Freie-Software-Bewegung:
Re-Dezentralisierung des Internets und beispielhafte Entwicklung neuer Besitzverhältnisse und Commons
Autor*innen:
Gualter Barbas Baptista
übersetzt von:
Irene Neumann
Silvia Hable
Jon Richter
Dieser Text wurde aus der Perspektive derjenigen verfasst, die sich als Teil der Freie-Software-Bewegung verstehen. Die an diesem Text Beteiligten sind persönlich in die Gestaltung von Infrastrukturen, Plattformen und Diensten als digitalen Allmenden eingebunden.
Dieser Text wurde von Gualter Barbas Baptista auf Englisch konzipiert und verfasst.
1. Frei – nicht nur umsonst: Software betreiben, überprüfen, verändern und weitergeben
Die Grundidee der Freie-Software-Bewegung ist es, den Nutzer.inne.n von Software die Möglichkeit zu geben, Programme selbst zu betreiben, zu überprüfen, zu verändern und auch weiterzugeben. Die Bewegung kam offiziell erstmals in den 1980er Jahren als Reaktion auf die stetig wachsende Vorreiterrolle proprietärer Software zum Vorschein. Diese Vorreiterrolle etablierte sich seit Ende der 1960er Jahre im Zuge der immer komplexer werdenden Softwareprogramme und der dadurch steigenden Produktionskosten.
Proprietäre Software ist für einen Wirtschaftsbereich ausgelegt, der von Konkurrenz und industriellem Wettbewerb geprägt ist. Deshalb wird sie mit Hilfe von Patentierungen geschützt. Ziel der Freien Software ist es im Gegensatz dazu, jegliche Einschränkung von Nutzung und Veränderung der Software aufzuheben, um Kooperation unter den Nutzer.inne.n zu ermöglichen. Damit soll ein technologischer Fortschritt vorangebracht werden, der jede.r.m im Cyberspace Freiheit bringt (vgl. Stallman 2006).
Obwohl die beiden Begriffe Open Source und Freie Software oft synonym verwendet werden und sich auch in ihrer Bedeutung in weiten Teilen überschneiden, ist es wichtig, sie an dieser Stelle voneinander abzugrenzen. Open-Source-Softwarelizenzen schränken unter Umständen den Gebrauch und die Wiederverwendung von Software ein. Dies entspricht nicht der Bedeutung von „frei“ beziehungsweise „libre“; dabei ist „frei“ hier im Sinne von „Redefreiheit“, nicht als „kostenlos“ zu verstehen. Um der Debatte über die unterschiedlichen Bezeichnungen ein Stück weit zu entkommen, wurde der Begriff Freie/Libre Open Source Software (FLOSS) vorgeschlagen. Nichtsdestotrotz scheint die Freie-Software-Bewegung stärker politisiert und damit der Degrowth-Bewegung näher zu sein als die Open-Source-Bewegung. Ein Teilnehmer des Chaos Communication Congress, des jährlich in Deutschland stattfindenden größten europäischen Hacking-Kongresses, äußerte gar die These, dass Open Source deshalb so stark vorangetrieben wurde, um die Ausbreitung Freier Software in die neoliberale Ideologie und kapitalistische Ökonomie zu integrieren (vgl. Prug 2007).
Die Idee der Freie-Software-Bewegung ist verknüpft mit der ursprünglichen Vision des World Wide Webs (WWW, kurz Web), wie sie durch dessen Begründer Tim Berners-Lee vertreten wurde. Kern seiner Philosophie ist es, dass das Internet als Plattform seinen Nutzer.inne.n neue Frei- und Handlungsspielräume bereitstellt. Bis zum Jahr 1996 war das Internet tatsächlich hauptsächlich eine Plattform, um Wissens- und Informationsaustausch zu ermöglichen; dies spielte sich jenseits kommerzieller Interessen ab. Bis dahin war die Kommerzialisierung de facto verboten. Heutzutage ist es jedoch kaum mehr möglich, den kommerziellen Interessen im Internet zu entkommen: Google, Dropbox oder Facebook sind nur einige Beispiele für Unternehmen, die Gewinne aus Daten, Dokumenten und Beziehungen im Internet erwirtschaften. Die Übertragung von Handlungsmacht, und oft auch der Eigentumsrechte, an Unternehmen mit kommerziellen „Datensilos“ stellt eine der größten Bedrohungen für die Vision eines freien Internets dar.
