Wie kommen wir bis 2048 zum Guten Leben für alle?
Lasst uns ins Jahr 2048 blicken. Wir wissen (noch) nicht, wie die Welt dann aussieht. Aber wir wissen, in welche Richtung es gehen soll: wir wollen eine soziale, ökologische, demokratische Gesellschaft, in der ein gutes Leben für alle möglich ist.
„Wir verlassen die vertraute Welt mit einem Kompass, der uns die Richtung anzeigt, in die wir uns begeben haben, sowie mit einem Kilometerzähler, der uns anzeigt, wie weit wir uns vom Ausgangspunkt entfernt haben, aber ohne eine Karte, die uns die gesamte Route vom Ausgangspunkt bis zum Ziel zeigt. (…) Wir können zwar nicht im Voraus wissen, wie weit wir gehen können, aber wir können wissen, ob wir uns in die richtige Richtung bewegen.“
Erik Olin Wright (2017): Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, Berlin, S. 171
Unser Vorschlag für einen Kompass richtet sich an fünf Grundwerten aus und soll als Leitfaden dazu dienen, über eine bessere Zukunft nachzudenken. Diese sollen alle gemeinsam berücksichtigt werden.
Demokratisierung
Wir wollen bis 2048 eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft. Auch wenn die parlamentarische Demokratie eine gesellschaftliche Errungenschaft ist, sind die Beteiligungsmöglichkeiten und -zugänge in ihr grundlegend beschränkt: Zum einen können sich viele Menschen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position nicht an demokratischen Entscheidungen beteiligen und sind vom Politikbetrieb frustriert. Beispielsweise verfügen Menschen mit hohen Einkommen und mehr formeller Bildung über mehr Ressourcen (wie Zeit und Kontakte), die ihnen eine aktive Rolle in der Zivilgesellschaft und demokratische Teilhabe erleichtern. Zum anderen ist der Teil der formellen demokratischen Beteiligung auf wenige Fragen und die Wahl von Parteien und Politiker*innen begrenzt.
Demokratische Selbstbestimmung bedeutet aber viel mehr, nämlich ein Interesse für politische Fragen und mit anderen Menschen gemeinsam zu handeln, das Leben kollektiv zu gestalten (Hannah Arendt: Vita Activa).
Wir wollen, dass alle Menschen an den Entscheidungen mitwirken können, die ihr Leben betreffen.
Daher soll die zu entwerfende Vision folgende Punkte berücksichtigen:
• Demokratische Entscheidungen finden auf verschiedenen Ebenen statt, vom Stadtteil oder Dorf bis zur globalen Ebene. Sie werden dabei auf der kleinsten möglichen Ebene gefällt.
• Die Notwendigkeit der Ausweitung demokratischer Selbstbestimmung auf Bereiche, die bislang nicht demokratisch gestaltet sind. So zum Beispiel auf Arbeit und Unternehmen sowie die gesamte öffentliche Infrastruktur (z.B. Technik, Verkehr, Energie, Medien, Bildung, Gesundheitsversorgung).
• Demokratie kann nur gelernt und gelebt werden, wenn es viele Räume gibt, wo Menschen sich begegnen und austauschen können. Dafür sind öffentliche Räume notwendig, die frei zugänglich sind.
• Damit alle Menschen die Demokratie aktiv mitgestalten können, ist eine Gesellschaft notwendig, in der weniger Ungleichheiten bestehen (s. folgende Punkte).
