Transformative Bildung in der Corona-Krise

Herausforderungen, Chancen, Handlungsmöglichkeiten

 

Ein Kommentar von Esther Wawerda und René Haase

20. Mai 2020

Noch vor rund zwei Monaten hatten wir geplant, mit einer losen Blogreihe Eindrücke aus unserer Bildungsarbeit zu teilen. Wir wollten einzelne Debatten aufgreifen und so unser Verständnis und unsere Praxis von Transformativer Bildung greifbarer machen. Nun hat sich an zentralen politischen und sozialen Rahmenbedingungen für Bildungsakteur*innen viel verändert. Darauf möchten wir reagieren.

Wir sind überzeugt: Die Corona-Krise macht eine Bildung, die kritisch und transformativ ist, aktueller und notwendiger denn je. Warum? Einerseits schürt die Krise weitere Unsicherheiten und wirft Fragen rund um das Thema Veränderung von Gesellschaft und Wirtschaft auf. Bildung kann hier helfen zu verstehen, mit Unsicherheit umzugehen, sich zu verorten und Lösungen zu diskutieren. Andererseits – und ohne jede Krisenromantik – öffnen sich trotz erschwerter Bedingungen und Einschränkungen auch Möglichkeitsfenster durch die gesellschaftlichen Erfahrungen der Corona-Krise für ein Umsteuern in Richtung „Gutes Leben für alle“. Diese Fenster gilt es offenzuhalten und zu nutzen. Dabei können Bildungsakteur*innen eine Rolle spielen.

Wir sitzen nicht alle im selben Boot – Fragen stellen, Alternativen entwickeln

Zu einer kritischen Bildung gehört für uns, unser politisches und gesellschaftliches Zusammenleben genauer unter die Lupe zu nehmen. Dabei ist eines gewiss: gesellschaftliche Krisen treffen nicht alle in gleichem Maße und mit der gleichen Härte. Krisenanfälligkeit ist in hohem Maße abhängig von Eigentums- und Vermögenssituation, vom politisch-rechtlichen Status (etwa dem Aufenthaltsstatus von Personen) oder etwa von der (materiellen) Möglichkeit und Fähigkeit soziale Netzwerke aufzubauen und zu halten. Die größte Last von Krisen tragen diejenigen, die ohnehin schon von Ausgrenzung, Armut und Diskriminierung betroffen sind – hier und global.

Transformative Bildung, wie wir sie verstehen, deckt gesellschaftliche Widersprüche und Ungleichheiten sowie die ökonomischen Strukturen, Interessen und Machtverhältnisse, die dahinterliegen, auf. Sie ermöglicht es zu hinterfragen, was in einer Gesellschaft als „normal“ gilt. Darauf aufbauend unterstützt sie Menschen, für sich und alle anderen Alternativen zu entwickeln, für eine solidarische Gesellschaft, in der ein Gutes Leben für alle möglich ist.

In der Corona-Krise bedeutet das zunächst Fragen zu stellen, wie Welche Ursachen hat die gesellschaftliche Krise, die mit dem Corona-Virus einhergeht? Wer hat ausreichend Zugang zu Gesundheitsversorgung und kann die Miete zahlen? Wer kann überhaupt zu Hause bleiben? Wer macht gerade im Privaten und im öffentlichen Sektor die Arbeit, die für die Gesellschaft grundlegend notwendig ist? Warum sind das oft Frauen und warum sind sie so schlecht bezahlt? Wer kann überhaupt an Homeschooling wie gut teilhaben? Welche (globalen) gesellschaftlichen Konflikte und Widersprüche werden in der Krise sichtbarer, die im Alltag sonst eher „unsichtbar“ sind oder weniger Beachtung finden? Welche Krisenbearbeitungsstrategien werden verfolgt? Wer wird dabei berücksichtigt und wer nicht? Welche Stimmen werden auch in der aktuellen Krise nicht gehört? Wie könnte ein wirklich solidarischer Umgang mit der Krise aussehen?