Parallel dazu ist jedoch das Entstehen neuer Muster der Produktion und Konsumtion von Technologie zu beobachten. Eine große Rolle spielen dabei vor allem sozio-technologische und weniger ausschließlich technologische Innovationen. „Fabriken“ für die Entwicklung und Rekombination von Codes, wie das berühmte GitHub, sind zu sozialen Netzwerken für eine weltweite, gemeinsame digitale Produktion geworden. Die sogenannte Sharing Economy erlaubt gleichzeitig neue Formen der Beziehung zwischen Produzent.inn.en und Konsument.inn.en, indem beiden Parteien ein gleichberechtigter Zugang zu Ressourcen verschafft wird.
Diese Entwicklungen stoßen jedoch durchaus auch auf Kritik, auch von Seiten der Freie-Software-Bewegung: Auch GitHub stellt eine zentralisierte, kommerzielle Plattform dar, und die Sharing Economy wurde zu einem großen Teil von profitorientierten Interessen und umstrittenen Modellen milliardenschwerer Start-ups wie Airbnb oder Uber kooptiert. All dies veranlasste diverse Organisationen aus dem Bereich der Sharing Economy, zum Beispiel OuiShare, als Alternative das Konzept Collaborative Economy zu entwerfen, um Initiativen, die tatsächlich auf horizontalen Netzwerken und Partizipation der Allgemeinheit basieren, abgrenzen zu können.
Was den Bereich der Hardware betrifft, findet in Fab Labs, Repair-Cafés oder der Open Source Ecology ein weltweiter Wissensaustausch statt: Die Akteur.inn.e.n tauschen ihre Erfahrungen aus, während sie an der Produktion vor Ort beteiligt sind und innerhalb ihrer „glokalen“ Communitys lernen. Darüber hinaus versuchen Initiativen wie das Fairphone oder die faire Maus, ökologischere und fairere Produktionsbedingungen anzustreben. Diese Beispiele zeigen allerdings auch, wie schwer es ist, in einem System, das der Logik des Extraktivismus natürlicher Ressourcen unterliegt, technologische Artefakte tatsächlich fair und ökologisch herzustellen.
Kapitel vom Buch
Degrowth in Bewegung(en)
32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation
Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.)
Die hier versammelten 32 sozialen Bewegungen, alternativ-ökonomischen Strömungen und Initiativen suchen nach Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell. Sie fordern einen Paradigmenwechsel: weg vom Fokus auf Wettbewerb, Gewinnstreben, Ausbeutung und Wachstum – hin zu mehr Kooperation, Solidarität und einer Orientierung an konkreten Bedürfnissen. Es geht darum, die Bedingungen für ein gutes Leben für alle zu schaffen. Aber welche unterschiedlichen Wege für eine sozial-ökologische Transformation gibt es? Welche Hürden sind zu überwinden? Welche Gruppen sind beteiligt, wer macht was und wie ist das Verhältnis zueinander? Welche Bündnisse sind möglich? Diesen Fragen sind Protagonist*innen der Bewegungen in einem zweijährigen Vernetzungs- und Schreibprozess nachgegangen. Die daraus entstandenen Beiträge motivieren zu eigenem Tun und Engagement.
2. Von Software-Aktivist.inn.en zu Technologie-Kreateur.inn.en: Nutzer.innen- und Hacking-Gemeinschaften in globalen Netzwerken
Es ist schwierig zu beschreiben, wer Teil einer Bewegung ist, die so diffus und auf verschiedenen Ebenen in andere Bewegungen eingebettet ist. Nichtsdestotrotz können einige Schlüsselpersonen und -institutionen genannt zu werden.
