15M: Aus einer autonomen Perspektive

Strategien, Systemkritik und autonome Räume

 

Platzbesetzung der 15m-Bewegung

Autor:
Eduard Nus
Aus dem Englischen übersetzt von: Isabel Frey

Dieser Text stellt die persönliche Sichtweise des Autors dar. Dabei werde ich versuchen, die Interpretation der 15M-Bewegung und die Ideen von heute voneinander zu trennen. Ich schreibe über eine bestimmte Strömung innerhalb der Bewegung in Barcelona; diese beziehungsweise dieser „Ableger“ der 15-Bewegung kann unter einem der Bewegungsmottos zusammengefasst werden: „Ningú ens representa.“ (Niemand repräsentiert uns.)

Eduard Nus ist Mitglied der Autonomy Reflexion Group (Reflexionsgruppe Autonomie) und aktiv bei La Base: ateneu cooperati im Poble Sec, Barcelona. Momentan ist er dabei, autonome Strukturen in semi-ländlichen Orten um das Projekt Can Tonal de Vallbona aufzubauen.

1. Eine heterogene Bewegung mit einem gemeinsamen Nenner

Die 15M-Bewegung war eine sehr heterogene Bewegung. Es gab jedoch Ideen, einen kleinsten gemeinsamen Nenner, die von den Beteiligten geteilt wurden:

Eine kritische Einstellung gegenüber etablierten Institutionen („Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankern“, „Niemand repräsentiert uns“).
Widerstand gegenüber antisozialen Maßnahmen der Wirtschaftspolitik, die von der Regierung umgesetzt wurden und, im engeren Sinne, eine Kritik der Kapitalisierung des Lebens, das Bedürfnis, dem Ärger Luft zu machen, und das Bedürfnis, Antworten auf die Krise zu finden.
Widerstand gegen das Wettbewerbsprinzip zusammen mit dem Bedürfnis, die Entfremdung von unserem Leben und die zunehmende Individualisierung zu beenden, wozu uns dieses System verdammt. In den Worten unseres Freundes Pablo Molano, der uns kürzlich verlassen hat:
„Viele Menschen sagen, dass die 15M-Bewegung eine Protestbewegung war. Das ist richtig, aber sie war nicht nur das. Sie war, und sie ist, eine Begegnung, ein Erkennen, ein Abschaffen der persönlichen und ideologischen Grenzen. Wir waren eins, denn wir alle und jede_r einzelne haben uns mit unseren Eigenheiten gegenseitig akzeptiert.“

Zusammenfassend lässt sich als Grundgedanke der Bewegung festhalten, dass die Gesellschaft und die Menschen übergeordnet, die politischen und wirtschaftlichen Institutionen ihnen untergeordnet sein müssen.

Von der Demonstration zur Platzbesetzung

Die 15M-Bewegung in Spanien entstand aus einer Reihe von Protesten, als die Zentralregierung erhebliche Lohn- und Arbeitskürzungen, erneute Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen und eine drastische Unterwanderung des Sozialstaates angekündigt hatte. Als Reaktion darauf und angesichts der Tatsache, dass die großen Gewerkschaften daran scheiterten, einen Generalstreik auszurufen, und stattdessen mit den etablierten Kräften verhandelten, begannen die Menschen sich zu organisieren und zu demonstrieren. In Barcelona wurden Versammlungen von Aktivist_innen ins Leben gerufen, die das Ziel verfolgten, all jene Menschen zusammenzubringen, die von den neoliberalen Maßnahmen der Regierung betroffen waren oder unterdrückt wurden. Zu dieser Zeit entstanden online weitere kollektive Plattformen, wie beispielsweise ¡Democracia Real Ya! (Echte Demokratie Jetzt!), und um dem Ärger der Menschen und der Unzufriedenheit mit den Eliten in mächtigen Positionen Ausdruck zu verleihen. Folgendes Motto, das wenige Tage vor dem von den Gewerkschaften schließlich doch noch ausgerufenen Generalstreik im September 2010 an den Wänden eines wichtigen besetzten Gebäudes in Barcelona hing, bringt die kollektive Stimmung der damaligen Zeit sehr gut auf den Punkt:

„Banken ersticken uns. Arbeitgeber beuten uns aus. Politiker lügen uns an. Die Gewerkschaften CCOO und UGT (1) verkaufen uns. Verpisst euch!“

Ganz ähnlich klingt das Hauptmotto der Democracia-Real-Ya-Bewegung, mit dem am 15. Mai zu großen Demonstrationen in den wichtigsten Städten Spaniens aufgerufen wurde: „Wir sind keine Ware in den Händen von Politikern und Bankern!“ Diese Demonstrationen mündeten, offenbar ohne vorherige Planung, in dauerhafte Camps, mit denen die wichtigsten Plätze in den bedeutendsten spanischen Städten besetzt wurden. Dies markierte den Beginn einer langen Reihe von Protestaktionen.

