Ist Klimagerechtigkeit wählbar?
Ein Interview mit den Autoren der Wahlprogrammanalyse
25. August 2021
Unter dem Titel „Ist Klimagerechtigkeit wählbar – eine Wahlprogrammanalyse“ hat das Konzeptwerk Neue Ökonomie die Wahlprogramme der fünf großen demokratischen Parteien aus einer Klimagerechtigkeits-Perspektive untersucht. Die Analyse ist keine Wahlempfehlung für eine bestimmte Partei, auch wenn sie natürlich für die eigene Wahlentscheidung genutzt werden kann. Wir wollen stattdessen zeigen, welche politischen Maßnahmen für eine klimagerechte Gesellschaft notwendig wären und wie groß der Unterschied zu dem ist, was in Deutschland als „Klimapolitik“ diskutiert wird.
• Ist Klimagerechtigkeit im Superwahljahr wählbar?
Wir kommen in der Analyse zu dem Schluss: Klimagerechtigkeit ist nicht wählbar – Klimazerstörung hingegen schon! Denn Klimagerechtigkeit ist nichts, was Parteien mit den richtigen Maßnahmen einfach umsetzen. Für eine klimagerechte Gesellschaft braucht es den Einsatz von allen und zwar nicht nur als Wählenden, sondern als Menschen, die sich mit ganzem Herzen und in sehr vielen gesellschaftlichen Teilbereichen für eine demokratische, soziale und ökologische Gesellschaft einsetzen. Aber obwohl die Parteien durch Gesetze und Maßnahmen den Weg in eine gerechte und ökologische Zukunft für alle ebnen könnten, steht eine ausreichende und zukunftsfähige Klimapolitik nicht zur Wahl. Denn aus einer Perspektive, die a) die Klimawissenschaften und Emissionsbudgets ernst nimmt, die sich b) am Maßstab globaler Klimagerechtigkeit orientiert und die c) entsprechend eine sehr umfassende sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft für notwendig hält, wird deutlich: Auch die aus Sicht der Klimagerechtigkeit weitgehendsten Wahlprogramme (Grüne und Linke) haben zwar in Teilen ambitionierte Ziele, aber auch zahlreiche Leerstellen, was die dafür notwendigen Maßnahmen angeht.
• Macht es dann überhaupt einen Unterschied, welche Partei gewählt wird?
Ja, die klimapolitischen Unterschiede zwischen den Programmen sind groß und deshalb ist es fürs Klima relevant, wer die nächste Bundesregierung stellt. Da sind auf der einen Seite die FDP und CDU/CSU, die am Status Quo festhalten und mit ein paar Anpassungen des Marktes Klimaschutz quasi nebenbei erreichen wollen und auf der anderen Seite die Grünen und die Linke, die Klimazerstörung als zentrale Herausforderung ernst nehmen und entsprechende Politik vorschlagen. Erstere im Rahmen einer ökologischen Modernisierung, zweitere durch eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaft. Das Wählen dieser progressiveren Parteien birgt zumindest die Hoffnung, dass effektive Klimapolitik umgesetzt wird und die Regierung die Klimakrise nicht weiter sehenden Blickes akzeptiert und Wachstumszielen unterordnet.
• Gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen den Programmen?
In der Analyse der Programme wird ziemlich klar, wie der klimapolitische Mainstream aussieht. Mit Ausnahme der Linken ist der Plan bei allen Parteien in erster Linie: Klima und Wirtschaft durch Technik zu versöhnen, das heißt z.B. elektrische Pkw, Elektrifizierung und Wasserstoff marktkonform fördern und ausbauen und sich damit im internationalen Wettbewerb durchsetzen– die Verheißung des grünen Wachstums, bei dem alle gewinnen. Dabei werden wissenschaftliche Analysen über die Unvereinbarkeit von Wachstum und effektiver Klimapolitik und die Auslagerung der sozialen und ökologischen Kosten von „grünem Wachstum“ in den globalen Süden völlig ignoriert. Was fehlt sind Maßnahmen, die ein „Weniger“ zum Ziel haben – sei es beim Rückbau der Automobilindustrie oder dem Konsum. Dafür braucht es tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen und Maßnahmen, die gegebenenfalls auch gegen Wirtschaftsinteressen durchgesetzt werden. Stattdessen soll Klimapolitik also Wohlfühlprogramm bleiben.
• Wie sähe denn ein klimagerechtes Wahlprogramm aus?