Richard Stallman, das GNU-Projekt und die Free Software Foundation (FSF) sind wahrscheinlich einige der wichtigsten Akteur.inn.e.n in der Entstehungsgeschichte der Bewegung für Freie Software. Das GNU-Projekt wurde von Stallman 1983 am MIT (Massachusetts Institute of Technology) begründet. Das Ziel war, Werkzeuge zu entwickeln, um ein Betriebssystem aus ausschließlich Freier Software bauen zu können. 1992 fehlte für ein vollständiges Betriebssystem lediglich der Kernel (Kern) (1). Die Veröffentlichung des Linux-Kernels unter der GNU Public License (GPL) im Jahr 1992 schloss diese Lücke. Der Linux-Kernel ist ein außergewöhnlich erfolgreiches Beispiel für das Zusammenwirken verschiedener globaler Anstrengungen: die 10 239 Zeilen des Linux-Kernel-Codes, die ursprünglich vom finnischen Studenten Linus Torvalds im Jahr 1991 veröffentlicht wurden, erweiterten sich zu über 18 Millionen Zeilen eines Quellcodes, der von der GNU Public License als Commons geschützt wird. Sein Erfolg war immens: Das, was das Internet heute ausmacht, ist zusammen mit einer großen Anzahl von Anwendungen – von Smartphones mit Android-Betriebssystemen bis hin zu TomTom-Navigationsgeräten in Autos – meistens auf der Grundlage des Linux-Kernels aufgebaut. Dabei muss aufgrund der GNU Public License der Quellcode jeder Software, die auf dem Kernel basiert, öffentlich zugänglich gemacht werden. Als Konsequenz daraus leistet jede Aktivität rund um den besagten Quellcode, egal ob sie einem profit- oder nichtprofitorientiertem Zwecke dient, einen Beitrag zum globalen Gemeingut der Quellcodes und Algorithmen.
Das mitgliederbasierte World Wide Web Consortium (W3C) definiert Standards für das Internet und versucht, die verschiedenen Visionen dazu, wie das Netz aussehen soll, miteinander in Einklang zu bringen. Das W3C ist in verschiedene Arbeitsgruppen unterteilt, die generell offen sind für neue Beitragende. Es hat sich zum Ziel gesetzt, gemeinsam Protokolle zu entwickeln, die die Weiterentwicklung des Internets unterstützen und gleichzeitig die Konditionen für die Zusammenarbeit verschiedener Akteur.inn.e.n zu verbessern.
Gemeinschafts- und nachbarschaftliche Netzwerke wie etwa die Freifunk-Initiative, die von Freier WLAN-Software unterstützt werden, tragen zu einem „vermaschten Netz“ auf Graswurzelebene bei. Zugleich leisten sie unmittelbar einen Beitrag dazu, die Besitzverhältnisse in der Internet-Infrastruktur zu verändern. So helfen die geringen Kosten eines Rasperry Pi (ein Ein-Platinen-Computer) dabei, auf dem eigenen Server einen selbstverwalteten Datenspeicher (own cloud) zu betreiben, der weniger als dreißig Euro kostet, ungefähr zehn Watt verbraucht und in eine Handfläche passt. Immer mehr Kollektive arbeiten daran, die existierende Freie Software in neuen Kombinationen weiterzuentwickeln, die einen demokratischeren Zugang zu den Diensten bieten und die besser an die Anforderungen und Nutzungsmuster der Zielgruppen angepasst sind. Zum Beispiel arbeitet die Initiative IndieWeb an einer Menschen-zentrierten Alternative zum kommerziellen World Wide Web, vor allem durch simple Standards und Werkzeuge für die plattformübergreifende Zusammenarbeit (Interoperabilität).
Sogar auf der höheren institutionellen Ebene der Europäischen Union (EU) wird der Trend zur Konzentration von Informationen mit Sorge betrachtet. Auf die Datenerfassung von Überseekonzernen, einhergehend mit versteckten globalen Überwachungstendenzen, wie sie von Citizenfour Edward Snowden offengelegt wurden, wird inzwischen reagiert: In den vergangenen Jahren sind im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 mehrere zehn Millionen Euro freigegeben worden, um Plattformen für kollektive Achtsamkeit und soziale Innovationen zu schaffen. Mit dem Fördertopf wird insbesondere auch der Beitrag von Hackingnetzwerken und Graswurzelbewegungen anerkannt: Belohnt werden Vereinigungen, an denen solcherlei Akteur.inn.e.n partizipieren.