Diese pluralistische und diffuse zivilgesellschaftliche Versammlungsbewegung, die während der Besetzung Gestalt annahm, war der Auftakt und der wichtigste Moment für das, was wir heute als 15M-Bewegung kennen. In Barcelona bestanden die besagten Camps mehrere Wochen fort – bis sie von der katalanischen Polizei mit Gewalt geräumt wurden. Als Reaktion auf die umstrittene Polizeiaktion versammelten sich zahlreiche Menschen in verschiedenen Stadtteilen. Die neue Strategie führte vom Stadtzentrum in die Stadtviertel, lokale Aktivitäten ersetzten die zentrale Zusammenkunft der vergangenen Wochen. Im Zuge dessen wurden existierende Projekte gestärkt und neue entstanden, es bedeutete aber auch das Ende der Platzbesetzung.

Zu den wichtigsten Elementen der Bewegung zählten das kollektive Lernen, die organische Funktionsweise, die allgemein solidarische Einstellung und das fast vergessene Gefühl, etwas gemeinsam zu haben. Da gab es also etwas, das uns verband, jenseits des Diskurses der Massenmedien mit ihrem entfremdenden „Showprogramm“: etwas, das wir, die Menschen, teilten – jenseits der Grenzen und der Regelungen der Eliten –, und womit wir sektiererischen Spaltungen und dem vorherrschenden Individualismus eine Absage erteilten.

Von den zentralen Plätzen in die Viertel

Nachdem die zentralen Plätze geräumt worden waren, begann die Bewegung also, sich in die Stadtviertel hinein zu verlagern. Zu dieser Zeit kristallisierten sich zwei unterschiedliche Strömungen heraus: Die einen wollten die Grundlagen für eine neue selbstbestimmte Gesellschaft bereiten, die anderen verfolgten das Ziel einer neuen Verfassung und der Gründung neuer alternativer politischer Parteien. Zur erstgenannten Strömung zählten eher wenige und ihr fehlte eine klare Vorstellung oder Grundlage, um eine systemkritische Bewegung zu werden oder um das alltägliche Leben zu verändern. Die Aktiven arbeiteten also wie gehabt in ihren lokalen Projekten, nun aber mit neuer Kraft und mit mehr Menschen. Für sie war die 15M-Bewegung ein Höhepunkt, aber kein Wendepunkt. Die anderen, die Mehrheit, verfielen schnell in eine spezifische Dynamik der Forderungen, Anschuldigungen und Kompromisse und legten einen Schwerpunkt auf kulturelle Veranstaltungen. Forderungen an Politiker_innen wurden verwässert, um Rechte und das Sozialsystem der Vorjahre zu bewahren – als ob dies möglich wäre.

Optimistisch gesprochen können wir den 15. Mai als einen Wendepunkt in einer Reihe von Demonstrationen sehen und als Teil eines größeren Projektes, das eine Alternative zum gegenwärtigen System werden könnte. Das allgemeine Bewusstsein über die Krise, in der wir uns befinden, war jedoch noch nicht sehr ausgeprägt: Die Krise war noch sehr „neu“, entsprechend drehten sich die Forderungen zunächst hauptsächlich darum, zu bewahren, was wir bis dahin erreicht hatten. Was indessen ignoriert wurde, war die Tatsache, dass wir uns mitten in einem epochalen Wandel befinden – eine Zivilisation im Umsturz. Nach Jahren des Wohlstands – nun, da alles zerfiel – fühlten sich viele Menschen verloren und verärgert, gar betrogen. Es gab jedoch keine klar ersichtliche Alternative, geschweige denn Organisationen, die eine solche unterstützt hätten. Daher schien es am einfachsten, sich auf Altbewährtes zu besinnen.

