Flucht- und migrationspolitische Kämpfe:

Vom Kampf um gleiche Rechte zur Kritik an wachstumsbezogenen Ursachen von Flucht und Migration.

Banner auf attac-Demo

„Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“ – der von Flüchtlingsselbstorganisationen geprägte Slogan verklammert auf pointierte Weise Flucht und Migration mit den komplexen Dynamiken globaler Ausbeutung und Zerstörung. Vor diesem Hintergrund bin ich mit meiner lokalen Gruppe NoLager Bremen in dem transnationalen Netzwerk Afrique-Europe-Interact aktiv, einem seit 2009 laufenden Organisierungsprozess zwischen afrikanischen und europäischen Basisinitiativen. Den Beitrag habe ich alleine verfasst, allerdings unter Rückgriff auf viele der im vorliegenden Text skizzierten Debatten und Organisierungserfahrungen – sei es mit Geflüchteten hierzulande, Abgeschobenen in Togo oder kleinbäuerlichen Aktivist_innen in Mali.

1. Im Zentrum der Kämpfe für globale Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte steht der alltägliche Widerstand der Migrant_innen und Geflüchteten selbst

Als sich am 4. September 2015 mehrere Tausend Menschen vom Budapester Hauptbahnhof zu Fuß auf den Weg Richtung Österreich machten, dämmerte es nicht nur Angela Merkel, sondern der europäischen Öffentlichkeit insgesamt: Es waren nicht Aktivist_innen, die sich in jenen Tagen anschickten, das Europäische Grenzregime buchstäblich aus den Angeln zu heben. Ausschlaggebend war vielmehr die massenhafte Aneignung des grundlegenden Rechts auf Bewegungsfreiheit durch ganz normale Menschen – junge wie alte, Kinder, Frauen und Männer, gläubige und nicht gläubige, gesunde und solche, die im Rollstuhl saßen. Diese ebenso simple wie grundlegende Feststellung verweist darauf, dass es die Migrant_innen und Geflüchteten selbst sind, die Deutschland, mithin Europa verändern – und zwar nicht erst seit dem vom politischen Mainstream irreführenderweise als „Flüchtlingskrise“ etikettierten Sommer der Migration 2015.

So stand hierzulande noch zu Beginn der Kohl-Ära 1982 der Satz „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. „Migrationspolitik war Migrationsverhinderungspolitik“, wie der Journalist Christian Jakob (2016) in seinem wunderbaren Buch „Die Bleibenden“ bissig anmerkt. Die Migrant_innen und Geflüchteten haben indessen nicht akzeptiert, dass Deutschland kein Einwanderungsland sein wollte. Vielmehr haben sie, so Jakob weiter, „dieses Dogma herausgefordert, den Zugang zu Deutschland freigekämpft und dabei die Gesellschaft verändert“ – erkennbar an Städten wie Düsseldorf, Nürnberg oder Frankfurt, wo 35 bis 45 Prozent der Wohnbevölkerung Menschen mit Migrationshintergrund sind.

Das hier skizzierte Verständnis von Migration und Flucht beruht auf der Überlegung, dass der Begriff der sozialen Bewegung nicht sozialwissenschaftlich verkürzt, sondern um die Dimension alltäglicher, oft still vonstattengehender Widerständigkeiten ergänzt werden sollte. Es gilt also, auch die hartnäckigen Alltagskämpfe, ja Überlebensstrategien von Geflüchteten und Migrant_innen als Widerstandsakte zu begreifen, das heißt als hochgradig effektive Versuche, die Grenzen der Staatsbürgerschaft aufzubrechen, neue transnationale Räume der Freiheit und Gleichheit zu erschließen und das Recht auf Mobilität einzufordern beziehungsweise in Anspruch zu nehmen.

