FUTURZWEI:
Gelebte Geschichten einer anderen Wirklichkeit erzählen
Autorin:
Josefa Kny
Dieser Text ist in Bewegung durch das Team von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit entstanden. Neben Josefa Kny waren Raffaela Then und Dana Giesecke beteiligt. Wir haben uns durch unser Zukunftsarchiv gewühlt, das viele „Geschichten des Gelingens“ verwahrt, und unsere Begegnungen mit deren Protagonistinnen und Protagonisten Revue passieren lassen. Wir haben durch Bücher geblättert und unser Wissen über Degrowth zusammengetragen. Die Zusammenhänge, die wir auf diese Weisen erkundet haben, bilden die Grundlage dieses Beitrags.
1. Eine Such-Bewegung
FUTURZWEI ist keine Bewegung, sondern eine Stiftung und eine Blickrichtung, die versucht, eine Bewegung sichtbar zu machen.
FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit macht es sich zur Aufgabe, zukunftsfähige Lebens- und Wirtschaftsweisen aufzuspüren, um sie gesellschaftlich wahrnehmbar und politisch wirksam zu machen. Wir wollen ein Gegengewicht zur mutlosen „Wenn wir könnten, dann würden wir ja“-Einstellung in jenen Gesellschaften bilden, die so denken und handeln, als wären der Dreischritt aus egoistischem Profitstreben, Produktionssteigerung und Immer-mehr-Konsum die einzig mögliche Laufrichtung. Es geht anders: Ein schonenderer Umgang mit Ressourcen und ein fürsorgliches soziales Miteinander sind jetzt und jederzeit möglich. Viele Menschen beweisen das bereits praktisch, sie nutzen ihre Handlungsspielräume. Und auch sie steigern etwas: nämlich Lebensqualität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit – im eigenen Umfeld oder bis in global benachteiligte Regionen hinein. FUTURZWEI ist eine Lupe, die diese Regungen aufspürt.
Die Stiftung FUTURZWEI sucht Menschen, die angefangen haben, Dinge anders zu machen. Seit der Gründung im Jahr 2012 sammeln und erzählen wir ihre „Geschichten des Gelingens“ aus dem deutschsprachigen Raum – auf der Webseite futurzwei.org, im gedruckten FUTURZWEI Zukunftsalmanach, auf Veranstaltungen und im Rahmen verschiedener Medienkooperationen. Inzwischen haben wir über 300 Geschichten gesammelt, regelmäßig kommen weitere dazu. Durch FUTURE PERFECT, eine Kooperation mit dem Goethe-Institut und lokalen Landespartnern, werden seit 2015 auch internationale Geschichten in die Welt getragen. Dabei wird jeweils vor Ort entschieden, welche Themen zentral sind und wie Gelingen definiert werden kann.
Wir erzählen nachahmenswerte Geschichten von Ansätzen des selbstbestimmten, guten und echten Lebens. Geschichten kann jeder und jede verstehen, sie bleiben im Kopf, sind leicht weiterzuerzählen, weiterzuspinnen und abzuwandeln. Sie bilden ein Gegengewicht zu abstrakten Zielnummern wie dem globalen Zwei-Grad-Ziel oder dem europäischen Ruf „Minus 40 Prozent CO2-Ausstoß bis 2030“, zu apokalyptischen Szenarien und moralischen Appellen, die keinen Bezug zum täglichen Leben haben. Erzählte Geschichten sind lebensnah, greif- und nachfühlbar.
Damit treffen wir auf das andere FUTURZWEI: die Perspektive, der besondere Blick auf gesellschaftliche Bewegungen. Diese steckt im Namen, in der grammatikalischen Form der vollendeten Zukunft, dem Futur II. Ein Satz im Futur II lautet: Ich werde gelebt haben. Oder: Wir werden gelebt haben. Man hält also heute inne, guckt nach vorn in die eigene Zukunft und gleichzeitig auf sein Leben zurück und stellt sich die zentrale Frage: Wie werde ich oder wie werden wir gelebt haben? Und jeder und jede individuell, aber auch unsere Gesellschaft als Ganzes, kann sich für einen Weg entscheiden, auf den man später zufrieden zurückblickt. Dann kann man beispielsweise sagen: Ja, ich werde so gelebt haben, dass ich so wenig wie möglich Naturressourcen verbraucht habe – wie die Architektin Henrike Gänßwein in ihrem Haus fast ohne Möbel –, dass ich den Verkehr in meinem Ort achtsamer gestaltet habe – wie die Gemeinde Bohmte –, dass ich meine Nachbarschaft zum Teilen ermutigt habe – wie der Tauschring München. Die Menschen, die wir suchen und finden, haben sich ein positives Ziel gesetzt. Nicht unbedingt ein großes, wahnsinnig visionäres wie jenes des Autors und Aktivisten P.M. und seiner Anhänger, die Schweiz „neuzustarten“, sondern manchmal auch nur ein ganz kleines, feines: etwa die Kastanienbäume einer Kleinstadt mit Mikroorganismen aufzupäppeln, wie es die Ihringer Schutzgemeinschaft getan hat.
