Ernährungssouveränität:
Weder Wachsen noch Weichen,
sondern gutes Essen für alle!
Autor*innen:
Irmi Salzer
Julianna Fehlinger
Wir verstehen uns als Teil der Bewegung für Ernährungssouveränität und schreiben aus der Perspektive der Österreichischen Berg- und Kleinbäuer_innenvereinigung ÖBV – Via Campesina Austria (Irmi Salzer) und der agrarpolitischen Gruppe AgrarAttac (Julianna Fehlinger). Wir sind vor allem in österreichweiten Netzwerken aktiv und beteiligen uns an der Nyéléni-Bewegung für Ernährungssouveränität. Auch in den europäischen Nyéléni-Prozess sind wir eingebunden und dadurch mit Partner*innen in ganz Europa vernetzt. Irmi Salzer ist Biobäuerin im Burgenland und Julianna Fehlinger ist mal Gemeinschaftsbäuerin, mal Älplerin.
1. Ernährungssouveränität: das Recht aller Menschen, über die Art und Weise, wie Essen produziert, verteilt und konsumiert wird, demokratisch zu bestimmen
Das Konzept der Ernährungssouveränität wurde 1996 beim Welternährungsgipfel der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) von La Via Campesina, dem weltweiten Bündnis von Kleinbäuer*innen, Landarbeiter*innen, Fischer*innen, Landlosen und Indigenen, vorgestellt. Seit damals ist Ernährungssouveränität das politische Leitmotiv einer wachsenden Anzahl von sozialen Akteur*innen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sektoren. Sie kämpfen für eine Umgestaltung des von Konzerninteressen dominierten und auf Profite ausgerichteten globalen Agrar- und Ernährungssystems.
Kleinbäuer*innenbewegungen (zunächst vor allem in Lateinamerika und Europa, später dann global) erkannten Anfang der 1990er Jahre, dass angesichts der Globalisierung der landwirtschaftlichen Märkte und der zunehmenden politischen Macht von Institutionen wie der WTO im Bereich der Landwirtschaft eine ebenfalls global tätige Allianz von Bäuer*innen vonnöten ist. Mit der Gründung von La Via Campesina wollten sie den neoliberalen Entwicklungen, die die (Über-)Lebenschancen von Millionen Kleinbäuer*innen beschnitten und die Situation der Hungernden weltweit verschlechterten, eine starke transnationale Bewegung entgegenstellen. Als Antwort auf den technischen Begriff der „Ernährungssicherheit“ (food security), der von der FAO geprägt wurde und zahlreiche Fragen ausblendet, erarbeitete die junge Bewegung das Konzept der Ernährungssouveränität. Ernährungssouveränität fragt nach den Machtverhältnissen, in die unser Lebensmittelsystem eingebettet ist, sie fragt nach den Bedingungen der Produktion und Verteilung, sie kümmert sich um die Auswirkungen unserer Produktionsmethoden auf zukünftige Generationen und sie stellt die Menschen, die Lebensmittel produzieren und konsumieren, in den Mittelpunkt.
Die Prinzipien der Ernährungssouveränität
Ernährungssouveränität wird als Rahmen verstanden, der laufend durch lokale und konkrete Umsetzung ausgefüllt werden muss. Ernährungssouveränität kann nicht top-down und auch nicht ein für alle Mal definiert, sondern nur in kollektiven Aushandlungsprozessen ausgestaltet werden. Im Zuge des Nyéléni-Prozesses (Nyéléni nennt sich die globale Bewegung für Ernährungssouveränität, siehe unten) wurde versucht, die wesentlichen Prinzipien von Ernährungssouveränität, die auf den vielfältigen Lebensrealitäten der Bäuer*innen wie auch der Essenden beruhen, zu definieren. Dazu gehören die Wertschätzung der Lebensmittelhersteller*innen, der Vorrang der Ernährung der Bevölkerung (anstelle der Produktion für den Export), die Etablierung von lokalen Produktionssystemen sowie die Stärkung der lokalen Kontrolle, der Aufbau von Wissen und Fertigkeiten und nicht zuletzt die Arbeit mit der anstatt gegen die Natur.