Und doch: Auch wenn das eigentliche Epizentrum der Kämpfe um Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte die maßgeblich durch migrantische Community-Netzwerke ermöglichten Bewegungen der Geflüchteten und Migrant_innen selbst sind, so haben sich diese Überlebensstrategien stets auch mit Interventionen politischer Akteur_innen im engeren Sinne überschnitten. Gemeint sind hiermit (Diaspora-)Organisationen und Vereine von Migrant_innen und Geflüchteten genauso wie antirassistische Gruppen, Beratungsstellen und NGOs, wobei die jeweiligen Übergänge keineswegs trennscharf sind. Denn politisch organisierte Geflüchtete und Migrant_innen sind meist auch in ihre migrantischen Communitys eingebunden, gleichermaßen bestehen von antirassistischen Aktivist_innen enge persönliche und politische Bande mit Geflüchteten und Migrant_innen. In ihrer Gesamtheit sind besagte Akteur_innen und Aktivitäten so alt und vielfältig wie das Zuwanderungsgeschehen der letzten fünfzig Jahre, dies mögen einige Schlaglichter (vgl. interface 2005) veranschaulichen:

Flucht- und migrationspolitische Kämpfe seit den 1960er Jahren

In den 1960er Jahren sind Studierende aus afrikanischen Ländern innerhalb des Sozialistischen Studentenbundes SDS immer wieder gegen Rassismus, Abschiebungen und afrikanische Diktatoren aktiv geworden, wobei nicht zuletzt die erfolgreichen Demonstrationen 1964 gegen den rassistischen und Kolonialismus verherrlichenden Film „Africa Addio“ Berühmtheit erlangt haben.

In den 1970er Jahren ist es zu unzähligen Protesten von Migrant_innen aus der so genannten Gastarbeiter-Generation gekommen, unter anderem in Frankfurt gegen überteuerte Mieten und fehlende Kindergartenplätze. Höhepunkt war im August 1973 die Besetzung der Ford-Werke in Köln, nachdem 500 türkische Arbeiter_innen entlassen wurden, die verspätet aus ihrem Jahresurlaub zurückgekehrt waren. Eine Woche später beendete eine unsägliche Allianz aus Polizei, Betriebsleitung, Betriebsrat und deutschen IG-Metall-Mitgliedern den wilden Streik. Im Anschluss wurden 100 Arbeiter_innen abgeschoben, einige wanderten ins Gefängnis, 600 verloren ihren Arbeitsplatz.

In den 1980er Jahren demonstrierten in Baden-Württemberg Geflüchtete immer wieder gegen die vom damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth mit Hochdruck eingerichteten Sammellager (O-Ton Späth: „Die Buschtrommeln sollen schon in Afrika signalisieren: Kommt nicht nach Baden-Württemberg, dort müsst ihr ins Lager.“). Des Weiteren wurde 1986 nicht nur Pro Asyl gegründet, vielmehr schrieben auch die militanten Revolutionären Zellen (RZ) anlässlich ihrer vielerorts mehr oder weniger klammheimlich begrüßten Flüchtlingskampagne, dass „Migrationsbewegungen (…) nur die Rauchschwaden eines Vulkans“ wären und die antiimperialistische Linke daher aufgefordert sei, „den Willen und die Entschlossenheit der Flüchtlinge“ zu unterstützen.

In den 1990er Jahren kam es im Zuge der Wiedervereinigung zu einer regelrechten rassistischen Hasswelle gegen Geflüchtete und Migrant_innen. Allein 1992 töteten Nazis 34 Menschen in Deutschland. Ebenfalls 1992 wurde das Asylrecht de facto abgeschafft, was zusammen mit dem 1993 eingeführten Asylbewerberleistungsgesetz sowie den zwischen 1988 und 1993 verzehnfachten Abschiebezahlen zu einer extremen Zuspitzung der Lebens- und Aufenthaltssituation von Geflüchteten geführt hat. Entsprechend gründeten sich in dieser Zeit nicht nur migrantische Antifa-Gruppen, sondern auch mehrere selbstorganisierte Flüchtlingsorganisationen, darunter The Voice Refugee Forum, die Brandenburger Flüchtlingsinitiative und die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen (vgl. Jakob 2016).

In den 2000er Jahren betrat kanak attak die Bühne, ein Netzwerk, in dem vor allem Migrant_innen der zweiten und dritten Generation aktiv waren, außerdem differenzierten sich die in den 1990er Jahren begonnenen Kämpfe aus – all dies weiterhin im Lichte einer überwiegend repressiv ausgerichteten staatlichen Migrationspolitik.