3. Infrage stellen von Technologie durch (gemeinschaftliches) Besitzen
Innerhalb der Degrowth-Bewegung werden Technologie und insbesondere digitale Medien oft als etwas gesehen, das es zu reduzieren gilt und wovon Leben und Gesellschaft weitgehend befreit werden sollten. Dabei wird übersehen, dass wir in einem Zeitalter der digitalen Kommunikation leben, in welchem die digitalen Medien faktisch – zumindest indirekt – einen Teil des Lebens von nahezu jedem Menschen der Welt ausmachen.
In diesem Sinne würde die Nichtbeteiligung an der Weiterentwicklung der digitalen Infrastrukturen nur bedeuten, dass – ob nun mit oder ohne die Zustimmung der Nutzer.innen – jemand anderes diese Rolle übernimmt. Mit Derridas „Paradox der Gastfreundschaft“ sei in diesem Zusammenhang auf einen interessanten Aspekt hingewiesen: Die erste Gewalt, mit der ein.e Migrant.in konfrontiert wird, ist die Notwendigkeit, in der Sprache des Gastgebers nach Gastfreundschaft zu fragen – was im Gegensatz zur Gastfreundschaft steht. Diese Metapher wurde von Claudio Ciborra auf den Bereich der Technologie übersetzt: Wenn der Gastgeber, in unserem Fall sind das Organisationen und Initiativen, Fremdes, also hier die Technologie, erfolgreich integrieren möchten, muss ersterer (der Gastgeber) lernen, in der Sprache der zweiten (der Technologie) zu sprechen. Wann immer notwendig, gilt es sich der Kultur und Sprache des Gastes, sprich der Werkzeuge, anzupassen und sie zu übernehmen. Das bedeutet auch: Wenn du nicht deine eigene Technologie entwickelst, musst du dich an die Sprachen und Muster der Technologie anpassen, die jemand anderes (für dich) entwickelt hat, auch wenn diese möglicherweise nicht deinen eigenen kulturellen Werten entsprechen.
Die Komplexität des industriell-technologischen Komplexes wird heutzutage von großen Institutionen und Unternehmen aufrechterhalten. Dadurch werden die Nutzer.innen zunehmend sowohl von den technologischen Wahlmöglichkeiten und diesbezüglicher Handlungsmacht als auch von der zugrundeliegenden Infrastruktur, den Prozessen der technischen Produktion und der dafür notwendigen Ressourcenabschöpfung abgeschirmt. Zunehmende Zentralisierung verhindert digitale wie analoge Netzwerke. Der Medientheoretiker Douglas Rushkoff zeigt auf, dass das Zeitalter, in dem wir uns befinden, nicht mehr durch die mechanische, riesige Fabrik des 19. Jahrhunderts geprägt ist, sondern durch Marken und Giganten der digitalen Welt, die mit sozial vernetzten Plattformen ihre Monopole aufbauen. Diese interpretiert er als Spitze eines späten oder auch neuen Kapitalismus. Große Mengen an Beteiligungskapital werden in Ideen für die digitale Gesellschaft investiert – mit dem Ziel, so viele Nutzer.innen-Daten wie möglich zu sammeln, um schließlich ein Auswertungsmonopol und Alleinverwertungsansprüche beim öffentlichen Angebot von Dienstleistungen zu etablieren: Niemand soll Freund.inn.e.n finden, wenn nicht über Facebook, niemand sollte ein Date kriegen, wenn nicht über Tinder. Und dennoch ist Rushkoff, zusammen mit einigen Intellektuellen, Hacker.inne.n und Aktivist.inn.en aus dem Umfeld der Collaborative Economy, der Freie-Software- und der Commons-Bewegung der Meinung, dass das Internet eine Verteilungsmacht besitzt, wie bislang nichts und niemand anderes in der Geschichte der Menschheit.