Ernährungssouveränität umfasst Rechte von Einzelpersonen, Gemeinschaften und Institutionen (wie zum Beispiel Staaten) sowie einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur, den Tieren und den Mitmenschen. Im vorherrschenden Agrar- und Lebensmittelsystem wird dem Großteil der Produzent*innen das Recht auf demokratische Teilhabe in allen Politikbereichen, die die Herstellung, die Weiterverarbeitung und Verteilung von Lebensmitteln bestimmen, systematisch verweigert. Internationale Handelsabkommen, Subventionssysteme, Gentechnikgesetzgebungen, Hygienebestimmungen, Richtlinien zum Zugang zu Märkten, Produktionsvorschriften etc. werden größtenteils ohne Mitspracherechte der unmittelbar davon Betroffenen verabschiedet. Das Recht, die Agrar-, Lebensmittel-, Fischerei-, Sozial-, Handels- oder Energiepolitik demokratisch zu kontrollieren und zu bestimmen, ist die Voraussetzung dafür, andere Rechte – wie etwa das Recht auf Nahrung, auf Bildung, auf Zugang zu Ressourcen – durchsetzen zu können.
Erst durch all diese Rechte wird es Produzent*innen möglich, ihrer Verantwortung für natürliche Ressourcen, wie zum Beispiel Boden, und für Biodiversität und Klima gerecht zu werden, damit auch zukünftige Generationen hochwertige Lebensmittel erzeugen können.
Ernährungssouveränität verpflichtet dazu, solidarisch zu sein. Wir brauchen transnationale Solidarität, Vernetzung und gegenseitige Unterstützung, um Ausbeutung und Herrschaftsmechanismen die Stirn bieten zu können. Lokaler Widerstand und lokale Alternativen müssen um eine globale Perspektive ergänzt werden.
Kapitel vom Buch
Degrowth in Bewegung(en)
32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation
Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.)
Die hier versammelten 32 sozialen Bewegungen, alternativ-ökonomischen Strömungen und Initiativen suchen nach Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell. Sie fordern einen Paradigmenwechsel: weg vom Fokus auf Wettbewerb, Gewinnstreben, Ausbeutung und Wachstum – hin zu mehr Kooperation, Solidarität und einer Orientierung an konkreten Bedürfnissen. Es geht darum, die Bedingungen für ein gutes Leben für alle zu schaffen. Aber welche unterschiedlichen Wege für eine sozial-ökologische Transformation gibt es? Welche Hürden sind zu überwinden? Welche Gruppen sind beteiligt, wer macht was und wie ist das Verhältnis zueinander? Welche Bündnisse sind möglich? Diesen Fragen sind Protagonist*innen der Bewegungen in einem zweijährigen Vernetzungs- und Schreibprozess nachgegangen. Die daraus entstandenen Beiträge motivieren zu eigenem Tun und Engagement.
2. Von den Bäuer*innen bis zu den Essenden – Ernährungssouveränität gemeinsam definieren und soziale und ökologische Kämpfe in Süd und Nord verbinden
Ernährungssouveränität wurde seit den 1990er Jahren als Alternative für den globalen Norden und Süden erarbeitet. Anfänglich wurde die Diskussion um Ernährungssouveränität hauptsächlich von La Via Campesina getragen. La Via Campesina erkannte jedoch bald, dass eine tiefgreifende Änderung und Demokratisierung der Agrar- und Ernährungssysteme nur erkämpft werden kann, wenn die Bewegung Bündnisse sucht, die über die Produzent*innen hinausgehen, und wenn sie Allianzen mit anderen Bewegungen schmiedet. 2007 fand deshalb in Mali das erste internationale Forum für Ernährungssouveränität, das Nyéléni-Forum, statt. Zusammen mit Initiativen und Organisationen aus den Bereichen Umweltschutz und Menschenrechte, Konsument*innen und Frauenbewegungen, aber auch urbanen Bewegungen wurde an den Prinzipien von Ernährungssouveränität gearbeitet, wurden gemeinsame Ziele, Gegner und Forderungen festgelegt. Seit damals wurden regionale (zum Beispiel das Europäische Forum für Ernährungssouveränität 2011 in Krems/Österreich) und nationale Foren abgehalten. Aufbauend auf den gemeinsamen Prinzipien der Demokratisierung, der Solidarität, der lokalen Kontrolle, des sorgfältigen Umgangs mit der Natur arbeitet die Bewegung für Ernährungssouveränität laufend an der (Weiter-)Entwicklung von alternativen Praxen.