Was stößt diejenigen, von deren Handeln wir erzählen, an, ihrerseits Veränderung anzustoßen? Was die durchaus diversen Motive eint, ist eine Kritik an gegenwärtigen sozio-politischen und ökologischen Missständen. Das kapitalistische Wirtschaftsmodell brachte den frühindustrialisierten Ländern über die vergangenen Jahrhunderte enormen Wohlstand, Demokratie, Meinungsfreiheit, Rechtssicherheit und ein weitgehend funktionstüchtiges Gesundheits- und Bildungssystem. Dass materieller Wohlstand, Wachstum, Überproduktion von Waren und sogenannter Fortschritt aber nicht nur positiv zu bewerten sind, sondern auch in eine radikal negative Dynamik eskalierender Krisen münden können, lässt sich in diversen Gesellschaftsbereichen beobachten: Soziale Ungerechtigkeiten, schrumpfende Solidarität, Klimawandel, Artensterben, Verdichtung der Städte, Flächenversiegelung, steigende Nahrungsmittel- und Energiepreise, die Rohstoffknappheit und Vermüllung sind sichtbare Folgen eines expansiven Kulturmodells. Die Ursachen liegen in unserem enormen Materialverbrauch, der wiederum enorme Emissionen und Abfallberge erzeugt. Eine sich höher und höher kringelnde Spirale, die ohne Bremserinnen und Ausscherer nur ins planetare und soziale Chaos führen kann. Der gesellschaftliche Mainstream hat keinen Mut zum Wenden. Problembewusstsein gibt es durchaus, daraus abgeleitetes Handeln aber kaum. Die Initiativen, Projekte, Unternehmen und Einzelakteure, die FUTURZWEI zusammenbringt, führen den oft gar nicht so schwierigen Schritt vom Erkennen zum Handeln, das über das Private hinaus geht, vor. Es sind Momente des Ausprobierens neuer oder in Vergessenheit geratener Lebens- und Wirtschaftsmodelle, die sich schrittweise in eine bessere Zukunft vortasten: eine Suchbewegung auf Seiten der Produzentinnen, der Konsumenten, der Städte und Gemeinden sowie in der Politik. Individuell und gemeinschaftlich.
FUTURZWEI maßt sich an, einen gewissen Überblick über die aktuellen Transformationsinitiativen und -bewegungen zu haben – wohl wissend, dass in Städten, Dörfern und dazwischen noch endlos viel mehr Gesellschafts- und Naturverhältnisveränderndes im sozial-ökologischen Sinne geschieht. Wir nennen uns sogar eine Kommunikationsagentur für eine Bewegung, die noch nicht weiß, dass es sie gibt. Dafür, wie diese Bewegung in Form von Geschichten des Gelingens gefasst werden kann, gibt es keinen fertigen, ausgeklügelten Kriterienkatalog. Angesichts der Komplexität und Dynamik der globalen sozialen und ökologischen Zukunftsentwicklungen sowie der unzureichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, ist es gegenwärtig gar nicht möglich, detaillierte Handlungsanleitungen für das Richtig und Falsch einer zukunftsfähigen Gesellschaft vorzulegen. Die Frage nach einem gemeinsamen „Dach“ über den Geschichten des Gelingens – Geschichten also, in denen gebremst, ausgeschert und gewendet wird –, entspricht der großen Frage nach der sozial-ökologischen Transformation: Wie können die zivilisatorischen Errungenschaften erhalten und zugleich ein Weg in eine nachhaltigere und global gerechtere Zukunft gefunden werden? Aus unserer so speziellen wie umfassenden Perspektive versuchen wir Antworten zu finden, wie enkeltaugliche Bewegungen aussehen können – mithilfe der Gegenwart.