Schließlich fragen kritische Stimmen in der aktuellen Debatte zurecht auch, warum die Wirtschaft zwar für Menschenleben, die durch Corona bedroht werden, zurückgefahren wird, nicht aber für jene, die durch die Klimakrise bedroht werden, und fordern ein Umdenken in der Klimapolitik. Es gilt darauf hinzuweisen, wie viel härter Länder und Menschen durch das Corona-Virus und die nachgelagerte Wirtschaftskrise getroffen werden, die durch das Weltwirtschaftssystem benachteiligt sind und schon jetzt die größten Lasten des Klimawandels tragen. Kritische Bildung kann vor diesem Hintergrund Maßnahmen diskutieren und Handlungsfelder sichtbar machen, die nicht nur auf eine begrenzte Solidargemeinschaft ausgerichtet sind. Das schließt auch ein, die Krisenanfälligkeit des aktuellen Systems zu benennen und auf resilientere Alternativen in verschiedensten Bereichen zu verweisen. In Zeiten, in denen der gesellschaftliche Versuch, Natur zu beherrschen durch das neuartige Coronavirus einmal mehr ad absurdum geführt wird, zeigt sich außerdem erneut die Wichtigkeit von transformativer Bildung, in der wir auch unser Verhältnis zur Natur grundsätzlich hinterfragen und nach Alternativen suchen.

In der Krise Bildung politisieren

Obwohl zwar zentrale gesellschaftliche Konflikte in der öffentlichen Debatte gerade vernachlässigt oder einseitig diskutiert werden, bringt es die Krise dennoch mit sich, dass gewisse gesellschaftliche Widersprüche und ihre politischen Kämpfe sichtbarer werden. So werden z.B. bei Sorgetätigen in Spitälern, Pflegeheimen oder zu Hause Forderungen nach besserer Bezahlung und gesellschaftlicher Anerkennung immer lauter. Die größere öffentliche Aufmerksamkeit dieser Sorgetätigkeiten ermöglicht auch in der Bildungsarbeit Anknüpfungspunkte für eine Debatte um geschlechtergerechte Verteilung von Sorgearbeit und einer Verschiebung aller Sorgetätigkeiten ins Zentrum von Wirtschaft und Gesellschaft.
Und während die Situation geflüchteter Menschen in den Lagern auf den griechischen Inseln und anderswo von der Politik größtenteils ignoriert wird, entsteht eine immer größer werdende zivilgesellschaftliche Bewegung, die durch vielfältige Infektionsschutzgesetz-konforme Aktionen Forderungen nach einer sofortigen Evakuierung der Lager stellt und nach Solidarität über Gartenzäune und Nationalgrenzen hinweg ruft. Auch hier kann transformative Bildung ansetzen, welche die Zusammenhänge von globalen Ungerechtigkeiten, Fluchtursachen und unserer imperialen und auf Wirtschaftswachstum basierenden Lebensweise erkundet.

Dazu kommt, dass die Corona-Krise und ihre gesellschaftliche Aushandlung erfahrungs- und problembasiertes Lernen ermöglichen kann. Den Ausgang für transformative Bildungsprozesse bildet die Erfahrung, dass unsere gewohnten Bewältigungsstrategien für bestimmte Probleme nicht (mehr) funktionieren und wir neue entwickeln müssen. In dieser globalen Krise machen Menschen solche Erfahrungen auf vielfältige Art und Weise. Die Profitorientierung im Gesundheitssystem und deren Folgen werden nun für die ganze Gesellschaft sichtbar. Auch in anderen Bereichen werden die Krisen des Kapitalismus sichtbar. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist gefährdet, wenn unterbezahlte Erntehelfer*innen aus dem Ausland nicht einreisen können. Erfahrungen dieser Art können unter guten Bedingungen den Anstoß für eine tiefergehende Auseinandersetzung auf individueller wie kollektiver Ebene zu unserer Lebens- und Produktionsweise geben. Ein Potenzial ist dabei auch, dass Menschen in der Krise lernen, mit Unsicherheit und Komplexität umzugehen, sich selbst zu organisieren ohne sich dabei allein auf politische Autoritäten zu verlassen – eine zentrale Fähigkeit für eine sozial-ökologische Transformation und das Mitgestalten einer solidarischen Gesellschaft, die durch transformative Bildung gestärkt werden kann.