Im Bereich der Produktionsmodelle werden anpassungsfähige (resiliente) agroökologische Produktionsweisen erprobt, die beispielsweise samenfestes, gentechnikfreies Saatgut verwenden, die Erdölabhängigkeit der landwirtschaftlichen Produktion reduzieren und auf Kreisläufen basieren.
Im Bereich der Lebensmittelversorgung werden Produzent*innen-Konsument*innen-Netzwerke aufgebaut, indem etwa herkömmliche Märkte durch solidarische Beziehungen (CSA/solidarische Landwirtschaft (1)) ersetzt werden oder Einkaufsgemeinschaften ein existenzsicherndes Einkommen für die Produzent*innen garantieren. Auf Vertrauen basierende gemeinschaftliche Zertifizierungssysteme (PGS) ersetzen staatliche Kontrolle, alternative Bildungsnetzwerke sorgen für Wissensweitergabe auf Augenhöhe und schaffen Begegnungsräume für alle Beteiligten des Agrar- und Lebensmittelsystems.
Um den Wettlauf um Grund und Boden zu unterbrechen und den Zugang zu Land für all jene, die es bewirtschaften wollen, zu ermöglichen, werden Modelle entwickelt, die Land dem kapitalistischen Verwertungskreislauf entziehen und gemeinschaftliche Nutzungsformen (Commons) befördern.
Für alle Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ob Männer oder Frauen, fordert die Bewegung für Ernährungssouveränität globale soziale Rechte und menschenwürdige Arbeitsbedingungen im gesamten Agrar- und Ernährungssystem.
Durch die Ermöglichung emanzipatorischer Prozesse sollen Bürger*innen dazu befähigt werden, gleichberechtigt und aktiv an der Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen des Agrar- und Ernährungssystems teilhaben zu können. Die Akteur*innen im globalen Süden und Norden sind dabei mit teils ähnlichen, teils aber auch sehr verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Problemlagen konfrontiert. Die Vielfalt der Gruppierungen, die sich unter dem „gemeinsamen Zelt“ (Patel 2009) Ernährungssouveränität versammeln, ist eine der Stärken, aber auch eine der Herausforderungen für die globale Bewegung für Ernährungssouveränität.
Demokratisierung und das Recht, Rechte zu haben
Um das Recht auf demokratische Mitbestimmung des Agrar- und Lebensmittelsystems wahrnehmen zu können, braucht es Voraussetzungen, die in unserer von Exklusionsmechanismen und Herrschaftsverhältnissen geprägten Gesellschaft nicht selbstverständlich sind. Insbesondere Menschen mit niedrigem Einkommen, Migrant*innen und Frauen sind oft von Partizipation und Teilhabe ausgeschlossen. Ernährungssouveränität will und muss daher für Bedingungen kämpfen, die es allen Menschen ermöglichen, ihre sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte und ihr Recht auf Mitbestimmung einzufordern und wahrzunehmen.
3. Gemeinsam gegen falsche Alternativen und für eine sozial-ökologische Transformation eintreten
Im deutschsprachigen Raum stehen die Bewegungen Degrowth und Ernährungssouveränität in enger Verbindung, da sie von ähnlichen aktivistischen Gruppen und Initiativen (zum Beispiel: städtisches Gärtnern, solidarische Landwirtschaft, Food Coops, Feldbesetzungen, Agrarökologie) getragen werden oder sich auf dieselben Ansätze für alternative Wege (wie Subsistenz, bedingungsloses Grundeinkommen, Commons, Umwelt- und Klimagerechtigkeit) beziehen. All diese Ansätze und Initiativen sind Experimentierfelder sowohl für Ernährungssouveränität als auch für Degrowth. In beiden Konzepten spielt das Zusammenwirken von (eher gering institutionalisierter) Wissenschaft, sozialen Bewegungen und praktischen (kollektiven) Erfahrungen eine wichtige Rolle.