Nichtsdestotrotz wird das Internet zunehmend auf einige wenige Plattformen reduziert, die meist den Charakter isolierter Informationssilos annehmen. Dies resultiert aus dem Blockieren von Hyperlinks, die den Kern des dezentralen Internets darstellen. Der für seine Tätigkeit bekannte iranische Blogger Hossein Derakshan beschreibt, wie er nach einem mehrjährigen Gefängnisaufenthalt (2008–2015) mit der Dominanz der sozialen Netzwerke konfrontiert wurde. Er befürchtete, dass sie den Hyperlink obsolet machen würden:
„Der Hyperlink war bis vor sechs Jahren meine Währung. Von der Idee des Hypertextes abstammend, wurde mit dem Hyperlink eine Vielfalt und Dezentralisierung geschaffen, die der realen Welt fehlte. Der Hyperlink repräsentierte den offenen, miteinander verbundenen Geist des World Wide Webs – eine Vision, die mit ihrem Erfinder Tim Berners-Lee begann. Der Hyperlink war ein Weg, um von der Zentralisierung wegzukommen – all die Verknüpfungen, Linien und Hierarchien – und diese durch etwas Verteilteres, ein System von Knoten und Netzwerken zu ersetzen.“
(Derakshan 2015, eigene Übersetzung)
Das Web mit seinen Hyperlinks repräsentiert in der digitalen Welt ein Werkzeug, um eine autonome Gesellschaft, wie sie etwa Castoriadis beschreibt, aufzubauen. Die Gefahren, mit denen der Hyperlink des Webs konfrontiert ist, stellen folglich auch eine Bedrohung für die Schaffung von Degrowth-Utopien dar.
Netzwerke des Lernens
Parallelen lassen sich zu Ivan Illichs Konzept der „learning webs“ (Illich 1971) ziehen. In seinem Buch „Deschooling Society“ beschreibt Illich drei Ziele, welche seiner Meinung nach in einem guten Bildungssystem verfolgt werden sollten: Allen Menschen, die lernen möchten, soll zu jeder Zeit ihres Lebens der Zugang zu Lern-Ressourcen ermöglicht werden; allen, die Wissen teilen und weitergeben möchten, soll die Möglichkeit gegeben werden, diejenigen zu finden, die eben dieses von ihnen lernen möchten; denjenigen, die ein Thema in die Öffentlichkeit tragen möchten, soll die Möglichkeit gegeben werden, ihre Argumente bekannt zu machen. Illich entwickelte damals ein Beispiel dafür, wie ein solches dezentrales Lern-Netz ausgestaltet werden könnte: mit Tonbändern. Die Menschen würden mit Tonbandgeräten und leeren Kassetten ausgestattet werden, um damit ihre freie Meinung ausdrücken zu können. So würden sowohl Alphabet.inn.en als auch Analphabet.inn.en ihre Meinung aufzeichnen, aufbewahren, verbreiten und wiederholen können. Referenzdienste und andere Mechanismen, die Gleichgesinnte zusammenbringen, würden Schüler.inne.n den Zugang zu den Ressourcen erleichtern, nach denen sie jeweils suchen. Das radikale Monopol des hegemonialen Diskurses wird, sowohl mit Illichs Tonbändern als auch im Internet der Hyperlinks, durch ein Multiversum von Narrativen ersetzt.
Bis jetzt haben die Forschung und die Praxis im Kontext von Degrowth leider zu wenig dazu beigetragen, eine kohärente, kritische Vision verschiedener Innovationen und Bewegungen zu formulieren, die durch die digitalen Technologien entstehen. Im Gegenteil distanzieren sich die Akteur.inn.e.n der Degrowth-Bewegung oft von den technologischen und kulturellen Entwicklungen des digitalen Zeitalters – als stünden das Eintauchen und die Beschäftigung mit dergleichen im Widerspruch zu einem Leben mit freiwilliger Selbstbeschränkung und im Einklang mit der Natur.
