Janina Henkes, Teresa Bücker, Charlotte Hitzfelder und Parwaneh Mirassan stehen nebeneinander vor dem Banner des Konzeptwerks

Freie Zeit darf kein Luxus sein

Nachbericht zur Veranstaltung „Keine Zeit?! – Wie wir Zeit und Arbeit gerechter verteilen können“

Der Saal war gut gefüllt, rund 200 Personen waren am 19. Oktober unserer Einladung gefolgt und fanden sich gegen 19 Uhr in der Konsumzentrale im Leipziger Westen ein. Mit den Jüngsten, liegend im Kinderwagen, den Ältesten bereits dem Lohnarbeitsende entgegenblickend, war es eine bunte Mischung an Gästen.

Auf dem Podium begrüßte Charlotte Hitzfelder, im Konzeptwerk zuständig für die Gesamtkoordination und Teil des Care-Teams, die Journalistin und Autorin Teresa Bücker, Janina Henkes (Referent*in für Frauen-, Gleichstellungs-, Geschlechterpolitik der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) und Parwaneh Mirassan, Teil des Teams Öffentlichkeitsarbeit im Konzeptwerk.

Wer hat denn noch Zeit?
Nach einigen Fragen an das Publikum zum Warmwerden (z. B. Wer im Saal arbeitet eigentlich mehr als 60 Stunden?), begann das Gespräch auf dem Podium und geriet ohne Umschweife direkt in die Tiefe. Teresa fragte: „Wer hat überhaupt noch Zeit, unsere Gesellschaft mitzugestalten? Und bedeutet Demokratie nicht, die Möglichkeit, mitzumachen?“ Janina betonte die ungerechte Verteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit, die sich nicht zuletzt in einem Gender-Pay-Gap von 18 % niederschlage. Das heißt, Frauen verdienen 18 % weniger pro Stunde als Männer. Der Gender-Care-Gap beträgt 52 %, der Gender-Pension-Gap in Deutschland liegt sogar bei 59,6 %. Ändert sich nicht schleunigst etwas Grundlegendes, drohe eine umfassende Altersarmut.
Das Podium war sich einig, eine kollektive Arbeitszeitverkürzung ist der Grundstein für mehr Zeitgerechtigkeit. Wie die persönliche Zeit neu aufgeteilt werden könnte, dazu geben beispielsweise Frigga Haug mit ihrer 4-in-1-Perspektive oder das Optionszeiten-Modell von Karin Jurczyk und Ulrich Mückenberger neue Perspektiven. Wichtig ist den Sprecher*innen: Die Erwerbsarbeit als zentraler Ausgangspunkt gehört abgelöst. Freie Zeit darf kein Luxus sein und dafür müssen diese Bereiche (re)politisiert werden.

Wie fühlt sich gerechtere Arbeitsteilung an?
Lohnarbeit im Konzeptwerk ist gemessen am aktuellen Status quo bereits utopisch: Parwaneh berichtete über unser Modell der kurzen Vollzeit von 20 bis 30 Stunden in einer 4-Tage-Woche, bei der sich die Menschen ihre tägliche Arbeit freier einteilen können. Das mache sie flexibler und die Sorge um Kinder oder Haustiere werde erleichtert. Auch darüber hinaus sieht der Arbeitsalltag im Konzeptwerk anders aus: geputzt und gekocht wird abwechselnd von allen für alle und es gibt keine Chef*innen. Aber herausfordernd bleibe es, bei viel Arbeit, das eigene Pensum nicht zu verdichten.
Gesamtgesellschaftlich stellt das Modell des Konzeptwerks noch eine Ausnahme dar. Die Regelungen in der Arbeits- und Familienpolitik sind darauf ausgerichtet, dass Menschen möglichst schnell in die Erwerbsarbeit kommen oder zurückkehren. Dabei muss es aus Sicht von Janina weniger um eine Vereinbarkeit der beiden Sphären als vielmehr um eine Umverteilung von Zeit gehen: „Lasst uns die Arbeit auf viele Schultern verteilen.“