Spätestens in den 2010er Jahren kam es im Zuge der Vorverlagerung des EU-Grenzregimes zu immer dramatischeren Situationen an den EU-Außengrenzen beziehungsweise in den jeweiligen Transitländern wie der Ukraine, Libyen oder Marokko. Als Reaktion entstanden seit 2009 gemischte, das heißt aus Geflüchteten und Nicht-Geflüchteten zusammengesetzte Netzwerke wie Welcome to Europe oder Afrique-Europe-Interact, zu deren Programmatik unter anderem gehört, bereits auf den Transitrouten Richtung (West- und Nord-)Europa praktisch zu intervenieren; stellvertretend erwähnt sei das WatchTheMed Alarm Phone, eine Notrufnummer für Geflüchtete in Seenot. Schließlich ist das Jahr 2012 hervorzuheben, denn damals ist ein bis 2014 andauernder Zyklus flüchtlingspolitischer Proteste entstanden, der ein bis dato nie dagewesenen Echo in der deutschen Öffentlichkeit gefunden hat – mit der Konsequenz, dass Flüchtlingssolidarität „nicht nur eine dominierende soziale Bewegung und ein boomender Wirtschaftszweig, sondern auch ein popkultureller Hype geworden“ sei, wie Christian Jakob in seinem bereits erwähnten Buch schreibt.

Das Recht, Rechte zu haben, als programmatischer Kern

Bei aller Vielfältigkeit der Themen und Auseinandersetzungen, der Bezug auf Rechte hat sich von Anfang an als so etwas wie ein kleinster gemeinsamer Nenner herauskristallisiert, paradigmatisch formuliert im Manifest des 1997 auf der documenta X ins Leben gerufenen Netzwerks kein mensch ist illegal:

„Jeder Mensch hat das Recht, selbst zu entscheiden, wo und wie er leben will. Der Regulierung von Migration und der systematischen Verweigerung von Rechten steht die Forderung nach Gleichheit in allen sozialen und politischen Belangen entgegen, nach der Respektierung der Menschenrechte jeder Person unabhängig von Herkunft und Papieren.“

Präziser: Normativer Bezugspunkt der soeben skizzierten Kämpfe ist bis heute das, was die Philosophin Hannah Arendt einst als das „Recht, Rechte zu haben“ postuliert hat. Unstrittig war hierbei immer auch, dass Rechte in der Realität durch nichts und niemanden gewährt werden – schon gar nicht durch den Staat. Sie müssten vielmehr, so das diesbezügliche Credo flucht- und migrationspolitischer Kämpfe, Schritt für Schritt von unten erkämpft werden: von ihrer erstmaligen Formulierung über ihre Anerkennung im Rahmen allgemeiner Konventionen (wie zum Beispiel in UN-Konventionen) bis hin zur Verankerung als positives, das heißt geltendes und somit auch durchsetzbares Recht (vgl. Bernau 2006).

Flucht- und migrationspolitische Debattenstränge

Nicht nur Flüchtlingsselbstorganisationen, auch gemischt zusammengesetzte Netzwerke wie Afrique-Europe-Interact geben sich mit dem auf hiesige Verhältnisse gemünzten Fokus nicht zufrieden. Sie beziehen vielmehr auch die Hintergründe von Flucht und Migration ein, wofür beispielhaft aus dem fulminanten Positionspapier „Über koloniale Ungerechtigkeit und die Fortsetzung der Barbarei“ zitiert sei, welches The Voice Refugee Forum 2009 veröffentlicht hat:

„ […] [d]ie menschliche Geschichte wird sich eines Tages an die sogenannte ‚Westliche Zivilisation‘ erinnern als die grausamste, zerstörerischste und ausgrenzendste imperiale Macht, die je existiert hat. Werden wir jemals wissen, wie viele Milliarden Menschen direkt oder indirekt deswegen ums Leben kamen?“

Solche Kontextualisierungen waren indes lange umstritten. Konkret hieß es unter anderem aus dem Umfeld von kanak attak, dass ein solches Herangehen Gefahr laufe, Menschen zum Spielball objektiver Zwangssituationen zu degradieren: Es würde einem humanistischen Diskurs in die Hände gespielt, der Geflüchtete und Migrant_innen einzig als hilflose Opfer wahrzunehmen, ja zu akzeptieren im Stande sei, nicht aber als gesellschaftliche Akteur_innen, die (offensiv) ihre Rechte einfordern beziehungsweise wahrnehmen. Mittlerweile hat sich die diesbezügliche Debatte jedoch beruhigt. Viele Gruppen konzentrieren sich allein aus Zeitgründen auf die hiesige Situation, stellen aber nicht (mehr) die Notwendigkeit in Frage, prinzipiell auch die Ursachen von Flucht und Migration systematisch in den Blick zu nehmen.