Kapitel vom Buch
Degrowth in Bewegung(en)
32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation
Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.)
Die hier versammelten 32 sozialen Bewegungen, alternativ-ökonomischen Strömungen und Initiativen suchen nach Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell. Sie fordern einen Paradigmenwechsel: weg vom Fokus auf Wettbewerb, Gewinnstreben, Ausbeutung und Wachstum – hin zu mehr Kooperation, Solidarität und einer Orientierung an konkreten Bedürfnissen. Es geht darum, die Bedingungen für ein gutes Leben für alle zu schaffen. Aber welche unterschiedlichen Wege für eine sozial-ökologische Transformation gibt es? Welche Hürden sind zu überwinden? Welche Gruppen sind beteiligt, wer macht was und wie ist das Verhältnis zueinander? Welche Bündnisse sind möglich? Diesen Fragen sind Protagonist*innen der Bewegungen in einem zweijährigen Vernetzungs- und Schreibprozess nachgegangen. Die daraus entstandenen Beiträge motivieren zu eigenem Tun und Engagement.
2. Eine (un-)verbundene Bewegung
Wir versuchen im Folgenden eine Transformationsbewegung zu fassen und zu beschreiben, können jedoch weder für sie sprechen noch beurteilen, zu welchen Bewegungen sich die einzelnen Akteurinnen und Akteure selbst zugehörig fühlen.
Auf den ersten Blick vereinen die Menschen und Ideen, die FUTURZWEI in den Geschichten des Gelingens porträtiert, die folgenden beiden weichen Kriterien: Ein sorgsamer Umgang mit Ressourcen einerseits wird mit anderen Formen des sozialen Miteinanders andererseits verwoben. Zusammen entstehen so soziale Praktiken, die ökologische Probleme von Abfallaufkommen bis Wasserverschwendung in ihren Mittelpunkt stellen. Die Herangehensweisen sind dabei ganz unterschiedlich. Die Akteure in den Geschichten des Gelingens sind lose Gruppen oder Vereine, Unternehmerinnen oder Unternehmen, Einzelpersonen aus Zivilgesellschaft, Politik oder Wirtschaft.
An einer zukunftsfähigen Gesellschaft arbeitet der Aktionskoch Wam Kat, der von Brandenburg aus mit seinem Team viele Demonstrationen in Deutschland mit gerettetem und krumm gewachsenem Gemüse bekocht. Ebenso zählt ein Verein wie die ZwischenZeitZentrale in Bremen dazu, der Eigentümerinnen leerstehender Häuser mit interessierten, aber wenig finanzkräftigen Zwischennutzern zusammenbringt. Und auch ein Druckereibetrieb wie der Berliner Oktoberdruck, der sich mit aller Kraft gegen den Dumping-Trend der Branche und für eine intensive Auseinandersetzung mit umweltfreundlichem Drucken und basisdemokratischen Arbeitsverhältnissen einsetzt, verkörpert gelebte Zukunftsfähigkeit.
Ein Forschungsprojekt am Norbert Elias Center for Transformation Design & Research der Europa-Universität Flensburg hat im Sommer 2014 knapp 200 der inzwischen 300 Geschichten des Gelingens analysiert.
Demnach ist die Bewegung, die FUTURZWEI zu fassen sucht, in vielen verschiedenen Handlungsbereichen aktiv: Sie praktiziert neue Formen des Wohnens, Arbeitens und der Mobilität, ebenso wie sie Rohstoffe, Energie, Kleidung und Nahrung anders produziert und konsumiert. Sie erprobt alternative Ideen von Bildung und Gemeinschaftlichkeit ebenso wie neue Finanzierungs- und Kommunikationskonzepte. Während einige Akteure sich dabei auf ein Thema oder einen Bereich fokussieren, versuchen viele ein ganzheitlicheres Konzept sozial-ökologischen Wandels zu institutionalisieren. Der Radius ihrer Aktivitäten reicht dabei von lokal bis international, man stößt im ländlichen Raum auf sie oder in Kleinstädten, vor allem aber in Großstädten. Die Akteure handeln als Einzelpersonen, finden sich in Unternehmen oder in der Verwaltung und insbesondere in Kollektiven. Somit kommt der Großteil der Ansätze aus der Zivilgesellschaft, nur ein kleiner Anteil geschieht top-down. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn der Landespfleger der Stadt Andernach entscheidet, dass statt Dekogrün nun überall Gemüse gepflanzt wird, das alle ernten dürfen.