Diskriminierungsfreiheit
Heute ist die Gesellschaft geprägt von ungleichen Machtverhältnissen, wie Rassismus, (Hetero-)Sexismus, Klassismus, oder Ableismus2. Diese führen zu Bevorteilung (Privilegierung) und Benachteiligungen (Diskriminierung). Es gibt Menschen, die durch ihre besonderen Privilegien (z.B. weiß / männlich / heterosexuell / reich / nicht be_hindert) in einer machtvolleren Position gegenüber weniger privilegierten Menschen stehen. All diese Diskriminierungsformen sind miteinander verschränkt und überkreuzen sich (daher wird auch von Intersektionalität gesprochen, z.B. von Kimberley Crenshaw). Diese Machtverhältnisse prägen alle gesellschaftlichen Bereiche, wie Institutionen, zwischenmenschliche Beziehungen oder gesellschaftliche Vorstellungen. Dementsprechend gibt es ökonomische, soziale, ideologische, persönliche, rechtliche und politische Macht. Diese wirkt auf institutioneller (z.B, Gesetze, Arbeitsmarkt), zwischenmenschlicher (z.B. Ausgrenzung, sexuelle Belästigung) und ideologischer Ebene (z.B. Normen, Werte, Kultur).
Wir wollen eine diskriminierungsfreie Gesellschaft.
Da wir jede Form von Diskriminierung ablehnen, soll die zu entwerfende Vision folgende Punkte berücksichtigen:
• Niemand soll aufgrund von Rassismus, (Hetero-)Sexismus, Klassismus, oder Ableismus oder anderen Formen der Diskriminierung ausgegrenzt / benachteiligt oder privilegiert werden.
• Alle Menschen haben an einer viel gleicheren Gesellschaft reale Teilhabe- und Einflussmöglichkeiten, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Positionierung.
• Der Einsatz für Gleichberechtigung auf allen Ebenen und gegen jede Form von Ausgrenzung wird als zentrales gesellschaftliches Ziel aktiv angegangen – in der Politik, im Betrieb, in der Schule, auf dem Sportplatz.
• Gleiche Repräsentation und Arbeitsteilung in allen gesellschaftlichen Bereichen – wie z.B. in Koordinierungsaufgaben, Medien und Kultur..
Soziale Gerechtigkeit und Teilhabe
Heute ist die Gesellschaft – vor allem die Weltgesellschaft – zutiefst gespalten: unvorstellbarer Reichtum in der Hand Weniger steht massiver Armut bei Vielen gegenüber. Die Schere geht immer weiter auseinander. Auch wenn die meisten Menschen in Europa und der Bundesrepublik von der global durchgesetzten „imperialen Lebensweise“ profitieren, ist auch hier die Ungleichheit riesig und wächst. Dies steht nicht nur sozialer Gerechtigkeit als Wert an sich entgegen, sondern es vertieft die unterschiedlichen Machtverhältnisse. Das extrem ungleich verteilte Eigentum an Kapital, Wohnraum, Boden und Produktionsmitteln steht gleichberechtigter Teilhabe an der Gesellschaft entgegen und ist zutiefst undemokratisch.
Neben Eigentum ist auch Arbeit ungleich verteilt. Dies gilt besonders für Fürsorgetätigkeiten, die in der politischen und wirtschaftlichen Sphäre oftmals ausgeblendet, schlecht bezahlt und immer noch hauptsächlich von weiblich sozialisiert und migrantisierte Menschen verrichtet wird.
Wir wollen umfassende soziale Gerechtigkeit, das heißt gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe für alle.
Daher soll die zu entwerfende Vision folgende Punkte berücksichtigen:
• Soziale Gerechtigkeit, von der lokalen bis zur globaler Ebene, setzt eine massive Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums voraus, sowohl innerhalb als auch zwischen Gesellschaften.
• Das schließt auch eine Wiederaneignung und Demokratisierung (von Teilen) des privaten Eigentums mit ein.
• Um allen Menschen umfassende gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, muss eine umfassende Daseinsvorsorge aller gewährleistet sein.
• Fürsorgetätigkeiten müssen als elementare Grundlagen menschlichen Lebens anerkannt und auf alle Menschen gleich verteilt werden. Es ist gesellschaftliche Aufgabe, dies zu ermöglichen.