Sowohl Ernährungssouveränität als auch Degrowth geht es um einen anderen Begriff von Wohlstand, der sozial-ökologische Produktionsformen ebenso umschließt wie eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft (und auch der Wirtschaft). Hier wie dort geht es um die Schaffung neuer Werte, die in einer solidarischen und ökologischen Weise ein gutes Leben für alle ermöglichen. Sie können beide nur global und nicht national gedacht werden. Eine Annäherung zwischen beiden Perspektiven und Bewegungen lässt sich an einem Beispiel der jüngsten Zeit ablesen: Attac Deutschland und die Aktion Agrar starteten 2016 eine Kampagne zur Milchkrise mit dem Titel: „Kühe und Bauern nicht verpulvern!“, in der Diskurse rund um Postwachstum mit jenen um Ernährungssouveränität verbunden werden.
Das Konzept der Ernährungssouveränität hat eine zwanzig Jahre umfassende Geschichte und wird in ganz konkreten Kämpfen immer wieder neu ausgehandelt – sowohl im globalen Süden als auch im globalen Norden. Der Degrowth-Diskurs ist (als breit diskutiertes Konzept) jünger und stark von universitären Diskursen aus dem globalen Norden geprägt. Er wird von vielen aktivistischen Gruppen und Graswurzelinitiativen aufgegriffen und hat in jüngster Zeit ein enormes Mobilisierungspotential entwickelt.
Im Folgenden möchten wir einige Kriterien festhalten, nach denen wir eine Anschlussfähigkeit von Degrowth und Ernährungssouveränität beurteilen (2).
Macht- und Herrschaftsverhältnisse analysieren
Wir halten jene Strömungen der Degrowth-Bewegung für fruchtbar, die Profiteur*innen des kapitalistischen Akkumulationsmodells benennen und die sich mit dem Wachstumszwang der kapitalistischen Marktwirtschaft befassen. Mit dem Konzept Ernährungssouveränität gelingt es nur bedingt, die Triebkräfte dieses Wachstumszwangs sichtbar zu machen und die gesellschaftlichen Auswirkungen zu verstehen, die aus dessen Überwindung resultieren würden. Mit Ernährungssouveränität wird besonders die Profitlogik, die Bedürfnisse der Menschen hintanstellt oder sie zum Zwecke der kaufkräftigen Nachfrage produziert, fundamental kritisiert. Der Markt wird als schlechter Zuordnungs- und Verteilungsmechanismus entblößt (derzeit zum Beispiel anhand der Krise des Milchmarktes). Degrowth-Diskurse sollten daher, um befruchtend für die Bewegung für Ernährungssouveränität zu sein, genau benennen können, warum die Wirtschaft im Kapitalismus wachsen muss, welches Wachstum zurückgehen muss und welche Herrschaftsverhältnisse dem Wachstumszwang eingeschrieben sind. Wichtig ist dabei, Macht nicht nur als Besitz, sondern auch als soziale Macht, als Machtverhältnis zu begreifen.
Soziale und ökologische Krisen zusammendenken
Innerhalb der Degrowth-Bewegung gibt es sowohl soziale Wachstumskritik als auch ökologische. Nur wenn es gelingt, die Fragen und Kritikpunkte beider Strömungen sinnvoll zu verbinden und in gemeinsame Standpunkte und Forderungen zu übersetzen, wenn Degrowth also für eine soziale und ökologische – eine sozial-ökologische – Transformation eintritt, kann Degrowth für Ernährungssouveränität bereichernd sein. Auch innerhalb des Ernährungssouveränitätsdiskurses muss dieser Spannungsbogen immer wieder aufrechterhalten werden.
Die Welt ist keine Ware – Positionierung gegen kapitalistische Einhegung
In der aktuellen kapitalistischen Dynamik werden immer mehr Bereiche der Gesellschaft in marktfähige Waren verwandelt. Neben der Arbeitskraft, die schon zu Beginn des Kapitalismus zur Ware gemacht wurde und einigen Teilen der bearbeiteten Natur (wie Lebensmittel), werden zunehmend auch neue Aspekte der Natur (wie Treibhausgase) und des Sozialen (hier vor allem Teile der Sorgearbeit) kommodifiziert. Eine klare Position gegen diese Prozesse zu beziehen und stattdessen für die Organisierung besagter und weiterer Bereiche als Commons einzutreten, ist wichtig für einen gemeinsamen Weg von Degrowth und Ernährungssouveränität.