Die meisten Projekte wurden laut besagter Studie nach 2008 ins Leben gerufen, nur wenige wurden schon vor 1990 gegründet. Dazu gehört unter anderem die Bäckerei Märkisches Landbrot, die seit den 1980ern in Berlin sozial und ökologisch bewusst produziert, oder die Freiburger Fabrik für Handwerk, Kultur und Ökologie, die bereits Ende der 1970er Jahre einen Ort des gemeinschaftlichen Lebens und Schaffens errichtet hat, der bis heute floriert. Viele der Akteurinnen und Akteure sind gleichwohl schon lange in ökologisch orientierten Umfeldern unterwegs und sehen sich als Teil der Ökologiebewegung. Andere sind durch ein Schlüsselereignis im Privaten, eine Naturkatastrophe oder Erfahrungen sozialer Missstände dazu gekommen, ihr Leben von heute auf morgen zu ändern – und zwar so, dass ihr Tun über das direkte Umfeld hinaus wirksam und sichtbar wird, andere einbezieht und inspiriert.
Was sind das nun für Menschen, die sich in ihrem Handeln zu einem gewissen Grad, oft aber auch mit Haut und Haar einer Idee verschrieben haben, die sich gegen den Strom der Mainstream-Gesellschaft stellen? Wir wissen, dass die Protagonisten und Protagonistinnen der von uns aufgespürten Geschichten des Gelingens eine ganze Reihe persönlicher Eigenschaften teilen: Risikobereitschaft, Geduld, Belastbarkeit und eine gehörige Portion Hartnäckigkeit; Merkmale also, die für erfolgreiches Handeln auch in anderen Bereichen erforderlich sind. Doch in einer Gesellschaft, die sich durch strukturelle Nicht-Nachhaltigkeit auszeichnet, haben es die Gründerväter und -mütter von Projekten, die versuchen, ein Stück mehr ökosoziales Leben und Wirtschaften in die Welt zu bringen, besonders schwer. Vor allem in der Anfangszeit werden skeptische Stimmen laut, Ideen werden müde belächelt und ungefragt werden weise Voraussagen gemacht, dass sich dieses oder jenes Projekt sowieso nie tragen werde. Der Idealismus der Protagonisten und Protagonistinnen, ihre intrinsische Motivation, hilft dabei, kritische Phasen zu meistern und auch diverse bürokratische, finanzielle und strukturelle Hürden zu überwinden.
Ähnlich sieht es aus, wenn man die unternehmerischen Ansätze betrachtet: Häufig stehen die Arbeit, die Zeit und das Geld, die sie investieren, in keinem Verhältnis zum materiellen Ertrag. Aber da Reichtum ohnehin nicht hauptsächliches Ziel ist, stört viele Aktive dies auch nicht allzu sehr. Wichtig ist für die meisten: Die eigene Arbeit, das Engagement soll Spaß machen. Erfolge sind Selbstwirksamkeitserfahrungen und stärken die jeweiligen Personen und Initiativen. Natürlich sieht nicht in allen Projekten zu jeder Zeit alles rosig aus. Doch hier lautet die Erkenntnis: Scheitern ist nicht gleich Scheitern. In ihrer ursprünglichen Form mögen Projekte ins Stocken geraten, sogar zugrunde gehen – aber die Menschen bleiben. Der Idealismus und Pioniergeist, den sie mitbringen, muss sich irgendwo entladen. Die enttäuschende Erfahrung ist häufig Anstoß, neu anzufangen oder anders weiterzumachen. Welche Organisationsform eine Idee annimmt, wird dabei fast immer vom Zweck her gedacht und ergibt sich häufig erst im Laufe des Projekts: Wer sozial-ökologisch Sinnvolles tun will und dafür Kapital benötigt, aber nicht nur von Spenden und Förderungen abhängig sein will, gründet zum Beispiel ein gemeinnütziges Unternehmen wie die Berliner Prinzessinnengärten, eine Genossenschaft wie die Saatgutbewahrer der Niederbeisheimer Bäuerlichen Ökologischen Saatzucht oder eine Aktiengesellschaft mit gemeinwohlorientierter Satzung wie die Regionalwert AG aus Freiburg. Wer unabhängiger von finanziellen Mitteln agieren kann oder will, tut sich zunächst informell zur Kooperative, zum Netzwerk oder zur (Studierenden-)Initiative zusammen und gründet auf lange Sicht oft einen Verein.