Ökologische Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit
Das bestehende Verhältnis von Menschen zur Natur ist durch Aneignung und Herrschaft geprägt. Das derzeitige Wirtschaften basiert auf massiver Ausbeutung der Natur, um Gewinne zu erwirtschaften und um moderne, ressourcenintensive Lebensstile zu ermöglichen. Weiter steigende Emissionen, Artensterben und zerstörte Ökosysteme sind das Ergebnis eines wachsenden Ressourcenverbrauchs. Davon profitieren vor allem Unternehmen sowie Menschen in den früh industrialisierten Ländern und die globalen Mittel- und Oberschichten. Negativ betroffen sind dagegen weltweit vor allem materiell arme Bevölkerungsschichten. Meist fehlen die finanziellen Ressourcen, sich gegen die Folgen klimatischer Veränderungen, Bodendegradation oder die Zerstörung von Ökosystemen zu schützen.
Um die natürlichen Lebensgrundlagen langfristig und für alle Lebewesen zu erhalten, wollen wir eine sozial-ökologische Transformation aller Gesellschaftsbereiche.
Daher soll die zu entwerfende Vision folgende Punkte berücksichtigen:
• Der Erhalt der ökologischen Lebensgrundlagen und bedürfnisorientierter Sorgebeziehungen muss Priorität bei Entscheidungen in allen politischen und wirtschaftlichen Feldern und im Alltag der Menschen haben.
• Weniger Ressourcenverbrauch und weniger klima- und gesundheitsschädliche Emissionen und den schnellstmöglichen Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen (Post-Extraktivismus).
• Dies erfordert einen grundlegenden Umbau sowie eine Reduktion von Produktion und Konsum in vielen Gesellschaftsbereichen, v.a. im Globalen Norden (Anti-Produktivismus).
• Globale Klima- und Umweltgerechtigkeit, das heißt sowohl eine Anerkennung der Klimaschuld sowie der ungleichen Verantwortung zu Handeln als auch ein Ende der Zerstörung der Umwelt durch den globalen Norden. Um Klima- und Umweltungerechtigkeit wirksam zu bekämpfen, braucht es soziale und nachhaltige Lösungen, die über technische Maßnahmen und marktbasierte Mechanismen hinausgehen.
• De-Globalisierung und offene Lokalisierung sollen dazu führen, dass Emissionen durch Transport massiv sinken. Hier geht es darum, dass möglichst viele Güter im Nahumfeld erzeugt werden, so dass Produktketten um den Globus vermieden werden. Der Ansatz betont gleichzeitig die offene, kosmopolitische, solidarische und kooperative Grundhaltung nach außen.
Gutes Leben für alle
Neben den oben genannten materiellen oder physischen Bedingungen sollten wir uns für eine positive Zukunftsvision auch die Frage stellen: Was macht das Leben lebenswert? Und was sorgt im Gegensatz dazu für Entfremdung und Angst?
In der heutigen Gesellschaft stehen nicht nur soziale Ungleichheiten, Machtverhältnisse und Naturzerstörung einem Guten Leben entgegen, sondern auch viele andere Zwänge und Krisen moderner kapitalistischer Gesellschaften. So gehen viele Menschen in der Arbeitsgesellschaft Tätigkeiten nach, die sie selbst für sinnlos, unnötig oder schädlich halten („bullshit jobs“). Die Beschleunigung und Verdichtung in allen Lebensbereichen verschärft die Entfremdung von sich selbst, vom eigenen Tun und von Anderen. Dies löst Stress, Burnout und Unzufriedenheit bei vielen Menschen aus und führt zu einer dauerhaften Krise der Sorgetätigkeiten.
Gleichzeitig führt unser Wirtschaftssystem zu finanziellen Ängsten – Angst vor Arbeitsplatzverlust, Altersarmut und sozialem Abstieg während das konkurrenzbasierte Staatensystem zu Angst vor kriegerischen Auseinandersetzungen führt.
Schließlich ermöglichen digitale Technologien eine nie gekannte Weltreichweite, führen aber auch zu einer immer schnelleren Kommunikation, Vereinzelung, permanenter Überwachung, Messung und Effizienzorientierung des Alltags. Die Reichweite in der modernen Welt scheint sich unbegrenzt steigern zu lassen, es mangelt aber an Resonanz (Hartmut Rosa).