Bildung kann Menschen dazu ermutigen, sich Zukunft als etwas anderes vorzustellen als die bloße Verlängerung der Gegenwart. Gesellschaftliche Veränderungen können dadurch als gestaltbar wahrgenommen und die Handlungssouveränität von Menschen gestärkt werden. In der Corona-Krise erweitern sich Möglichkeitshorizonte schon alleine dadurch, dass plötzlich politische Entscheidungen getroffen werden, die davor nicht für möglich gehalten wurden. So werden Mieter*innen in vielen Ländern vor Kündigung geschützt, wenn sie ihre Miete nicht bezahlen können, ein Schuldenmoratorium wurde beschlossen, das 77 Ländern die diesjährigen Schuldendienste erlässt, damit das Geld zur Krisenbewältigung genutzt werden kann, wirtschaftliche Interessen werden einem größeren Gut – nämlich Menschenleben – hintangestellt, um nur wenige Beispiele zu nennen. Diese können in der Bildungsarbeit aufgegriffen und in Bezug zu anderen gesellschaftlichen und ökologischen Problemen und deren Bearbeitungsstrategien gesetzt werden.

Gleichzeitig bleibt es – vor dem Hintergrund politischer Zentralisierung auf wenige Entscheidungsträger*innen und einer häufig argumentierten Alternativlosigkeit von Maßnahmen – weiterhin zentrale Aufgabe, politische Prozesse mit kritischem Blick zu beobachten, und Menschen darin zu stärken, sich für eine demokratische Gestaltung von Gesellschaft einzusetzen. Fehlt kritische Bildung, sind Menschen vereinnahmbar für Populismus und Fake-News. Ferner ist uns wichtig darauf hinzuweisen, dass die Verhältnisse, die Bildung kritisiert, selbst dafür verantwortlich sind, wer an Bildung wie (nicht) teilhaben kann. Dies muss Bildner*innen klar sein und muss thematisiert werden, damit etwa in einer Krisensituation wie jetzt kein einseitiges romantisches Gerede von Chancen und Möglichkeiten (für Bildung) entsteht. Eine Krise ist eine Krise und für viele Menschen furchtbar. Umso wichtiger ist es über Privilegien zu sprechen, und darüber, welche politischen und ökonomischen Strukturen diese legitimieren.

Grenzen digitaler Bildung: Wie emanzipatorisch bilden in Zeiten von Corona?

Wie aber diese Fragen und Themen gemeinsam angehen und sich gegenseitig stärken, wenn Menschen keinen direkten Kontakt haben können? Geplante Bildungsveranstaltungen werden abgesagt oder sollen kurzfristig digital stattfinden. Auch für die gemeinsame Vorbereitung für Veranstaltungen fehlt der Offline-Kontakt mit Kolleg*innen. Transformative Bildung braucht vertrauensvolle Räume, in denen Menschen durch gegenseitigen Austausch und direkte Erfahrungen von- und miteinander lernen.