Der autonome Ansatz innerhalb der 15M-Bewegung

Wie bereits angemerkt war die 15M-Bewegung eine heterogene Bewegung. Bei der autonomen Perspektive innerhalb derselben handelt es sich um einen autonomen und lokalen Ansatz, der bereits zuvor existiert hatte und der, wie viele andere auch, Teil der 15M-Bewegung wurde und dadurch an Stärke gewann. Insofern stellte die 15M-Bewegung aus meiner Sicht (auch) für die autonome Strömung keinen politischen Wendepunkt, wohl aber einen Höhepunkt dar. Wie auch bei anderen Strömungen versteht und benennt sich die Gruppe selbst nicht ausdrücklich als Bewegung.

Wir teilen mit der 15M-Bewegung die bereits genannten zentralen Ansätze, sind dabei jedoch nicht der Meinung, dass das Problem, vor dem wir stehen, fiese Manager böser Banken sind: Es geht vielmehr um etwas, das dem System des Staatskapitalismus inhärent ist. Um zu einer Lösung zu gelangen, müssen wir uns das Fundament dieses Systems anschauen und genau dort ansetzen.

Autonomie und Heteronomie im Laufe der Geschichte

Die Geschichte kann als Kampf zwischen Autonomie und Heteronomie analysiert werden. Politisch gesehen ist Autonomie die Selbstbestimmung der Gesellschaften, Heteronomie ist das Gegenteil davon. Wir verstehen Autonomie im weiteren Sinne, nicht nur als politisches Regime, sondern auch als Lebensart, als Verwendung von Zeit, von Ressourcen und hinsichtlich unserer Beziehungen. Die Geschichte der Bewegung für Autonomie reicht bis ins Altertum zurück. Es ist eine Geschichte der Selbstorganisation, von Allmenden, von Versammlungen, von unzähligen Revolutionen. Im Laufe der Geschichte haben verschiedene Bewegungen dieses Erbe ihrer Vorgänger_innen fortgeführt – so wie wir dies auch heute tun. Wir verstehen uns als Erben einer freiheitlichen Bewegung in Katalonien in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sowie des Arbeitskampfes der 1970er Jahre. Wir beerben außerdem die feministischen, ökologischen und globalisierungskritischen Bewegungen, die unsere Praktiken, unsere Analysen und unsere Diskurse geprägt und bereichert haben. In unserem Land verschwanden entsprechende Bewegungen beinahe ganz aufgrund der drakonischen Repressionen unter der Diktatur Francos. Nach Ende der Diktatur und ganz besonders während der Jahre 1980–2000 und mit dem Ausbau des Sozialstaates wurden die Widerstandsbewegungen und jegliche revolutionären Perspektiven kleingehalten. In den ersten Jahren des neuen Millenniums entfachten sie sich jedoch wieder, ganz langsam und besonders als Teil der globalisierungskritischen Bewegung. In den Jahren vor und während der 15M-Bewegungen wurde die autonome Bewegung sichtbarer, Versammlungen in den Vierteln fanden wieder statt. Dank der 15M-Bewegung und der politischen Arbeit in den darauffolgenden Jahren, außerdem durch das unnachgiebige Erstarken kapitalistischer Dynamiken, ist diese Strömung heute präsenter und nimmt an Fahrt auf.

Es scheint momentan offenkundig, dass Heteronomie den Kampf gewinnt und dass wir vor einer multidimensionalen Krise stehen (sozial, wirtschaftlich, ökologisch …). Wir schädigen nicht nur unseren Planeten und andere Lebensformen, wir setzten sogar das Überleben der gesamten Menschheit aufs Spiel. Ebenso steht außer Frage, dass wir den Kapitalismus nicht nur als wirtschaftliches System überwinden müssen, sondern auch als Weltsicht und Wertesystem mit dem damit verbundenen Lebensstil (oder sollten wir eher vom leblosen Stil sprechen?). Individuelle Interessen, Egoismus und Kommerzialisierung sind die zentralen Elemente, die unsere Beziehungen und Einstellungen prägen. Wenn wir also das System verändern wollen, müssen wir unsere Strategie, unsere Vorschläge, Diskurse und Praktiken überdenken: Wir benötigen eine neue „Kosmovision“ von uns selbst und der Welt.