4. Degrowth-Debatten können dabei helfen, die sozialen und technologischen Entwicklungen kritisch zu begleiten
Geschichtlich gesehen zählt die Produktion von digitalen Commons zu den größten Errungenschaften der Freie-Software-Bewegung: Quellcodes, Daten, Informationen, Algorithmen und Wissen. Aber ebenso zählt dazu die Entwicklung einer Kultur der Zusammenarbeit, die auf den Werten von Freiheit und Autonomie basiert und in den bereits erwähnten gemeinschaftlichen und globalen Einsatz für Wikipedia oder den Linux-Kernel resultierte.
Die neuen Arten und Weisen der Produktion und des Konsums, die durch sogenannten Share-Ökonomien unter Nutzung technologischer Plattformen ermöglicht wurden, liefern uns interessante Einblicke auch in die Degrowth-Debatte. Statt die Tauschformen der Sharing Economy angesichts des derzeitigen institutionellen Rahmens als Ganzes zu verwerfen, sollten wir sie, so Maurie Cohen (2015), durch mehr reziproke Beziehungen und Institutionen wie Produzenten-Konsumenten-Kooperativen (im Gegensatz zu Definitionen und Regulatorien von beispielsweise Uber oder Airbnb) ausbauen. Cohen fordert einen Plattform-Kooperativismus als alternatives institutionelles Setting, das solche anderen Formen der Kooperation zulässt. Institutionenforschung und demokratische Bewegungspraxis jeweils im Umfeld von Degrowth könnten wertvolle Einsichten bezüglich der Frage liefern, wie die Sharing Economy (um)gestaltet werden kann.
Die durch technologische Lösungen ermöglichte zunehmende Auflösung der Rollen von Produzent.inn.en und Konsument.inn.en steht im Zentrum der Sharing Economy und einer Vielzahl sozialer Unternehmen. Sie führt zur Entstehung eines neuen ökonomischen Typus, den der Zukunftsforscher Alvin Toffler als „Prosument“ bezeichnet. Kritiker.innen merken jedoch an, dass damit auch neue Formen der kapitalistischen Ausbeutung einhergehen können, indem nämlich unbezahlte Arbeit generiert wird, während gleichzeitig Macht- und Entscheidungsstrukturen unberührt bleiben (vgl. Ritzer/Jurgenson 2010; Rogero 2010). Bauwens (2005) sowie Benkler und Nissenbaum (2006) argumentieren indessen, dass eine ebenbürtige, Commons-basierte Peer-to-Peer-Produktion unabhängig von der Marktlogik oder existierenden Machtstrukturen funktionieren könnte. Auch hier könnte die Degrowth-Bewegung die Debatte kritisch begleiten und zu einem systemischen Verständnis dieser in Entstehung begriffenen Produktions- und Konsumptionsmuster beitragen.
Auf einer anderen Ebene geht es um Entscheidungen bezüglich der Architektur der Infrastrukturen und Dienstleistungen: Wollen wir konsequent geteilte Peer-to-Peer-Netzwerke aufbauen – oder besser bündnisorientierte, dezentral und autonom kontrollierte? Große Schlagzeilen machen derzeit Technologien, die den Aufbau geteilter Netzwerke (wie zum Beispiel Blockchain) möglich machen. Eine Debatte über die sozialen und politischen Fragen, die solche Netzwerke aufwerfen, fehlt allerdings weitgehend. Durch neue Technologien ermöglichte Ansätze eines global aufgeteilten Systems werden notwendigerweise einen globalen Algorithmus benötigen, der Kriterien für zugelassene Transaktionen definiert oder eine Vertrauensbasis zwischen krypto-anonymisierten Nutzer.inne.n aufbaut. Ist es jedoch tatsächlich möglich, einen „globalen Konsens“ für eine automatisierte Vertrauensbewertung zu erzielen? Und wer entscheidet über die verwendete Technologie? Wie ist die Wahrung der Privatsphäre gesichert? Wie wird das Vertrauen der Menschen untereinander hergestellt, wenn es keine physisch greifbaren Institutionen oder Orte gibt, abgesehen von in Rechenmaschinen abgelegten Algorithmen, die für die Transaktionen sorgen?