Gemeinsam gegen falsche Alternativen
Zentrale Argumente von Degrowth wie auch von Ernährungssouveränität sind im Alltagsverstand vieler kritischer Bürger*innen bereits gut verankert, was sich beide Bewegungen zunutze machen können. Dem Satz „Wir leben in einer endlichen Welt, in der es kein unendliches Wachstum geben kann“ können die meisten dieser Menschen ebenso zustimmen wie einer Kritik an der industriellen Landwirtschaft und an Massentierhaltung. Die besondere Kunst beider Bewegungen besteht jedoch darin, Menschen zu politisieren und begreifbar zu machen, dass Supermärkte, die Bio verkaufen, ebenso wenig zur Rettung der Welt beitragen wie sogenanntes grünes Wachstum. Dafür müssen die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Perspektiven progressiver Kräfte auf Verteilungsfragen zugespitzt werden und dürfen nicht in moralisierender Konsumkritik verharren. Nur so können falsche Alternativen (wie green Economy, kritischer Konsum und Biozertifikate) und zu sehr in der Realpolitik verhaftete Ansätze überwunden, nur so kann an Utopien – wie Degrowth und Ernährungssouveränität – gearbeitet werden
4. Wachstumskritik auf die Produktionsseite konzentrieren und Herrschaftsverhältnisse beim Ressourcenverbrauch problematisieren
„Weder Wachsen noch Weichen!“ ist einer der zentralen Slogans europäischer bäuerlicher Bewegungen. Sie kritisieren damit den Agrarstrukturwandel, der die kleinbäuerlichen Betriebe massiv unter Druck setzt und seit Jahrzehnten zu einer Aufgabe von Höfen führt. Dieser Strukturwandel ist aufs engste mit der Liberalisierung der Agrarmärkte und der Industrialisierung der Landwirtschaft verknüpft. Der Slogan zielt ab auf die Höfe selbst, die – um eine bäuerliche Landwirtschaft weiterhin zu ermöglichen – weder wachsen (in Bezug auf die bewirtschaftete Fläche) noch weichen sollen. Dieser Wachstumsbegriff beschreibt nicht in erster Linie das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP), dessen zentrale Rolle in Wirtschaft und Politik durch die Degrowth-Bewegung kritisiert wird. Beide Wachstumsbegriffe sind aber eng miteinander verknüpft. Der Wachstumsbegriff beim „Wachsen oder Weichen“, dem sich die bäuerliche Bewegung entgegenstellt, dreht sich um eine Effizienzsteigerung pro geleisteter Arbeitskraftstunde auf den Höfen, nicht jedoch pro Fläche. Geht es nach dem Agrobusiness, soll die gesamte landwirtschaftliche Produktion durch den Agrarstrukturwandel wachsen und effizienter werden, vorgeblich „um die Hungernden dieser Welt zu ernähren“. Der Weltagrarbericht hat jedoch deutlich gemacht: Pro Fläche und vor allem pro eingesetzter Energieeinheit sind bäuerliche, agrarökologische Systeme viel effizienter als industrielle, auf Monokultur und Massentierhaltung beruhende Agrarwirtschaft. Außerdem können sie sich besser an den Bedürfnissen der Menschen orientieren und damit die Versorgung aller sicherstellen.
Aktuell ist durch die Abschaffung der Milchquote im April 2015 und die Krise der Preise landwirtschaftlicher Produkte (besonders von Milch sowie von Schweinefleisch) der Begriff „Wachsen oder Weichen“ wieder in aller Munde. Wir sehen darin eine Möglichkeit, wachstumskritische Debatten zu führen, die die Produktionsseite thematisieren und nicht, wie das meist der Fall ist, auf die Seite des Konsums zu fokussieren. In solchen unmittelbaren Auseinandersetzungen zur Agrar- und Ernährungspolitik bringt die Bewegung für Ernährungssouveränität viele Erfahrungen mit, die auch bereichernd für die Degrowth-Bewegung sein können.
