Kollektive Freiheit für alle statt eine unsolidarische Freiheit für Wenige

Es ist gar nicht leicht, aus einer sozial-ökologischen Perspektive über Freiheit zu schreiben. Für mich ist dieser Begriff, seit ich politisch denken kann, vollkommen von neoliberaler Seite vereinnahmt. Diese FDP-Freiheit erschreckt mich.
Eine Freiheit, in der jede*r an sich denkt – und dann ist an alle gedacht? Eine Freiheit, die die eklatante Ungleichheit der Möglichkeiten von Menschen ignoriert, die sich aus ihrem Geschlecht, ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer geografischen und gesellschaftlichen Herkunft ergibt? Eine Freiheit, die propagiert, dass mit genug Leistungswille, jede*r vom Tellerwäscher zum Millionär werden kann? Die Freiheit auf der Autobahn zu rasen und rassistische Sprache zu nutzen? Also die Freiheit anderen zu schaden?

Außer einem entfesseltem kapitalistischen Wirtschaftssystem, das auf (Selbst-)Ausbeutung beruht, hat diese Freiheit bisher nur den wenigen sehr Reichen und Besitzenden, die von diesem Wirtschaftssystem profitieren, genutzt. Für alle anderen bedeutet diese Freiheit nur ein anderes Wort für Konkurrenzkampf, Abstiegsängste und Ausbeutung.

Aber welche Freiheit können wir meinen, wenn wir nicht die unsolidarische Freiheit für die Wenigen meinen? Wie sähe eine Freiheit für alle aus? Eine Freiheit, die die Verantwortung, die wir für einander als Teil einer Gemeinschaft tragen, ernst nimmt? Eine Freiheit, die die ökologischen Grenzen respektiert? Eine Freiheit, in der die Bedürfnisse der 99 Prozent im Vordergrund stehen und nicht die individuelle Freiheit zur uneingeschränkten Selbstverwirklichung der happy few?

Diese wünschenswerte kollektive Freiheit in einer Zukunft für alle zeichnet sich durch eine Befreiung von zeitlichen, hierarchischen und Leistungszwängen aus.
Es geht ihr nicht darum, sich davon zu befreien, in eine Gemeinschaft eingebunden zu sein und der damit einhergehenden Verantwortung füreinander nachzukommen. Vielmehr geht es der kollektiven Freiheit, um eine Befreiung von ökonomischen Zwängen, um dieser Verantwortung überhaupt gerecht werden zu können. Die Befreiung vom Zwang einer 40-Stunden-Lohnarbeitswoche durch kollektive Arbeitszeitverkürzung und eine Grundsicherung, die diesen Namen verdient, ermöglicht uns die Freiheit, über unsere Zeit selbst zu bestimmen. Selbstbestimmte Zeit ist die Grundbedingung, um in Zeitwohlstand leben zu können. In einer Gesellschaft, die von immer atemloserer sozialer, technischer und beruflicher Beschleunigung betroffen ist, deren Symptome Stress und steigende Burnout-Zahlen sind, ist Zeitwohlstand das Gegengift. Und Arbeitskampf ist der Weg dorthin. Denn die Freiheit, unser Leben zu leben wie wir es wollen und für einander da sein zu können, ist vor allem die Freiheit, zu entscheiden womit wir unsere Zeit verbringen wollen.