Eine Alternative entwickeln

Konsens in der 15M-Bewegung war das Ziel, die Souveränität über unser Leben zurückzugewinnen. Es gibt jedoch verschiedene Vorschläge und Visionen dazu, was Souveränität bedeutet, und auch hinsichtlich der Strategie, diese zu erreichen. In einigen Fällen sind die Vorschläge revolutionär, in den meisten Fällen sind sie reformistisch. Aus der politischen Perspektive heraus, der ich mich selbst zugehörig fühle, wird als Alternative eine Gesellschaft vorgeschlagen, die selbstbestimmt und selbstverwaltet ist, die auf Gemeinschaftsleben und souveränen öffentlichen Versammlungen gründet und die ohne Staat oder eine dominante Macht auskommt. Diese Alternative impliziert zudem eine andere Weltsicht, andere Beziehungen zwischen den Menschen, zur Zeit und zur Natur. Wir stellen uns dabei Gemeinschaften vor, die in konkreten Gebieten lokal verortet sind, die selbstständig und hauptsächlich von den eigenen Ressourcen leben und mit anderen Gemeinschaften verbündet sind. In diesem Kontext finden wir die Ideen und Prinzipien des demokratischen Konföderalismus (2) interessant, wie sie momentan von einer Mehrheit der Bevölkerung in Kurdistan umgesetzt werden.

Um diese Alternative Gestalt werden zu lassen, sieht unsere Idee sozialen Wandels vor, Folgendes aufzubauen und zu verteidigen: ein Gemeinschaftsleben, einen anderen Lebensstil mit einer anderen Weltsicht sowie eine politische und soziale Bewegung, die dieses Gemeinschaftsleben verbreitet, koordiniert und schützt. Diese Bewegung sollte das aktuell vorherrschende System herausfordern und stark genug sein, es zu ersetzen, es zu beenden. Es gibt verschiedene Ansichten dazu, wie dieser Wandel – vom bestehenden System zu einer neuen Gesellschaftsform ohne Staat, Kapitalismus und andere Herrschaftsformen – gelingen kann. Am sinnvollsten scheint uns ein Transformationsprozess, bei dem die neuen Formen im aktuellen System ausprobiert und getestet werden können: dass also eine „Parallelgesellschaft“ geschaffen wird, die diese „neue Welt“ nicht nur im Hier und Jetzt, im Kleinen, gestaltet, sondern die auch stark genug ist, der „alten“ zu widerstehen und sie auszuhebeln.

Degrowth in Bewegung(en)

32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation

Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.)

Die hier versammelten 32 sozialen Bewegungen, alternativ-ökonomischen Strömungen und Initiativen suchen nach Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell. Sie fordern einen Paradigmenwechsel: weg vom Fokus auf Wettbewerb, Gewinnstreben, Ausbeutung und Wachstum – hin zu mehr Kooperation, Solidarität und einer Orientierung an konkreten Bedürfnissen. Es geht darum, die Bedingungen für ein gutes Leben für alle zu schaffen. Aber welche unterschiedlichen Wege für eine sozial-ökologische Transformation gibt es? Welche Hürden sind zu überwinden? Welche Gruppen sind beteiligt, wer macht was und wie ist das Verhältnis zueinander? Welche Bündnisse sind möglich? Diesen Fragen sind Protagonist*innen der Bewegungen in einem zweijährigen Vernetzungs- und Schreibprozess nachgegangen. Die daraus entstandenen Beiträge motivieren zu eigenem Tun und Engagement.

2. Konkrete lokale und politische Aktionen

Innerhalb der 15M-Bewegung können wir drei Partizipationsformen ausmachen:

  • Der Kern besteht aus den engagiertesten und beharrlichsten Aktivist_innen. Es gibt einige Tausend im ganzen Land. Sie sind verantwortlich für die Planung und Koordinierung von Aktionen.
  • Dazu kommt eine aktive Bürgerschaft (Hundertausende), die sich an verschiedenen Formen des kollektiven politischen Ausdrucks beteiligen.
  • Schließlich sind da die vielen verärgerten oder unglücklichen Bürger_innen (Zweidrittel der gesamten Bevölkerung), die irgendwie mit den Zielen und den Aktionen der Bewegung sympathisieren.
  • Die Bewegung ist entlang bestimmter Aktionen, Arbeitsbereiche und in Gruppen organisiert, die sich in Komitees und in einer Generalversammlung (verschiedenster Größe(3)) zusammenschließen.