Wir wollen eine Gesellschaft, die Menschen ermöglicht, ein selbstbestimmtes, lebenswertes, freudvolles und gutes Leben zu führen.
Daher soll die zu entwerfende Vision folgende Punkte berücksichtigen:
• Zeitwohlstand ist als wichtiger immaterieller Teil von Wohlstand zu betrachten. Zeitwohlstand bedeutet, Zeit zur Verfügung zu haben und diese selbstbestimmt zu nutzen, für Dinge, die individuell wichtig sind. Es geht darum, Beziehungen, Spiel, kreative Tätigkeiten, Sport, Genuss und Muße als wichtige Ressourcen für ein gutes Leben ernst zu nehmen.
• Individuelle und gesellschaftliche Selbstbestimmung – also die Möglichkeit, selbst und mit anderen über die zentralen Fragen des eigenen Lebens zu entscheiden, ohne das dies auf Kosten anderer geht – ist wichtiger Teil eines guten Lebens. Technologien und Institutionen sollen dies ermöglichen und stärken.
• Die Gesellschaft, die wir anstreben muss allen Menschen Stabilität und Sicherheit gewähren, so dass Menschen keine Angst haben müssen vor Gewalt, Armut, Ausgrenzung oder den Folgen der nächsten wirtschaftlichen oder politischen Krise.
Transformation
Die Vision, die wir in diesem Projekt entwickeln wollen, wird nur eine von vielen sein. Es bleibt zentral, andere emanzipatorische Ansätze ebenfalls anzuerkennen und uns in einem breiten Feld zu verorten. Denn wir haben nicht die Sicherheit, über die beste Vision zu verfügen und stellen uns die sozial-ökologische Transformation vielfältig vor.
Wir verstehen die sozial-ökologische Transformation nicht als Endzustand, sondern als Prozess, der durch vielfältige Konflikte geprägt ist und der so basisdemokratisch wie möglich gestaltet werden sollte. Sie vollzieht sich Schritt für Schritt auf der Grundlage bereits realisierter Veränderungen und mittels revolutionärer Realpolitik (Rosa Luxemburg). Diese zielt auf eine grundsätzliche Veränderung der gesellschaftlichen Funktionslogik ab, muss aber nicht über einen radikalen Bruch führen. Ein radikaler Bruch hin zu einer sozial-ökologischen Transformation ist in den aktuellen Verhältnissen sehr unwahrscheinlich und generell mit nicht absehbaren Folgen verbunden. Gleichzeitig reichen Reformen innerhalb des Systems nicht aus, um die oben genannten Ziele zu erreichen. Daher setzen wir darauf, in den
„Räumen und Rissen innerhalb kapitalistischer Wirtschaften emanzipatorische Alternativen auf[zu]bauen und zugleich um die Verteidigung und Ausweitung dieser Räume zu kämpfen“ (Erik Olin Wright 2017).
Die gemeinsam zu entwickelnde Vision soll Kämpfe verbinden. Sie soll Menschen Mut und Kraft geben, sich für die Transformation einzusetzen, damit diese Wirklichkeit werden kann.
Dieser „Kompass für die Visionsentwicklung“ hat für die Planung und Gestaltung des Kongresses Zukunft Für Alle die Grundlage gebildet. Er weist die Richtung für Visionen einer Zukunft für alle, beschreibt Werte, auf denen unsere Utopien und damit auch der Kongress beruht. Mit dem Kongress Zukunft Für Alle wollten wir uns von der Gleichgültigkeit der vermeintlichen Alternativlosigkeit der Gegenwart lösen und eine Zukunft für alle sichtbar und konkret vorstellbar machen, ohne diese als Masterplan oder Vorhersage festzulegen. Doch eine Orientierung in der Gestaltung einer gerechten Zukunft für alle braucht es – daher der Kompass.
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