Der Kampf darum, frei zu sein von hierarchischen Zwängen, ist ein uralter. Pirat*innen, Revolutionär*innen und Feminist*innen sind nur die bekannteren Sozialfiguren, die seit Jahrhunderten Befreiungskämpfe führen. Im Kleinen finden diese in fast jeder Familie statt, sobald die Kinder gegen ihre Eltern rebellieren, und werden von Arbeiter*innen ausgefochten, wenn sie mehr Respekt, mehr Lohn, mehr Mitbestimmung fordern. Die Freiheit der Besitzenden zu investieren, umzustrukturieren und zu entlassen wann und wen sie wollen, ist die Unfreiheit derjenigen, die nur ihre Arbeitskraft haben und die in den Worten von Karl Marx „doppelt frei“ sind: frei von den Produktionsmitteln, um selbst aus ihrer Arbeitskraft Nutzen zu ziehen, und frei, diese Arbeitskraft an jene zu verkaufen, die diese Produktionsmittel tatsächlich besitzen und Nutzen aus der Arbeit anderer ziehen zu können. Aber selbst die Freiheit dieser Kapitalist*innen ist eingeschränkt durch die Systemzwänge des Kapitalismus, durch Konkurrenzkämpfe und Wachstumszwänge. Auch diesen Zwängen lässt sich individuell nur begrenzt etwas entgegensetzen.
Stattdessen könnten wir basisdemokratische Organisationsformen entwickeln, also Freiräume, Inseln innerhalb dieser Welt von Zwängen. Beispielsweise, indem wir mit rotierenden Rollen, machtkritischen Auseinandersetzungen, bedürfnisorientierter Bezahlung und guter Moderation eine andere Art des miteinander Arbeitens und Wirtschaftens vorwegnehmen und ihre Möglichkeit, Herausforderungen und Grenzen aufzeigen, so wie das zum Beispiel im Konzeptwerk Neue Ökonomie geschieht.

Zu guter Letzt, wie kann eine kollektive Freiheit als eine kollektive Befreiung von Leistungszwängen in einer Zukunft für alle aussehen?
Leistungszwänge sind in unsere Gesellschaft unheimlich tief verankert und werden mittlerweile auf eine perverse Spitze getrieben, wenn Menschen zur Arbeit gehen, obwohl sie krank sind, ihre körperlichen Grenzen weit überschreiten, um Schönheitsnormen gerecht zu werden oder Erwartungen in der Schule, im Studium oder am Arbeitsplatz gestellt sind, die schon rein zeitlich nicht mehr zu erfüllen sind. Wir leiden unter diesen Leistungszwängen so sehr wie unter wenig anderem – wir rebellieren aber erstaunlich wenig dagegen. Das Phänomen silent quitting ist eine solche Rebellion, nur ist sie eben sehr silent. Diese Form des Widerstands entspricht dem „I would prefer not to“ der Schreibkraft aus Herman Melvilles Kurzgeschichte Bartleby the Scrivener von 1853. Bartleby verweigert ohne Angabe von Gründen die ihm gestellten Aufgaben in einem Anwaltsbüro. Das Projekt „Haus Bartleby e. V. – Zentrum für Karriereverweigerung“ hat aus dieser Haltung heraus von 2014 bis 2017 verschiedene Performances, unter anderem das Kapitalimustribunal, aufgeführt und Bücher veröffentlicht, um dem „Wachstums- und Karrierefetisch“ etwas entgegenzusetzen. In der Theorie erstaunlich simpel, ist es in der Praxis oftmals äußerst schwierig, sich zu verweigern. Eine Hilfestellung bietet das von der Gruppe herausgegebene Buch Sag alles ab! Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik (Edition Nautilus, 2015).
Mit der individuellen Verweigerung von Leistungszwänge lässt sich sicherlich gut beginnen. Aber dies kann nur die Probe für den großen kollektiven Aufstand gegen ein Wirtschaftssystem sein, das uns tagtäglich zeitlichen, hierarchischen und Leistungszwängen unterwirft. Es gibt bereits gute Ansätze und wir sind eingeladen kreativ zu werden, um gemeinsam weitere Wege zu finden, nicht nur unsere individuelle, sondern vor allem unsere kollektive Freiheit zu vergrößern. Mehr Zeitwohlstand, Mitbestimmung und das Gefühl zu genügen, als die, die wir sind, warten auf uns.

 

Dieser Text ist erstmals ist in der Rubrik „Zukunft für alle“ in der Agora42 01/2024, einem philosophischen Wirtschaftsmagazin, erschienen.

Autor*in
Foto von Mascha Schädlich

Mascha Schädlich (sie)

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