Nach den 15M-Demonstrationen und Platzbesetzungen entstanden verschiedene Projekte und Initiativen. Zunächst waren dies vor allem lokale und basisdemokratische Projekte. Mit den Wahlprozessen infolge der 15M-Bewegung entstanden zudem parlamentarische Politikprojekte, die als Erben der Bewegung gelten können.

Es lassen sich also zwei verschiedene Bewegungsansätze ausmachen: Auf der einen Seite fanden sich diejenigen zusammen, die sich in die staatlichen Institutionen einzubringen wollten. Die meisten von ihnen machen als Hauptproblem schlechte Regierende aus (wie etwa die politische Partei Podemos); einige denken hingegen, dass das Problem im System als Ganzem begründet ist, dass es jedoch wichtig ist, Teil staatlicher Institutionen zu sein, um dessen Dynamik zu bremsen (dies gilt etwa für die Partei Candidatura de Unidad, ebenso für einige Teile von Barcelona en Comú). Diese Gruppe umfasst alles in allem einige tausend Aktivist_innen, die sich auf den entsprechenden Plattformen beteiligen, sowie Millionen von Menschen, die bei den Wahlen für entsprechende Parteien stimmten.

Auf der anderen Seite stehen all diejenigen, die sich einer Teilhabe an staatlichen Institutionen verweigern und die mit ihrer politischen Arbeit vor Ort weitermachen (in vielen lokalen Projekten, Kulturzentren, Kooperativen etc.). Dazu zählen einige Tausend Aktive, und es ist schwierig festzustellen, wie viele Menschen mit ihnen sympathisieren. Die 15M-Bewegung war belebend für existierende Projekte und stieß neue Projekte an. Es war ein Ereignis, das engagierten Aktivist_innen neue Energie gab, das aber auch viele neue Menschen in die bereits bestehenden Gruppen brachte. Viele von ihnen zogen sich allerdings wenige Wochen oder Monate nach den Platzbesetzungen wieder zurück. Diejenigen jedoch, die blieben, stärkten die Projekte.

Die Art der Organisationsweise im Kontext dieses zweiten Ansatzes lässt sich als sehr flüchtig und informell beschreiben. Die Arbeit setzt auf zwei Ebenen an, die miteinander in Beziehung stehen: Einerseits finden sich Projekte mit einem lokalen Zugang (was sie ausmacht, ist also der Ort): Sie verteidigen ihr Stadtviertel, stärken die Communitys und hauchen der Allmende Leben ein. Andererseits lassen sich thematische Projekte ausmachen, sie verbindet eine geteilte Perspektive, ein gemeinsamer Kampf, ein Themenbereich … Was die Organisationformen anbelangt, wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Vorschläge gemacht und ausprobiert zum Zwecke der Zusammenarbeit und um den autonomen Gruppen eine Stimme zu geben (zum Beispiel: Procés Embat; Apoyo Mutuo). In den letzten zwei bis drei Jahren gab es zahlreiche Treffen, bei denen Ideen und Gedanken zur Frage der Organisierung gesammelt wurden. Das Bewusstsein, was die Notwendigkeit einer stärker organisierten und kohärenten Bewegung angeht, wächst.

Unsere politische Strategie sieht also vor, auf zwei Ebenen zu handeln: auf langfristigen Wandel ausgerichtet (eine „neue Welt“ aufbauen und mit der bestehenden Ordnung abschließen), aber mit tägliche Aktionen. Wir glauben, dass ein strategisches Bewusstsein von allergrößter Bedeutung ist für das Schicksal – Entwicklung oder Stagnation – verschiedener Projekte und um einzelnen Aktionen Sinn und Wirkkraft zu verleihen.

Es gab zum Beispiel während der Besetzung der öffentlichen Plätze tägliche Versammlungen vor Ort, an denen tausende Menschen teilnahmen. Diese täglichen Versammlungen waren dabei weit davon entfernt, tatsächliche demokratische Versammlungen zu sein, da es weder eine Kultur noch das „Handwerkszeug“ dafür gab. Auch waren sie inhaltlich nicht sonderlich relevant, da die Diskussionen nicht über mehrere Treffen hinweg fortgeführt wurden; bei jeder täglichen Versammlung handelte es sich also um eine isolierte Veranstaltung. Die beteiligten Communitys wurden nicht ermächtigt und ihnen fehlte die entsprechende Struktur, um sich in diesem Rahmen zu organisieren. Sie litten unter „Versammleritis“. Versammlungen fungierten eher als Lebensstil denn als Mittel der Selbstverwaltung.