Innerhalb der Ernährungssouveränitätsbewegung gibt es oft wenig systematisches Nachdenken über den Wachstumsbegriff. Die Bewegung thematisiert vor allem die negativen Auswirkungen, die diese Politik auf den Agrar- und Ernährungsbereich hat. Warum ökonomisches Wachstum im Kapitalismus unbedingt notwendig ist und wie dieses als wesentliches Mittel zur gesellschaftlichen Befriedung benutzt wird (mit einem wachsenden Kuchen lassen sich Verteilungsprobleme leichter lösen), wird hier kaum analysiert. Eine solche Debatte wäre aber ein hilfreicher Beitrag, um politisch handlungsfähiger zu werden.
Subsistenz, Sozialromantik und Ressourcenkontingente
Subsistenz als Eigenversorgung wird von Teilen der Bewegung für Ernährungssouveränität als Bestandteil einer Regionalisierung der Lebensmittelerzeugung identifiziert und positiv bewertet. Sie ist jedoch kein Ziel als solches. Denn insbesondere im globalen Süden reichen Subsistenz- und Semisubsistenzlandwirtschaft oftmals nicht aus, ein gutes Leben der Produzent*innen zu gewährleisten. Das Hauptaugenmerk der Bewegung für Ernährungssouveränität liegt auf der Herstellung und Stärkung von lokalen und regionalen Produktions- und Distributionssystemen und auf der Wiedereroberung der gemeinschaftlichen Kontrolle darüber. Individualistisches Aussteiger*innentum wird als entpolitisierend wahrgenommen. Kollektives und solidarisches Handeln stehen im Zentrum der Bewegung, die Forderung nach (individueller) Selbstbeschränkung und Genügsamkeit wird nicht erhoben. Zudem begnügt sich die Bewegung nicht mit dem Aufbau parallel-gesellschaftlicher zivilisationskritischer Alternativprojekte. Die Nyéléni-Bewegung formulierte 2011 beim europäischen Forum in Krems folgende Handlungsstrategien: Widerstand leisten – Transformieren – Alternativen aufbauen. Wesentlich dabei ist, dass diese drei Strategien gleichberechtigt und gleichzeitig erfolgen. Insbesondere die suffizienzorientierten und auf individuelle Verhaltensänderungen fokussierenden Strömungen der Degrowth-Bewegung könnten unserer Meinung nach von einer derartigen Politisierung profitieren.
Die Rückbesinnung auf vergangene Lebensstile, die in Teilen der Degrowth-Bewegung mit moralischem Unterton propagiert wird, ist keine Perspektive der Bewegung für Ernährungssouveränität. Derartige Zielsetzungen blenden historische Herrschaftsverhältnisse aus und reduzieren die Frage nach ökologisch und sozial gerechten Wirtschaftsweisen auf messbare Kenngrößen (wie den ökologischer Fußabdruck) oder sie beinhalten romantisierende Unterstellungen. Die bäuerliche Wirtschaftsweise der vergangenen Jahrhunderte in weiten Teilen Europas folgte zwar den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft, war aber streng hierarchisch und patriarchal organisiert. Andererseits haben die Errungenschaften der Kommunikationstechnik historisch einmalige Handlungsspielräume für transnationale Solidarität eröffnet. Eine fruchtbare Verbindung zwischen den Errungenschaften der Modernisierung und überlieferten Kulturtechniken sowie sozialen Organisierungsformen (beispielsweise Commons) muss das Ziel einer emanzipatorischen Bewegung sein.
Insbesondere die Forderung nach einer Kontingentierung von Ressourcenverbrauch, die im Kontext von wachstumskritischen Bewegungen immer wieder erhoben wird, wird in der Bewegung für Ernährungssouveränität als problematisch identifiziert. Wer sich mit der Endlichkeit und dem Schutz von Ressourcen wie Wasser und Land beschäftigt, muss immer darauf achten, welche Machtverhältnisse, Ausschlussmechanismen und Verteilungsfragen damit verknüpft sind. Was bedeutet beispielsweise die Verpflichtung, den Ausstoß von CO2 zu begrenzen, für die mehr als eine Milliarde Menschen, die global keinen Zugang zu Elektrizität haben? Individuelle und im problematischsten Fall handelbare Ressourcenkontingentierungen sind autoritäre, technokratische und Herrschaftsverhältnisse ausblendende Scheinlösungen, die uns bei der Verwirklichung einer sozial-ökologischen Transformation nicht weiterhelfen. Sie basieren auf der monetären Bewertung von Natur und Leben. Deren Kommodifizierung wird damit weiter vorangetrieben.