Was blockiert den Wandel?
Viele Arbeitgeber*innen fürchten die Kosten einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Für Teresa greift dieser Blick aufs Finanzielle zu kurz. Bereits heute reichen die Angebote an Kinderbetreuung und Pflege nicht aus. Die Hauptlast schultern die Familien. Der demografische Wandel in Deutschland wird die Situation verschärfen. Wenn sich nicht schnell gesellschaftlich und politisch etwas ändert, werden Frauen und queere Personen zukünftig noch mehr Care-Arbeit leisten oder die Qualität in der Pflege weiter abnehmen.
Charlotte fasste zusammen, dass alle von einer Umverteilung von Arbeit profitieren würden. Aus Sicht des Konzeptwerks gibt es bereits heute ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Journalist*innen und NGO, die sich für eine kollektive Arbeitszeitverkürzung starkmachen.
Teresa bestätigte: „Wir sind bereits viele.“ Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung sprechen sich 81 % der Vollzeitbeschäftigten für eine 4-Tage-Woche aus. Die IG Metall, die GEW, auch die Kirchen sprechen sich dafür aus.
Allerdings wird aus der Politik hier wenig Verbindung gesucht. Ein geplantes neues Gesetz, das ab 2024 vorsieht, dass eine zweiwöchige bezahlte Freistellung nach der Geburt auch für Partner*innen gilt, ist alles andere als ein Meilenstein in Sachen Gleichberechtigung. Die FDP stellt sich selbst diesem Vorschlag entgegen.
Sogar auf Seiten der Unternehmen tut sich viel. Zwar gibt es hier ein breites Spektrum, einige fragen nach der finanziellen Machbarkeit, doch viele wollen Erwerbsarbeit attraktiver gestalten, nicht zuletzt um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Untersuchungen zeigen, dass mit weniger Lohnarbeit das gesundheitliche Wohlbefinden steigt und die Burn-out-Raten sinken. Janina untermauerte, dass bei kürzerer Arbeit die Effizienz steige und weniger Fehler passieren. Arbeitnehmer*innen bleiben gesünder, Arbeitsausfälle und Invalidenrenten gehen zurück. Die Hälfte der neuen Pflegekräfte geht nach acht Jahren in Teilzeit oder wechselt den Job. Das sind alarmierende Zahlen.

Was tun?
Neben der ganz persönlichen Aushandlung von „Wie viel möchte ich arbeiten?“, stehen Bündnisse nach kollektiver Arbeitszeitverkürzung für Parwaneh im Vordergrund. Außerdem: auf Demos gehen, in eine Gewerkschaft eintreten und das Dossier des Konzeptwerks zum Thema lesen!
Für Teresa stehen Reden und Wissen vermitteln an erster Stelle. Wir müssen wegkommen von der Debatte „die Wirtschaft bricht zusammen“. Nicht nur die junge Generation möchte ihr Leben außerhalb der Lohnarbeit genießen, auch Ältere gehen aus diesem Grund in Altersteilzeit und begreifen die Bedeutung von Zeitwohlstand.
Teresa kann sich gut vorstellen, mit Verbündeten einen feministischen Streik anzuzetteln. Ihrer Ansicht nach braucht es solche großen öffentlichen Interventionen, um mehr Druck auf die Politiker*innen auszuüben.
Außerdem sollten die linken Parteien ihrer Meinung nach mal nachfragen, wie es mit dem Ziel der Geschlechtergleichstellung im Koalitionsvertrag eigentlich aussieht.

Auch die anschließende Diskussion mit Anmerkungen und Fragen aus dem Publikum wies in diese Richtung. Wir müssen bereits bestehende Bündnisse stärken und neue Allianzen bilden.

Das Konzeptwerk sieht seine Aufgabe weiterhin im Vernetzen und Zusammenbringen unterschiedlicher Akteur*innen. Auch zukünftig werden wir Räume schaffen, in denen wir uns gegenseitig stärken und konkrete Maßnahmen umsetzen.

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Die Veranstaltung wurde gefördert vom Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung (SMJusDEG).

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