Ähnliches gilt auch für einen zweiten Debattenstrang, der ebenfalls Anfang der 2000er Jahre unter dem Stichwort der „Reökonomisierung des Antirassismus“ aufgekommen war. Ausgangspunkt war die These, dass die Festung Europa nicht nur auf Abschottung ziele, sondern auch Interesse an einer systematischen Illegalisierung hätte, um auf diese Weise ein riesiges Reservoir an leicht erpressbaren Niedriglohnarbeitskräften heranzuzüchten – sei es für das Baugewerbe, die Landwirtschaft oder haushaltsbezogene Dienstleistungen. Dass mit dem EU-Grenzregime faktisch derartige Effekte einhergehen (ob beabsichtigt oder nicht), hat seinerzeit niemand in Frage gestellt. Allerdings fürchteten Gruppen wie The Voice Refugee Forum, dass eine zu große Fokussierung auf rassistische Ausbeutungsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt Energie von flüchtlingspolitischen Kämpfen insbesondere gegen Lager, Abschiebungen und andere diskriminierende Maßnahmen abziehen könnte.

Degrowth in Bewegung(en)

32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation

Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.)

Die hier versammelten 32 sozialen Bewegungen, alternativ-ökonomischen Strömungen und Initiativen suchen nach Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell. Sie fordern einen Paradigmenwechsel: weg vom Fokus auf Wettbewerb, Gewinnstreben, Ausbeutung und Wachstum – hin zu mehr Kooperation, Solidarität und einer Orientierung an konkreten Bedürfnissen. Es geht darum, die Bedingungen für ein gutes Leben für alle zu schaffen. Aber welche unterschiedlichen Wege für eine sozial-ökologische Transformation gibt es? Welche Hürden sind zu überwinden? Welche Gruppen sind beteiligt, wer macht was und wie ist das Verhältnis zueinander? Welche Bündnisse sind möglich? Diesen Fragen sind Protagonist*innen der Bewegungen in einem zweijährigen Vernetzungs- und Schreibprozess nachgegangen. Die daraus entstandenen Beiträge motivieren zu eigenem Tun und Engagement.

2. Zwischen Vernetzung und Konflikt: die flucht- und migrationspolitische Bewegung als riesiges Mosaik

Nimmt man die eingangs formulierte These ernst, wonach sich im Zentrum flucht- und migrationspolitischer Kämpfe das Flucht- und Migrationsgeschehen selbst befindet, dürfte nachvollziehbar werden, weshalb eine genaue Beschreibung der sozialen Zusammensetzung dieser Bewegungslandschaft kaum leistbar ist, jedenfalls nicht auf die Schnelle. Denn de facto setzt sich diese Szenerie aus verschiedensten Menschen und Generationen zusammen – jeweils mit völlig unterschiedlichen Bildungs-, Arbeits- und Einwanderungsgeschichten, von unterschiedlichen politischen Haltungen ganz zu schweigen.

Gleichwohl sind in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Versuche unternommen worden, die vielfältigen Akteur_innen zusammenzubringen, etwa 1998 bei der ersten Tour der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen, seit 2005 im Rahmen der Bleiberechtsinitiative Jugendliche ohne Grenzen oder zwischen 2010 und 2014 bei drei NoBorder-Konferenzen in Frankfurt. Punktuell hat das zwar geklappt, doch grundsätzlich gilt es zunächst einmal anzuerkennen, dass reale Unterschiede nicht ohne Weiteres überwunden beziehungsweise nivelliert werden können. Konkreter an einem Beispiel: Aktivist_innen der dritten Generation, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, haben nicht automatisch die gleichen Interessen und Prioritätensetzungen wie irregulär beschäftigte Pflegekräfte aus der Ukraine oder Geflüchtete aus Togo, die unmittelbar von Abschiebung bedroht sind.