5. „Ein gutes Leben für alle!“– durch Solidarität und wechselseitige Ergänzung sozialer und ökologischer Bewegungen
Ansatzpunkt für gemeinsame emanzipatorische Bewegungen müsste die Solidarität zwischen den einzelnen Kämpfen sein sowie die Erkenntnis, dass zukünftige Erfolge in der wechselseitigen Ergänzung der Bewegungen verortet sind. Dazu braucht es die Bereitschaft, voneinander zu lernen und Erfahrungen anderen verfügbar zu machen. Es bedarf zudem einer weitergehenden Debatte über den herrschaftlichen Gehalt des kapitalistischen Wachstums (Brand 2015). Produktion und Konsum müssen über ihren „Charakter als kapitalistische, patriarchale, rassifizierte oder postkoloniale soziale Verhältnisse“ (Brand 2015: 34) befragt werden, um die Bedingungen für eine solidarische sozial-ökologische Transformation erarbeiten zu können.
Das Ziel, ein gutes Leben für alle zu erkämpfen, erscheint uns als wichtigste verbindende Botschaft emanzipatorischer Bewegungen. Was ein gutes Leben bedeutet, wird in den komplementären sozialen Bewegungen und in ihren Kämpfen tagtäglich bestimmt.
Die sogenannte „Befreiung vom Überfluss“ kann wiederum nicht das Ziel emanzipatorischer Bewegungen sein. Dieser kann bis heute nur durch postkoloniale Ausbeutung der Länder des globalen Südens und vor allem der niedrigen sozialen Schichten des globalen Nordens und Südens erzeugt werden. Der wichtigste soziale Kampf in unserer kapitalistischen Gesellschaft ist der zwischen Arm und Reich; die homogenisierende Frage, wie sich unsere Gesellschaften vom Überfluss befreien können, erscheint uns dabei zynisch. Nun, da so viele Menschen vor den Toren Europas darauf warten, ein wenig am Überfluss zu partizipieren, wird mit besonderer Brutalität deutlich, dass in Europa kaum jemand bereit oder in der Lage ist, etwas abzugeben: Einerseits profitieren Menschen durch Reallohnverluste immer weniger vom Überfluss, andererseits geht es um Besitzstandswahrung. Um dies nicht offen zugeben zu müssen, werden die Flüchtenden schlichtweg kriminalisiert. Dass diese Strategie überhaupt möglich ist, liegt aus unserer Sicht vor allem an der enormen sozialen Ungleichheit, die durch die neoliberalen Politiken weltweit vorangetrieben wurde. Diejenigen, die wir kollektiv von ihrem Überfluss befreien sollten, rücken dabei aus dem Blickfeld.
Neben dem solidarischen Miteinander unterschiedlicher sozialer und ökologischer Bewegungen möchten wir uns für eine Gleichzeitigkeit diverser politischer Strategien aussprechen. Wie oben bereits erwähnt, versucht die Bewegung für Ernährungssouveränität in Europa mit drei unterschiedlichen, aber einander ergänzenden und befruchtenden Strategien Transformation zu ermöglichen: Widerstand leisten – Transformieren – Alternativen aufbauen.
Auch wenn es angesichts der neoliberalen kapitalistischen Landnahme, der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und der gewalttätigen Exklusion von immer mehr Menschen dringend notwendig ist, gemeinsame Strategien zu entwickeln und gemeinsame Alternativen aufzubauen, ist es wahrscheinlich illusorisch und aus unserer Perspektive auch gar nicht erstrebenswert, auf die eine und vereinte starke Bewegung zu setzen. Soziale Bewegungen brauchen eine gegenseitige Bezugnahme im Rahmen eines solidarischen Nebeneinanders. Aber jede Bewegung muss ihre eigenen Kämpfe führen.
Fußnoten:
1) CSA: Community Supported Agriculture.
2) Themen in Anlehnung an: Brand 2015.