All diese verschiedenen Veränderungsansätze und -strukturen mit dem Stempel soziale Bewegung zu versehen ist schwierig. Teilweise haben die Akteure einfach dort angefangen, wo sie aus ihrer Sicht einen Missstand erkannt haben, ohne sich mit den darum kreisenden Debatten, Begrifflichkeiten und Bewegungen auseinandergesetzt zu haben. Teilweise ordnen sie sich aber, wie bereits erwähnt, auch explizit verschiedenen Bewegungen zu – beispielsweise der frühen Umweltbewegung, den urbanen Gärten oder der Gemeinwohl-Ökonomie – oder schmieden punktuelle Bündnisse mit anderen Akteuren.
So oder so ziehen sich die Projekte nicht in Nischen zurück. Sie verstecken sich nicht vor der Gesellschaft, wie manche Aussteigerinnen und Selbstversorger. Sie verlassen nicht das System, sondern verändern es. Sie kritisieren die gegenwärtigen Strukturen und denken in die Zukunft. Genau das eint sie und macht sie politisch.
3. Degrowth unterm Deckmantel der Vielfalt
Würde man die besagten Protagonistinnen und Protagonisten bitten, sich zu Degrowth beziehungsweise Postwachstum – wir verwenden hier beides gleichbedeutend – zu positionieren, erhielte man vermutlich sehr diverse Reaktionen. Es gibt Akteure, die von Ideen einer Postwachstumsökonomie inspiriert sind, den Begriff selbst aber für ihr Handeln nicht verwenden. Ganz sicher gibt es auch solche, die Postwachstum praktizieren, ohne den Hauch einer Idee davon zu haben, welche Debatte dahintersteckt. Vielleicht gilt dies für den Protagonisten Mario, der konsequent nur dann arbeitet, wenn er wieder Geld zum Leben braucht; ansonsten genießt er es – ohne dafür weit weg zu fliegen und ohne Konsum zum Freizeitvergnügen zu erklären. Wieder andere agieren explizit auf der alltagspraktischen Seite von Degrowth, wenn sie Gemeinschaftsgärten gründen, einen anderen Umgang mit Zeit einüben oder Mobilität ressourcenschonend gestalten.
Explizit finden sich die Begriffe Degrowth, Postwachstum oder Suffizienz in fast keiner Geschichte des Gelingens. Der Grund dafür liegt im Wesen des Geschichtenerzählens: Es geht darum, was die Protagonistinnen und Protagonisten konkret tun, was sie damit bezwecken und erreicht haben, wie sie sich fühlen und wie ihr Projekt erfahrbar wird – wenig Platz also für Konzepte und Theorien. Implizit aber stecken die Gedanken der Reduktion und des Genug in den Kriterien Ressourcenschonung und Gemeinschaftsorientierung – und finden sich damit in fast allen Projekten, Unternehmen und Initiativen.
Meist steht die Stärkung sozialer und kultureller Innovationen im Vordergrund. Denn genau darauf wird es in Zukunft ankommen. Die Protagonistinnen gehen neue Wege, erfinden neue Organisationsformen, manifestieren neue Regulierungen oder etablieren neue Lebensstile. Mit regionalen Wirtschaftskreisläufen, einer Beschränkung des Konsums, guter Qualität oder der Gewinnung eines neuen Gleichgewichts zwischen materiellen und immateriellen Werten liefern sie – gerade auch in Zeiten der Globalisierung – politische Antworten. Viele sozialen Praktiken richten sich dabei gegen den Wachstumsdruck in Gesellschaft und Wirtschaft und zeigen lebbare Alternativen zum vorherrschenden Wachstumsparadigma mit seiner einseitigen Technikorientierung auf. Technologische Lösungen werden dabei nie in den Vordergrund gestellt, aber auch nicht völlig ausgeklammert, was sich mit den meisten Auffassungen von Degrowth deckt. Technologische Innovationen werden als Mittel zum Zweck verstanden: als Folge und Ermöglichung einer neuen Mensch-Umwelt-Beziehung, der immer eine kulturelle und soziale Veränderung vorausgehen muss. Beispielsweise ist der artefact Powerpark in Glücksburg, der Besucherinnen die Funktionsweise und Vorteile erneuerbarer Energien spielerisch näherbringt, eine solche Geschichte des Gelingens.