Transidentitäre Organisierungsprozesse

Das Verhalten zahlreicher deutscher Aktivist_innen war derweil immer wieder von Ignoranz, Dominanz und Paternalismus bestimmt. Als beispielsweise im Jahr 2000 beim internationalen Flüchtlingskongress in Jena mit circa 600 Teilnehmer_innen aus vierzig Ländern die Kampagne gegen die Residenzpflicht ins Leben gerufen wurde, reagierte der damalige linksradikale Mainstream unverständig, ja grantelig. Das Projekt wurde als „humanitär“ und somit „flüchtlingspolitisch beschränkt“ abgestempelt, zudem sah sich The Voice Refugee Forum angesichts seiner Hartnäckigkeit mit dem Vorwurf konfrontiert, auf dem schlechten Gewissen europäischer Aktivist_innen zu „surfen“, einzig mit der Zielsetzung, sogenannte „Kampagnensoldaten“ zu rekrutieren. Die so Gescholtenen kritisierten ihrerseits, dass die ablehnende Haltung Ausdruck weißer Ignoranz gegenüber einer rassistischen Sonderverordnung sei, die eine den gesamten Lebensalltag von Geflüchteten durchdringende Erfahrung von Demütigung, Isolierung und Einschüchterung darstelle und somit maßgeblich dafür verantwortlich sei, dass viele Geflüchtete ihr Recht auf politische Betätigung beziehungsweise Organisierung kaum wahrnehmen würden.

Mit Blick auf diese und ähnliche vor allen bei den Antirassistischen Grenzcamps (1998–2003) aufgetretenen Konflikte wurde innerhalb des NoLager-Netzwerks (2002–2007) ein Neustart versucht: Aktivist_innen mit und ohne Flucht- oder Migrationserfahrung verständigten sich darauf, im Rahmen einer intensivierten Kooperation an dem Projekt eines transidentitären Wir zu arbeiten: an der Schaffung eines politischen Akteurs, der zwar die unterschiedlichen Ausgangssituationen ernst nimmt, auf dieser Basis jedoch gemeinsame Perspektiven, Interessen und Forderungen formuliert und somit die aus der rassistischen Struktur der Gesellschaft hervorgehenden Wir-Ihr-Polarisierungen zumindest auf dem antirassistischen Feld aufbricht.

Als programmatische Klammer diente hierbei die berühmte von der (australischen) Murri-Aktivistin Lilla Watson kreierte und 2003 von der Flüchtlingsinitiative Brandenburg auf T-Shirts gedruckte Devise: „Wenn du gekommen bist, um mir zu helfen, dann verschwendest du deine Zeit. Wenn du aber gekommen bist, weil deine Freiheit mit meiner verbunden ist, dann lass uns zusammen arbeiten.“ Als handlungspraktische Maxime wurde das unter anderem aus Critical-Whiteness-Diskursen stammende Konzept der Accountability herangezogen (ohne dass dieses jedoch theoretisch diskutiert worden wäre), also die Selbstverpflichtung weißer Aktivist_innen, sich durch sogenanntes Power-Sharing zu Verbündeten von Geflüchteten, Migrant_innen und People of Colour zu machen – samt der Bereitschaft, Geld, zeitliche Ressourcen, sprachliche Übersetzungskompetenzen und andere Privilegien systematisch zu teilen (1)

 

3. Wachstumsbezogene Ursachen von Flucht- und Migration als kleinster gemeinsamer Nenner

Die Verbindungen zwischen Degrowth und bestimmten Interventionssträngen der flucht- und migrationspolitischen Bewegung liegen buchstäblich auf der Hand. Denn zahlreiche Fluchtgründe sind direkt oder indirekt das Ergebnis kapitalistischer Wachstumsimperative: Ganz gleich, ob wir über Marktöffnungen, Privatisierungen, Investitionserleichterungen, Landgrabbing, Zugang zu Ressourcen oder Ressourcenkriege sprechen, stets geht es um Wachstum, häufig gepaart mit knallharten Konkurrenzzwängen – also um gesteigerte Absatzchancen, um profitable Investitionen, um billige Produktionsstätten, um Aneignungen jener Rohstoffe, die nötig sind, um die kapitalistische Hochleistungsökonomie am Laufen zu halten. Hinzu kommen mittelbare Zusammenhänge: etwa beim Klimawandel, der die ohnehin prekäre Situation kleinbäuerlicher Haushalte zusätzlich verschärft, oder bei der Zusammenarbeit mit korrupten Regimen, die zur Durchsetzung imperialer Interessen quasi unvermeidbar ist. Insofern dürfte es keineswegs Zufall gewesen sein, dass Anfang der 1980er Jahre nicht nur die frühe Postwachstumsdebatte (die damals freilich noch unter anderen Begriffen firmierte) vorläufig verebbte, sondern auch die Länder des Südens unter die Räder der im Namen des Wachstums verordneten neoliberalen Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank gerieten.