3. Handlungspraktische Inspiration durch und Weiterentwicklung sowie Anwendung von Degrowth-Ideen

Wir sprechen von der 15M-Bewegung als Bewegung der Bewegungen. Die meisten, wenn nicht sogar alle sozialen Bewegungen in Spanien beteiligten sich an ihr. Es gab verschiedene Arten der Beteiligung, manche beteiligten sich aktiver, enthusiastischer, andere eher skeptisch. Aber: Alle waren dabei. Die meisten sozialen Bewegungen sympathisierten mit der 15M-Bewegung.

Die 15M-Bewegung nahm ganz direkt Einfluss auf die Degrowth-Bewegung. Aufgrund der Heterogenität der Bewegung und der Tatsache, dass die Degrowth-Perspektive nur von einer Minderheit vertreten wurde, kam ihr keine besonders große Bedeutung zu. Es ist schwierig, die Beziehung zwischen beiden zu beschreiben, denn sie ist weder kohärent noch beständig. Meines Wissens nach war Degrowth in einigen Komitees und Arbeitsgruppen sehr präsent, zu anderen gab es keinerlei Verbindung. Am bedeutendsten war der Einfluss von Degrowth auf der Ebene des praktischen Handelns und was die Bewusstseinsbildung in Hinblick auf die große Öl- und Umweltproblematik anbelangt. Allerdings wurde Degrowth eher zu einem ökologischen Etikett, als sich innerhalb von 15M tatsächlich zu etablieren.

In Katalonien begann die Degrowth-Bewegung etwa im Jahr 2007 mit einem aktivistischen Zugang. Nach zwei Jahren wandte sich ein erheblicher Teil der Aktiven anderen Formaten zu oder sie schufen breitere Bewegungen; die Hauptgedanken der Degrowth-Bewegung nahmen sie mit und entwickelten sie weiter. Hervorzuheben ist etwa die Cooperativa Integral Catalan (Katalanische ganzheitliche Kooperative), die zahlreiche selbstverwaltete Projekte initiierte und unterstützte. Sie wurde von Degrowth-Aktivist_innen gegründet, ebenso wie eine Reflexions- und Aktionsgruppe Democràcia Inclusiva (Inklusive Demokratie). Meiner Meinung nach ist die akademische Strömung der Degrowth-Bewegung in Barcelona in den vergangenen Jahren deutlicher erstarkt als die aktivistische.

Viele Grundgedanken der Degrowth-Bewegung sind mit den autonomen Ansätzen verbunden, denen auch ich mich zugehörig fühle; und auch Praktiken aus der Degrowth-Bewegung haben an Stärke gewonnen. Wir wurden also von den Ideen und Ansätzen der Degrowth-Bewegung in bedeutender Weise inspiriert. Deshalb sind wir an den Diskussionen, die um die Degrowth-Idee herum entstehen, interessiert. Wir begrüßen auch das Veröffentlichungsprojekt „Degrowth in Bewegung(en)“ im Besonderen, ermöglicht es uns doch, selbst in die Debatte einzutauchen.

4. Wachstum ist nicht das alleinige Problem und eine Veränderung des Lebensstils nicht die Lösung

Meiner Ansicht nach sollte die Degrowth-Bewegung sich durchaus an anderen Bewegungen oder Kämpfen beteiligen oder dazu einen Beitrag leisten, ich sehe sie jedoch nicht als „die“ Bewegung der sozialen Transformation. Wir wollen keine ökologische Bewegung mit einer holistischen Perspektive, sondern eine holistische Bewegung mit einer starken ökologischen Perspektive. Um dies zu erreichen, ist es unserer Meinung nach notwendig, dass die Degrowth-Bewegung keine rein akademische Bewegung wird.

In die 15M-Bewegung inbegriffen sind einige Vorschläge, die für alle sozialen Bewegungen inklusive Degrowth bedeutsam sein können. So glauben wir, dass die Degrowth-Perspektive von der 15M-Bewegung insbesondere etwas lernen könnte, was die vielen verschiedenen Gesichter des Systems mit seinen Unterdrückungsformen anbelangt und wie sich dies wiederum in verschiedene menschliche Problemlagen übersetzt. Dieses Wissen kann uns dabei helfen, eine Analyse zu entwickeln und unsere Perspektive breiter aufzustellen, sodass wir uns der Tatsache stellen können, dass sich die Strategie zur Überwindung solcher Unterdrückungsformen nicht auf Reformen beschränken kann.