Vielleicht kann es zuversichtlich stimmen, dass der FUTURZWEI Zukunftsalmanach mittlerweile in manchen Kommunen zur Pflichtlektüre für Gemeinderatsmitglieder erklärt wurde. Es besteht Hoffnung, dass sich Politikerinnen, Wissenschaftler, Journalistinnen, Ingenieure und Unternehmerinnen, Engagierte sowie allgemein Mutlose von dem, was vielerorts bereits praktiziert wird, überraschen lassen und dass sie mehr und mehr das Augenmerk auf das Zukunftsfähige, das es zu entdecken gilt, richten. Und auch Degrowth-Praktikern und -Theoretikerinnen empfehlen wir, sich – sei es im FUTURZWEI oder in ihrer nächsten Umgebung – umzuschauen, denn überall haben Menschen längst mit der Veränderung begonnen: Sie werden vielen spannenden ökologie- und sozialverträglichen Praktiken und damit letztlich auch einer Idee davon, wie Postwachstumsgesellschaften gestaltet sein können, einer Heuristik des Degrowth, begegnen.
4. Vielfältige Inhalte, gelebte Geschichten
FUTURZWEI setzt auf Geschichten, auf Zukunftsbilder und Ästhetik. Aus dieser Perspektive ist eine positive Zielorientierung als Leitbild für eine andere Zukunft unerlässlich, um das Handeln in der Gegenwart zu verändern: ein Pfadwechsel weg vom gefährlichen und ideenlosen Trendfortschreiben, der sofort beginnen kann. Die Bewegung, die wir sichtbar machen, vereint genau dies: Tatendrang und den Glauben daran, dass man etwas verändern kann in Richtung einer positiven Zukunft. Hier sehen wir eine Leerstelle von Degrowth. Egal, ob man dabei nun von einem „Nach-dem-Wachstum“ (Postwachstum), der „Gegenrichtung zum Wachstum“ (Degrowth) oder dem „Unwachstum“ (Agrowth) spricht: Das, was überwunden werden soll, steht begrifflich immer im Zentrum der Vision. Es steht für das Negative, das Abzuschaffende, das gewünschte Gestrige. Degrowth spricht sich zwar deutlich gegen ein Weiter-so aus, sagt aber nicht, wohin es gehen soll. Wer Wachstum verficht und mit der Geschichte der verbesserten Lebensbedingungen seit Ende der Weltkriege aufwarten kann, dem wird es – leider – ein Leichtes sein, den Finger in genau diese Wunde zu legen. Es braucht eine Gegengeschichte und zwar eine bessere. Sie müsste von den großen Werten handeln, die in einer Kultur des „Alles-immer-sofort-und-überall“ wegbröckeln: von Lebensqualität, Solidarität und Gerechtigkeit gegenüber allen Menschen und der Natur. Gleichzeitig muss sie lebensnah, anschaulich und für jeden und jede leicht verständlich sein. Und wer jetzt auf die Zauberformel hofft, den müssen wir an dieser Stelle enttäuschen: Weder wir noch die Menschen, die wir porträtieren, kennen sie. Sie erheben auch nicht den Anspruch. Damit sind wir wieder bei der Idee der Suchbewegung angelangt. Aus den vielen guten Praktiken und Geschichten, die aus der Gegenwart in mögliche Zukünfte zeigen, muss sich eine große Geschichte spinnen. Der Weg heißt Transformation und ist gestaltbar. Sich mit vielen auf das zu einigen, was dringend überwunden werden sollte, nämlich das Wachstumsparadigma, ist ein erster wichtiger Schritt auf diesem Weg.
Ein weiterer Schritt könnte es sein, Degrowth inhaltlich, auch in der Außenkommunikation, zu erweitern: Aktuell fokussiert der Diskurs vor allem die Kritik an bestehenden Wirtschaftsformen – zumindest entsteht dieses Bild für „Neulinge“, die sich noch nicht mit der Vielfältigkeit der Themen und Praktiken der Bewegung auseinandergesetzt haben. Das mag dazu führen, dass Initiativen und Akteure, die sich beispielsweise im Bereich Bildung, Integration oder Gesundheit mit alternativen Modellen und Lebensweisen beschäftigen, keine direkten Anknüpfungspunkte finden. Sie fühlen sich dann nicht angesprochen, den Diskurs mit ihrem Wissen und aus ihrer Erfahrung heraus zu bereichern.