Es gibt aber auch Widersprüchliches, mitunter Graustufen. Denn Wachstum wird von vielen Migrant_innen und Geflüchteten keineswegs als negative Entwicklung betrachtet. Vielmehr möchten sie mit ihren Geldüberweisungen (die weltweit mehr als das Doppelte der Entwicklungshilfe ausmachen) einen Beitrag zur Erhöhung des Lebensstandards ihrer Familien und lokalen Communitys leisten. Prinzipiell ist das absolut zu begrüßen, geht es doch primär um die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse wie des Zugangs zu Nahrung, Wasser, Bildung oder Gesundheitsdienstleistungen (ob durch gesteigerten Konsum oder kleingewerbliche Investitionen). Gleichwohl kann es auch zu materialistischen Überschusshandlungen kommen. In diesem Fall finanzieren Migrant_innen oder Geflüchtete mit einem Teil ihres in Europa verdienten Geldes Statussymbole wie große Häuser oder Autos. Aber auch das ist keineswegs verwerflich, jedenfalls wenn berücksichtigt wird, dass das Leben der meisten Menschen in den reichen Industrieländern weiterhin mit einem deutlich größeren CO2-Fußabdruck einhergeht als im globalen Süden. Nein, problematisch ist dieser materialistische Überschuss eher deshalb, weil er in den jeweiligen Ländern eine Art Werbeveranstaltung für das kapitalistische Konsummodell darstellt und somit die Suche nach ökologisch und sozial gerechten Entwicklungsalternativen regelrecht untergräbt.

Ein letzter Aspekt: Die Degrowth-Sommerschule 2015 war in sozialer und atmosphärischer Hinsicht ein echtes Highlight: solidarisch, äußerst freundlich und bestens organisiert. Gleichzeitig wirkte die soziale Zusammensetzung einigermaßen verstörend: überwiegend weiß, jung und akademisch gebildet. Anders formuliert: Das Ringen um Verständigung trotz unterschiedlichster Ausgangsvoraussetzungen, was für viele migrations- und flüchtlingspolitische Kämpfe quasi stilprägend ist, war im Sommerschulkontext nicht erforderlich. Stattdessen herrschte eine gewisse Monokulturalität, die zwar spannende Debatten nicht verhinderte, aber dennoch in einem paradoxen Spannungsverhältnis zur diskursiven Offenheit gegenüber den vielschichtigen Problemlagen rund um den Globus stand – ein Widerspruch, auf den ich gleich noch zurückkommen werde.

4. Was Degrowth von transnationalen Organisierungsprozessen lernen kann

Eine der zentralen Herausforderungen für soziale Bewegungen in Afrika besteht darin, mit der breiten Masse der Bevölkerung über alternative, mithin selbstbestimmte Entwicklungsmöglichkeiten ins Gespräch zu kommen. Denn sämtliche wirtschaftlichen Eckdaten sprechen dafür, dass die meisten afrikanischen Länder auf absehbare Zeit nicht die geringste Chance haben werden, sich auf den Weltmärkten aus ihrem untergeordneten Status als bloße Rohstofflieferanten zu befreien (der Fokus auf afrikanische Länder ergibt sich aus der Arbeit von Afrique-Europe-Interact, ähnliche Fragen stellen sich aber natürlich auch in anderen Weltregionen). Angesichts dessen könnte die Degrowth-Bewegung sicherlich ein wertvolles Gegenüber für soziale Bewegungen im globalen Süden darstellen, insbesondere bei der Suche nach Antworten auf die Frage, wie gesamtgesellschaftliche Transformationsperspektiven aussehen könnten. Dabei sollte allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass Menschen, die ökonomisch mit dem Rücken zur Wand stehen, in erster Linie an konkreten Lösungsvorschlägen interessiert sind, nicht aber an Grundsatzdebatten.

