Abschaffung des Zwei-Klassen-Krankenversicherungssystem. „Gesundheit muss unabhängig von der Krankenversicherung sein, denn jeder Mensch hat das Recht auf eine umfassende Versorgung“. Außerdem gilt es, die ungleiche Wertschätzung zwischen den Berufsgruppen abzuschaffen, so Luise Sachs „Ärztinnen werden weit besser bezahlt als Sozialarbeiter*innen und Pfleger*innen. Begreifen wir Gesundheit jedoch als ganzheitlich, sind alle beteiligten Berufsgruppen wichtig für die gesundheitliche Versorgung. In der Poliklinik werden die Löhne daher zukünftig unabhängig vom Berufsstand verhandelt.“

Jonas sieht Parallelen zwischen Klima- und Gesundheitspolitik. In einigen deutschen Städten gibt es seit kurzem Klimaräte, die politische Entscheidungen auf ihre Klimafreundlichkeit evaluieren und eigene Vorschläge für eine klimagerechte Zukunft entwickeln. Jede einzelne Entscheidung, die getroffen wird, muss die Auswirkungen hinsichtlich CO2-Ausstoss berücksichtigen und umweltfreundlich sein. Gleichermaßen müssten wir uns fragen: „Schaden die politischen Entscheidungen, die getroffen werden, unserer Gesundheit?“ In Bezug auf Kohlekraftwerke wissen wir, dass sie sowohl dem Klima als auch den Anwohner*innen schaden. Hier stellt sich die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? In einer, die Profite und Wirtschaftswachstum ins Zentrum stellt oder in einer, in der Gesundheit und Umwelt der Ausgangspunkt politischer Entscheidungen sind? Jonas Löwenberg sagt dazu: „Es geht nicht nur darum, dass man nicht krank sein soll, sondern auch darum, ob unsere Gesellschaft eine sozial gerechte und gesunde ist“. Die Polikliniken leisten dafür beeindruckende Arbeit. Sie prangern nicht nur die aktuellen Lücken und ungleichen Zugangsvoraussetzungen zu Gesundheitsversorgung öffentlich an, sondern zeigen auch ganz praktisch: Es geht anders!

Mia Smettan arbeitet im Konzeptwerk zu Care-Themen und in der Öffentlichkeitsarbeit

Poliklinik - Solidarisches Gesundheitszentrum Leipzig e.V.

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