Es gibt einige Aspekte der Degrowth-Perspektive, von denen die 15M-Bewegung profitieren könnte. Wahrscheinlich lassen sich mit mehr und tiefergehendem Wissen weitere finden. Die wichtigsten Punkte, die ich persönlich ausmachen konnte, sind:

  • Wissen und Akzeptanz der physischen Grenzen des Planeten und der Beziehung zwischen Ökonomie, Ökologie, Energie, Ressourcen etc.;
  • Wissen um die Konsequenzen von Wirtschaftswachstum;
    freiwillige Einfachheit und Bereitschaft zur Veränderung unseres eigenen Lebens;
  • schließlich, für all jene, die sich besorgt zeigen angesichts der spezifische Wirtschafts- und Umweltkrise, eine systemkritische Perspektive, eine breitere Sichtweise und Analyse, die die diversen Schwierigkeiten und Probleme einschließt und eine gemeinsame Ursache identifizieren kann.

Umgekehrt möchte ich aus unserer Perspektive der Degrowth-Bewegung Folgendes mit auf den Weg geben:

  • Wachstum ist ein Problem, aber nicht das Kernthema: Die Degrowth-Bewegung sieht Wachstum als das Problem des Systems an. Wir fragen hingegen: Warum haben wir überhaupt eine Wirtschaft, die auf Wachstum basiert? Das ist die Schlüsselfrage. Wachstum ist ein großes Problem, aber es ist letztlich lediglich eine Eigenschaft unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Wachstum ist eine Konsequenz aus dem Wettbewerbsprinzip, dessen Zweck die Konzentration von Macht ist und das im Dienst von Privatinteressen steht. Mit den Worten Ted Trainers (2010: 1, Übersetzung von Isabel Frey): „(…) (E)s handelt sich hierbei um extrem wichtige Initiativen, die sich in eine bewundernswerte Richtung bewegen (…), die aber leider falsch liegen, was die Art des globalen Problems angeht und wie es zu überwinden ist.“
  • Ein Marktsystem impliziert Wachstum: Wachstum ist nicht nur eine Konsequenz der Wachstumsideologie, es wird auch von der Dynamik der Marktwirtschaft verursacht. Das zeigt sich etwa bei Projekten wie Kooperativen: Sie verweigern sich der Wachstumsideologie, müssen aber dennoch wachsen, um in der Marktwirtschaft bestehen zu können.
  • Degrowth und Kapitalismus: Degrowth innerhalb von Kapitalismus, besonders in einer globalisierten Welt, ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Kapitalismus braucht Wachstum zur eigenen Reproduktion. Ist Wachstum nicht möglich, folgt eine Wirtschaftskrise oder ein Krieg und es findet eine Restrukturierung statt, die gewöhnlich eine noch höhere Machtkonzentration, mehr Ungleichheit und eine stärkere Ausbeutung von Umwelt und/oder der Bevölkerung bedeutet.

Befürworter_innen der Degrowth-Bewegung müssen sich fragen, welche Gesellschaftsorganisation eine Reduktion des materiellen Konsums begünstigen könnte? Welche Gesellschaftsorganisation könnte das menschliche Leben wieder in die Natur einbetten? – Wir sind der Meinung, dass dies in einer Marktwirtschaft nicht möglich ist. Welches System könnte außerdem einen großen Teil struktureller Unterdrückung beenden? Wir denken nicht, dass dies möglich ist, solange wir am System der Nationalstaaten festhalten, in dem Eliten und Hierarchien eine Voraussetzung für das Überleben sind, da sie fast alles kontrollieren, was wir benötigen, um zu überleben: Nahrungsmittelproduktion, medizinische Versorgung, Energieproduktion. Das bedeutet also, dass die Wachstumsökonomie weder mit Reformen noch mit isolierten Projekten überwunden werden kann.

Wir brauchen sowohl eine neue kollektive Erzählung und neue Werte als auch neue Institutionen und öffentliche Räume, um diese Werte zu stärken und zu wahren. Diese Institutionen müssten über bestimmte strukturelle Elemente wie beispielsweise Selbstverantwortung und lokale Versammlungen verfügen, und sie müssten sowohl von unmittelbaren nachbarschaftlichen Beziehungen als auch von unmittelbaren direkten Beziehungen zu den Mitteln, die uns am Leben erhalten, getragen werden.