Ein klimagerechtes Programm müsste sich an dem Budget orientieren, das Deutschland noch bleibt, um einen fairen Beitrag zur Einhaltung der 1,5°-Grenze zu leisten. Dieses Budget ist mittlerweile so klein, dass wir es bis 2023, spätestens 2026 aufgebraucht haben, wenn wir so weiter emittieren wie bisher. Außerdem müsste im Programm klar werden, dass Umweltprobleme und soziale Fragen nicht getrennt voneinander gelöst werden können, sondern dass es einen grundlegenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel braucht, der weit über technische Lösungen hinausgeht. Und so ein Programm müsste ambitionierte Ziele nennen und entsprechende Maßnahmen möglichst konkret ausbuchstabieren. Wie einige zentrale Ziele aussehen und welche Maßnahmen das sein könnten, haben wir für die Sektoren Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr und Landwirtschaft als Kriterien benannt, an denen wir dann die Programme bemessen haben.
CO2-Budgets im Vergleich: Einerseits verbleibende Budgets laut SRU (grün), andererseits die Budgets, die die Parteien in ihren Wahlprogrammen bis zur vollständigen Dekarbonisierung vorsehen.
• Aber sind die von euch beschriebenen Maßnahmen nicht viel zu einschneidend für die Menschen?
In einer sozial-ökologischen Transformation gibt es viel zu gewinnen, nicht zuletzt, dass wir die Klimakrise und damit dramatische Veränderungen der Umwelt und damit zusammenhängende extreme soziale Verwerfungen abmildern können. Aber auch die Demokratisierung der Gesellschaft, eine Verkürzung der Lohnarbeitszeit, eine Aufwertung von Sorgearbeit, eine bessere materielle Absicherung und fairere Handelsregeln würden den Menschen weltweit spürbar zu Gute kommen. Die Klimakrise zwingt uns, die Art unseres Wirtschaftens grundlegend zu hinterfragen. Und die beruht eben nicht nur auf der Ausbeutung der Umwelt, sondern auch von Menschen. Wir sind fest davon überzeugt: wenn wir uns zusammen als politische Menschen und nicht nur als Konsument*innen oder Wähler*innen für eine bessere Gesellschaft einsetzen, dann können wir den Rahmen dessen erweitern, was möglich ist.
Kurzfazit der Wahlprogrammanalyse
Die Programme von CDU/CSU und FDP sehen keine wesentlichen Veränderungen vor und setzen auf Marktkräfte und eine „entfesselte“ Wirtschaft. Die Klimakrise sowie soziale Probleme sollen nebenbei durch Marktmechanismen und Technologie gelöst werden.
Die Grünen setzen mit der sozial-ökologischen Marktwirtschaft auf grünes Wachstum, mit zum Teil klaren Vorstellungen der notwendigen Maßnahmen und dem Einbezug sozialer Belange. Das Programm geht aber nicht über klassische Ideen einer ökologischen Modernisierung hinaus und hängt letztendlich an den illusorischen Versprechungen eines „grünen“ Kapitalismus.
Die SPD hält im Wesentlichen am Bestehenden fest – es gibt keine Offenheit z.B. für allgemeine Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung von Arbeit, obwohl dies sozialdemokratische Kernpositionen fürs 21. Jahrhundert sein könnten. Darüber hinaus gibt es viele unverbindliche Absichtserklärungen für wichtige Veränderungen, doch die Maßnahmen sind ungenügend und unkonkret.
Die Linke will eine grundlegende Veränderung der wachstums- und profitorientierten Gesellschaftsstrukturen. An vielen Stellen nimmt das Programm Forderungen für globale Klimagerechtigkeit auf, es fehlen aber manchmal ausreichend konkrete Maßnahmen. Außerdem wird das Dilemma zwischen dem angestrebten Erhalt aller Industriearbeitsplätze und dem notwendigen industriellen Rückbau nicht gelöst.
Über die Autoren:
Kai Kuhnhenn
arbeitet am Projekt „Zukunft für alle“ und beschäftigt sich mit Wirtschaftswachstum als blindem Fleck der Klimapolitik und Klimawissenschaft.
Matthias Schmelzer
arbeitet u.a. im Konzeptwerk zu gesellschaftlichen Utopien und Degrowth. Er ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Jena, lehrt an der Uni Zürich und schreibt wissenschaftliche und journalistische Texte.
Lasse Thiele
ist Politikwissenschaftler und spezialisiert auf die Kritik des „grünen“ Kapitalismus. Er ist seit langem aktiv in der Klimagerechtigkeitsbewegung und entwickelt auch in seiner Arbeit im Konzeptwerk inhaltliche und strategische Ansatzpunkte für eine sozial-ökologische Transformation.
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