Unterstützer.innen der Dezentralisierung – etwa beim kollaborativen Ansatz, welcher vom IndieWeb praktiziert wird – verteidigen verteilte Prozesse gegenüber einem anforderungsreichen technischen Konsens; sie setzen eher auf die Schaffenskraft der Beteiligten als auf Automatisierung der Transaktionen. Solche Prozess können durch lokale oder thematisch begründete Communitys lokalisiert, kontrolliert und bestimmt werden, auf dem technologischen Level bedarf es dann lediglich minimaler gemeinsamer Standards der Zusammenarbeit (Interoperabilität) wie des Hyperlinks.
Diese neuen Prozesse und Rollen werden zweifellos einen großen Einfluss auf die institutionellen Settings – auf sozialer ebenso wie auf technologischer Ebene – haben. Die Debatten innerhalb der Degrowth-Bewegung zu Demokratie, Autonomie, Institutionen und Technologie können dabei helfen, die Gestalt der zu bauenden Netzwerke, Plattformen und des Verhältnisses zwischen ihnen zu bestimmen.
Die TransforMap-Initiative, in die Dutzende Netzwerke, Nichtregierungsorganisationen und andere weltweit operierende Akteur.inn.e.n eingebunden sind, zielt darauf ab, ein Bündnis für alternative Ökonomie aufzubauen. Dabei werden Netzwerk- und Gemeinschaftsbildung verknüpft mit einer Prozessbegleitung in Form kollektiven kritischen Kartierens, Hackathons und VoCamps (vocabulary camps). Auf diese Weise soll ein technologischer Knotenpunkt und ein sozialer Prozess entstehen, der dazu in der Lage ist, die Debatten und Initiativen, die als Antwort auf die Grenzen des Wachstums und die multiplen Krisen aufkommen, mit neuen kollektiven Bedeutungen zu versehen und diese zu visualisieren.
5. Individuelle und kollektive Freiheit
Eine Verknüpfung der Freie-Software-Bewegung mit der Degrowth-Bewegung ist nicht nur möglich, sondern sie hat das Potenzial, ein Schmelztiegel neuer Visionen und Utopien zu sein.
In diesem Beitrag wurde Bezug auf einige wichtige Quellen der Degrowth-Bewegung genommen, insbesondere auf die Visionen von Illich und Castoriadis. Erwähnt wurde Illichs Konzept der „learning webs“, welches er im Bildungsbereich als Lösung für die Überwindung „radikaler Monopole“ ansieht. Außerdem wurde dargelegt, wie Castoriadis’ Verständnis von Souveränität in der Philosophie und Praxis des World Wide Webs zum Ausdruck kommt. Um es in seinen Worten auszudrücken:
„Eine freie Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Macht tatsächlich durch das Kollektiv ausgeübt wird, ein Kollektiv jedoch, in dem sich alle gleichermaßen effektiv beteiligen. Und dieses Ziel, das Erreichen einer Gleichheit der effektiven Beteiligung, darf nicht eine rein formale Angelegenheit bleiben, sondern muss so weit wie möglich von tatsächlichen Institutionen abgesichert werden.“ (Castoriadis 1993: 317 f., zitiert nach Papadimitropoulos 2016, eigene Übersetzung)
Auch innerhalb der Freie-Software-Bewegung stellen Demokratie und Gerechtigkeit zentrale Begriffe vieler Diskussionen dar. Als wichtige Erkenntnis lässt sich festhalten, dass es nicht allein darauf ankommt, Zugang zu Technologien zu haben, sondern dass es auch der Fähigkeit bedarf, sie zu verstehen und autonom zu nutzen. In einem Vortrag beim Chaos Communication Congress 2015 brachte Richard Stallman die Sorge und Sichtweise der Bewegung, was die Entstehung radikaler Monopole in der digitalen Technologie angeht, wie folgt auf den Punkt: „Kindern das Nutzen proprietärer Software beizubringen, ist, wie wenn man ihnen das Rauchen beibringen würde“ (eigene Übersetzung). Kollektives Eigentum sozio-technischer Infrastrukturen und Daten, Interoperabilität, Linked Open Data und das Semantische Web mit seinen Vokabularien und Ontologien sind einige der Begriffe, die zukünftig eine Rolle in den Diskursen über den Aufbau einer Postwachstumszukunft spielen werden.