Und genau hier könnte Degrowth von transnationalen Netzwerken wie Afrique-Europe-Interact lernen. Denn durch dessen intensive Arbeit in gemischten Konstellationen – ob hier oder im afrikanisch-europäischen Kontext – hat Afrique-Europe-Interact zahlreiche Erfahrungen gesammelt, wie trotz erheblicher ökonomischer, sozialer, kultureller und religiöser Unterschiede nicht nur Vertrauensressourcen, sondern auch gemeinsame Handlungsperspektiven schrittweise aufgebaut werden können. Was das praktisch heißt, lässt sich beispielhaft am Umstand verdeutlichen, dass transnationale Organisierung auf der politischen, der sozialen und der persönlichen Ebene eine hochgradig widersprüchliche Angelegenheit darstellt. So hat sich bei Afrique-Europe-Interact im Jahr 2012 eine transnationale Debatte daran entzündet, dass viele der malischen Aktivist_innen unter Bezugnahme auf das Recht zur Selbstverteidigung (insbesondere gegen islamistische Terrorgruppen) eine angemessene Ausstattung der mit 12 000 Soldaten relativ kleinen malischen Armee forderten, inklusive Ausbildungsunterstützung durch die Bundeswehr – während dies vielen europäischen Aktivist_innen buchstäblich die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Auf der sozialen Ebene machen sich Widersprüche nicht zuletzt an Fragen der Organisierung fest: So gibt es in jedem malischen Dorf einen Dorfchef, wobei erst bei näherem Hinsehen deutlich wird, dass ein Dorfchef nur so lange einen guten Stand hat, wie er den Willen des Dorfes angemessen repräsentiert, was seinerseits wiederum einen durchaus basisdemokratischen Meinungsbildungsprozess voraussetzt. Schließlich die persönliche Dimension: Fakt ist, dass transnationale Netzwerkarbeit ohne wechselseitige Sympathien nicht möglich wäre, gerade angesichts der zum Teil nervenaufreibenden Handlungsabläufe. Gleichwohl wäre es abwegig, ausgerechnet in der transnationalen Organisierung das eigene Alter Ego suchen zu wollen. Eine grundlegende Herausforderung besteht insofern darin (und das gilt für beide Seiten), immer wieder Dinge stehen oder unkommentiert zu lassen, auch dann, wenn sie an den Grundfesten des eigenen politischen oder persönlichen Selbstverständnisses rütteln – etwa wenn politische Schwierigkeiten auf übersinnliche Kräfte zurückgeführt werden oder hinsichtlich unterschiedlicher Auffassungen zum Geschlechterverhältnis (vgl. Bernau 2015).

 

5. Runter vom Beobachtungs- und Debattenturm, rein in die gemeinsamen Kämpfe!

Dieser Text ist das Ergebnis einer äußerst freundlichen Degrowth-Kommunikationsoffensive. Dennoch kann ich es mir nicht verkneifen, der hiesigen Degrowth-Bewegung zuzurufen, ihren – mit Verlaub – diskursüberwucherten Beobachtungs- und Debattenturm zu verlassen. Denn gesellschaftliche Kräfteverhältnisse verändern sich ausschließlich in praktischen Auseinandersetzungen, wie aus der Schilderung flucht- und migrationspolitischer Kämpfe deutlich geworden sein dürfte.

Gleichzeitig sind in dieser Geschichte auch das Ressourcengefälle und die Gewalt zur Sprache gekommen, mit der es viele Bewegungen zu tun haben. Von der Degrowth-Bewegung würde ich mir daher in inhaltlicher beziehungsweise politischer Hinsicht eine verstärkte Mitarbeit bei fluchtursachenbezogenen Kämpfen wünschen – ganz gleich, in welchem Rahmen. Darüber hinaus sind insbesondere Kämpfe von Geflüchteten hierzulande auf stetige niedrigschwellige Unterstützung angewiesen. Beides sollte im Modus des Power-Sharing erfolgen, denn nur Bewegungen, die untereinander ihre materiellen, zeitlichen und intellektuellen Ressourcen (umver-)teilen, werden letztlich Erfolg haben können.

Fußnoten:

1) Für die hier erwähnten (Grenzcamp-)Konflikte sowie die Grundzüge des Critical-Whiteness-Konzepts siehe Bernau (2012); vgl. auch transact (2014).