Es geht nicht nur um Lebensstil: Um den Problemen des Wachstums und des gegenwärtigen Systems begegnen zu können, ist es weder hilfreich, sie als Lebensstilfrage zu interpretieren, noch können wir sie durch einen „besseren“ Lebensstil lösen. Wir müssen unseren Lebensstil verändern; wenn wir aber einen Wandel der Gesellschaft erzielen wollen, müssen wir diese Veränderung des Lebensstils mit einer politischen Strategie verbinden. Wir brauchen eine breiter angelegte Strategie für gesellschaftlichen Wandel, mit der es gelingt, unserer sämtlichen Aktivitäten miteinander zu verbinden, neue soziale Institutionen hervorzubringen und die bestehenden abzuschaffen.

5. Offene Diskussionen und lokale Projekte, um das aktuelle System zu dekonstruieren

Es ist uns ein Anliegen, Praktiken und einige analytische Ansichten der Degrowth-Bewegung in eine breitere Gemeinschaftsbewegung zu integrieren, dies mit dem Ziel, die Gesellschaft basisdemokratisch zu verändern und der Herrschaft in all ihren Ausdrucksformen (politisch, wirtschaftlich, ökologisch, sozial…) ein Ende zu bereiten.
Wir haben während der 15M-Demonstrationen viel gelernt. Aber: Es hat nicht gereicht für die Veränderungen, die wir wollen und
brauchen. Unserer Meinung nach ist die 15M-Bewegung nicht weit genug gegangen, weil es an klaren Ideen, Ansätzen, Ressourcen, Beispielen etc. mangelte. Die Kräfte wurden nicht gezielt genug gebündelt, um das alltägliche Leben der Menschen zu verändern. Dies wiederum bräuchte es, um eine breiter angelegte Bewegung auf die Beine zu stellen, die die Welt, wie wir sie kennen, verändern könnte.

Wir schlagen deshalb vor, unsere Anstrengung auf zwei
Hauptbereiche zu konzentrieren. Erstens wollen wir gemeinsame Räume schaffen, in denen offene Diskussion stattfinden können, um eine gemeinsame Schilderung dessen zu erarbeiten, wie wir die Welt analysieren und wie wir leben möchten. Zweitens wollen wir lokale Projekte initiieren, aus denen heraus wir die Welt, so wie wir sie uns wünschen, ausprobieren können, wo wir unsere Ideen entwickeln und überarbeiten können, aus denen heraus wir uns Tun verteidigen können und wo wir ein System des gemeinschaftlichen Lebens etablieren können, das die Macht hat, das vorherrschende System auszuhebeln und zu dekonstruieren.

Fußnoten

1) CCOO (Comisiones Obreras) und UGT (Unión General de Trabajadores) sind die bedeutendsten Gewerkschaften in Spanien.

2) Der demokratische Konföderalismus ist ein freiheitlich sozialistisches politisches System, das von Abdullah Ocalan entwickelt wurde und aktuell von Kurd_innen angewendet wird, besonders in den kurdischen Teilen Syriens. Es basiert auf der direkten Demokratie und einem basisdemokratischen Ansatz. Es ist offen gegenüber anderen politischen Gruppen und Fraktionen. Es ist flexibel, multikulturell, anti-monopolistisch und konsensorientiert.

3) Es gab zum Beispiel während der Besetzung der öffentlichen Plätze tägliche Versammlungen vor Ort, an denen tausende Menschen teilnahmen. Diese täglichen Versammlungen waren dabei weit davon entfernt, tatsächliche demokratische Versammlungen zu sein, da es weder eine Kultur noch das „Handwerkszeug“ dafür gab. Auch waren sie inhaltlich nicht sonderlich relevant, da die Diskussionen nicht über mehrere Treffen hinweg fortgeführt wurden; bei jeder täglichen Versammlung handelte es sich also um eine isolierte Veranstaltung. Die beteiligten Communitys wurden nicht ermächtigt und ihnen fehlte die entsprechende Struktur, um sich in diesem Rahmen zu organisieren. Sie litten unter „Versammleritis“. Versammlungen fungierten eher als Lebensstil denn als Mittel der Selbstverwaltung.