Es ist schwer vorstellbar, dass Ivan Illich nicht begeistert wäre vom konvivialen Entschulungs- und Deinstitutionalisierungspotential des World Wide Webs und von seiner zugrunde liegenden Allmende-Infrastruktur. Wir brauchen nicht noch mehr Wissen und weitere Forschungsprojekte darüber, wie die Dinge funktionieren oder funktionieren sollten. Was wir brauchen, ist mehr konviviale Forschung (vgl. Vetter 2015) in diesem Feld, die in der Lage ist, Wissenschaftler.innen – auch nicht auf Technik spezialisierte – zu einer kollaborativen Entwicklung von Plattformen, Ontologien und Vokabularien zu bringen, um die Offenheit der Daten und ihre Zusammenarbeit (Interoperabilität) zu befördern. Die Unterstützung von Veranstaltungen wie Hackathons oder der Aufbau von Allmende-Rechenzentren und Freie-Software-Diensten sind Beispiele für Maßnahmen, die die Transformationsprozesse und Widerstände rund um Technik und digitale Commons begünstigen.
Stallman, Rushkoff, Cohen und die meisten Freie-Software-Aktivist.innen.en, nebst zahlreichen Hacker.inne.n, würden sich selbst wahrscheinlich nicht als Teil der Degrowth-Bewegung verstehen. Dennoch können wir beobachten, wie (einige wenige) soziale Unternehmen, Vertreter.innen der Do-it-yourself-Kultur, kapitalismuskritische Graswurzelbewegungen, die Commons- und die Freie-Software-Bewegung zusammenkommen. Sie alle hegen den gemeinsamen Wunsch nach Dekommerzialisierung und (Wieder-)Aneignung der Technologie. Oft organisieren und schließen sie sich zusammen, um – wie von Illich beschrieben – „learning webs“ aufzubauen.
Das Web ermöglicht es uns in der Tat, bei der Überwindung der Zentralisierung von Lernprozessen, die Illich so eklatant kritisiert, und institutioneller Grenzen einen Schritt weiterzukommen. Die Vision eines Netzwerkes, das seinen Nutzer.inne.n Freiheit und Handlungsmacht bringt – die gegenwärtig in Gefahr sind –, bildet den Kern der Idee und Philosophie des von Tim-Berners Lee konzipierten World Wide Webs. Genau diese Freiheit de.s.r Einzelnen ist es, die für den Aufbau einer utopischen, autonomen Gesellschaft notwendig ist, wie sie sich Castoriadis in seinem Projekt der individuellen und kollektiven Autonomie vorstellt:
„Eine autonome Gesellschaft impliziert autonome Individuen – und umgekehrt. Autonome Gesellschaft, autonome Individuen: freie Gesellschaft. Freie Individuen. Freiheit. – Aber was ist Freiheit? Und welche Freiheit? Es geht nicht um die innere Freiheit, sondern um die effektive, soziale, konkrete Freiheit, nämlich, um ein Hauptmerkmal hervorzuheben, den größtmöglichen Raum für Bewegung und Aktivität, den die Institution Gesellschaft für das Individuum sicherstellen kann. Diese Freiheit kann nur als Dimension und Art und Weise der Institution Gesellschaft existieren.“
(Castoriadis 1993: 317 f., eigene Übersetzung)
Die Bemühungen um Freie Software und das freie Internet sind auch ein Kampf der Degrowth-Bewegung.
Fußnoten:
1) Ein Kernel, auch Betriebssystemkern, ist der zentrale Bestandteil eines Betriebssystems. In ihm ist die Prozess- und Datenorganisation festgelegt, auf der alle weiteren Softwarebestandteile des Betriebssystems aufbauen: https://de.wikipedia.org/wiki/Kernel_(Betriebssystem) (Zugriff: 02.09.2016).