Produktions- und Konsummuster, in die wir hineinwachsen und die unsere Denk- und Verhaltensweisen in allen Lebensbereichen beeinflussen, bestimmen die „Blaupausen“ der ganzen Gesellschaft, also die „mentalen Infrastrukturen“ (Welzer 2013) unseres Innenlebens. Sie zu verändern ist eine notwendige Voraussetzung für einen anderen Umgang mit Ressourcen. Dies könnte die Degrowth-Bewegung durchaus deutlicher kommunizieren. Denn eine Transformation dieser Größenordnung kann nur von einer breiten, vielfältigen Bewegung getragen werden. Es müsste sich also der Psychologe, der zu Empathieentwicklung im Kleinkindalter forscht, ebenso angesprochen fühlen wie die Arbeitswissenschaftlerin, die die Politik zu demografischen Fragen berät. Die Degrowth-Bewegung sollte stärker betonen, dass es Anliegen und Verantwortung aller sein muss, eine zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten.
Dementsprechend sehen wir vor dem Hintergrund der sehr vielfältigen Bewegung, die wir betrachteten, auch die Tendenz kritisch, einen geschlossenen Kreis von Gleichgesinnten zu bilden, der sich im Einvernehmen über die eigene Haltung gegenseitig selbst belehrt. Hier gilt es, sich stetig selbst herauszufordern, der eigenen Bequemlichkeit entgegenzuwirken und sich mit Vielfalt auseinanderzusetzen. Dies wird möglich, indem immer wieder Fragen gestellt werden wie: Wo lassen sich ungewöhnliche Bündnisse schmieden? Wer könnte den Diskurs bereichern, der erst einmal unpassend zu sein scheint? Mit wem und über wen wird nicht gesprochen? Welche Haltungen und Fragen sind tabu? Stetig die eigenen weißen Flecken mit Farbe zu füllen, kann verhindern, dass die Bewegung selbstgenügsam wird. Ein klar umrissenes Bild davon, wer die Gegner der eigenen Ideen und Ziele sind und wo die Konfliktlinien verlaufen, ist nötig, um bewegungsgemeinsame Strategien zu erdenken und zu verfolgen und um breitere Bündnisse zu schaffen.
5. Ein gemeinsames Dach
Mit derzeit rund 300 Geschichten des Gelingens hat FUTURZWEI eine Vielzahl positiver Beispiele nachhaltigen Handelns zusammengetragen – und führt dies fort. Die Initiativen, Projekte und Unternehmen, die wir in dieser Zeit kennengelernt haben, verfolgen, erweitern und verbreiten ihre Ideen und Praktiken, auch wenn hier und da aufgehört und anders neu begonnen wird. Wir stehen immer noch am Anfang. Wir sehen immer mehr Flugzeuge durch die Wolken rasen, immer schneller wachsende Müllberge und immer mehr Menschen, die gezwungen werden, ihr Land zu verlassen. Im Kleinen passiert vieles, das im Großen noch immer unterzugehen scheint. Deshalb braucht es eine Politisierung. Die Prinzipien, Ideen und Erkenntnisse kleiner Projekte und Initiativen müssen breiter und weitergedacht, auf die Makroebene übertragen und dort institutionalisiert werden und politische Richtungen und Richtlinien beeinflussen. Dass sich Akteure aus unterschiedlichen Feldern, von alteingesessenen NGOs über Bürgerinitiativen bis hin zu Richterverbänden, sozialen Unternehmen und intellektuellen Wortführerinnen zu einer breiten Bewegung zusammenschließen können, wurde nicht zuletzt an den Protesten gegen die TTIP-Verhandlungen deutlich sichtbar.
Die Degrowth-Bewegung kann für ein solches Bündnis ein Dach bieten, wenn sie es schafft, all jene aufzunehmen, die praktisch bereits im Sinne eines sozial-ökologischen Wandels denken und handeln, und wenn sie Ideen entwickelt, den Diskurs für all diejenigen zu übersetzen, die noch profitgetrieben auf der Wachstumsstraße fahren. Auch das ist eine Suchbewegung.