Hier stellen sich im Kontext digitaler Bildung eine ganze Reihe von Herausforderungen.
Zunächst müssen wir nach Möglichkeiten suchen, Menschen auch in der digitalen Sphäre zusammenzubringen, da Bildungsveranstaltungen womöglich für einen längeren Zeitraum hauptsächlich online stattfinden können. Jenseits der Frage, wer überhaupt in einer Krise an digitalen Lernformaten teilnehmen kann (Hardware, Software, Zeit, Energie etc.), stehen digitale Lernräume vor weiteren Grenzen. Erfahrungslernen mit Kopf, Herz, Hand und mit anderen Menschen als zentraler Bestandteil für transformative Bildung ist digital deutlich schwerer umzusetzen – nicht nur dann, wenn die schlechte Internetverbindung verhindert, dass alle einander sehen und ohne Rauschen und Ruckeln miteinander kommunizieren können, oder wenn die Kaffeepause zum Mailschreiben genutzt wird anstatt für angeregte Gespräche über die Workshopinhalte. Die gemeinsame Präsenz im Raum und der gemeinsame Fokus auf Themen und (Gruppen-)Prozesse lassen sich nur bedingt ersetzen, wenngleich hier sicher noch „viel Luft nach oben“ ist. Auch das Kennenlernen von Alternativen hat eine andere Intensität, wenn Lernende auf den Feldern einer solidarischen Landwirtschaft mitarbeiten, im Reparatur-Café ihre kaputte Tasche nähen oder in der Gemeinschaftsküche eines Wohnprojektes zusammen Kakao trinken und mit den Menschen am Ort des Geschehens in Kontakt kommen. Direkter Kontakt schafft Vertrauen, macht Mut und inspiriert für das eigene Leben.

Durch die aktuell stark zunehmenden Digitalisierung von Bildung sehen wir schließlich die Gefahr, dass diese auch über die Corona-Krise hinaus bestehen bleibt und dadurch Erfahrungslernen auf Basis physischer Nähe und Austausches noch weiter verdrängt und erschwert. Neben dem Fokus auf diese Herausforderungen sollten wir offen dafür sein, ob nicht digitale Bildungsformate auch Hürden senken können, z.B. für jene, die sich mit obigen Fragen noch wenig beschäftigt haben. Unter Umständen können die oft kürzeren, ortsunabhängigen und stärker anonymisierten digitalen Veranstaltungen auch zeitlich, logistisch und sozial attraktive Bildungsalternativen über die Corona-Krise hinaus schaffen.

Es gibt also viele neue Fragen und viel zu tun im Feld transformativer Bildung. Und dennoch: Kritische Bildung hinterfragt bestehende Verhältnisse. Weil diese mitverantwortlich für das Ausmaß der aktuellen gesellschaftlichen Krise sind, scheint es uns sinnvoll an unseren geplanten Themen festzuhalten und die aktuelle Situation miteinzubeziehen. Euch erwarten in den kommenden Monaten daher Beiträge zu folgenden Fragen: Wie gelingt uns der Übergang vom Wissen über soziale und ökologische Krisen zu einer wirklich solidarischen und nachhaltigen Lebensweise und Wirtschaft? Welchen Beitrag kann Bildungsarbeit dazu leisten? Wie und mit wem arbeiten wir konkret an der Umsetzung? Wie können wir dabei bereits im Hier und Jetzt gut leben? Und nicht zuletzt: Welche Potentiale und Fallstricke gibt es?

Esther Wawerda ist Teil des Bildungsteams im Konzeptwerk und arbeitet u.a. zu transformativer Bildung und sozial-ökologischer Transformation.

René Haase ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit im Konzeptwerk zu den Themen-Strängen Care und Transformative Bildung.

Teil 1 der Blog-Reihe „Transformative Bildung.
Jetzt mal konkret!“
Mit dieser Blogreihe wollen wir Erfahrungen und Eindrücke aus unserer Bildungsarbeit im Konzeptwerk darstellen. Wir wollen transformative Bildung greifbarer machen, durch Praxisbeispiele und die Berücksichtigung einzelner Debatten. Zwar hat die Corona-Krise auch uns als BIldungsakteur*innen vor neue Herausforderungen gestellt. Aber wir denken, die Corona-Krise macht eine Bildung, die kritisch und transformativ ist, aktueller und notwendiger denn je. Deshalb werden wir in den kommenden Wochen und Monaten an dieser Stelle Beiträge mit Eindrücken und Schlaglichtern unserer Arbeit veröffentlichen: trotz und gerade wegen Corona.