Was zählt eigentlich?

Um die Frage, „Was zählt?“, zu beantworten, haben wir in westlichen Gesellschaften eine Zahl erfunden, das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Seit den frühen 1950er-Jahren hat sich diese Zahl erst im kapitalistischen Westen und dann auch global durchgesetzt. Das BIP bemisst den Geldwert der durch Erwerbsarbeit produzierten Güter und Dienstleistungen eines Staates. Ob diese Güter und Dienstleistung den Menschen und der Umwelt zu Gute kommen oder schaden, wird in die Berechnung nicht aufgenommen. Wenn jemand einen Autounfall hat, steigt das BIP, da die ärztliche Behandlung eine Dienstleistung und das neue Auto eine Ware ist, deren Geldwert in das BIP einfließen. Auch Umweltkatastrophen wie die Havarie eines Öltankers steigern das BIP, da zum Beispiel Kompensationsleistungen gezahlt werden und die Arbeit des Katastrophenschutzes entlohnt wird.

Des Weiteren bemisst das BIP nur bezahlte Arbeit. In Deutschland werden aber nur 66 Millionen Arbeitsstunden pro Jahr bezahlt, während 89 Millionen Stunden nicht bezahlt werden und damit für das BIP nicht zählen. Unbezahlte Sorgearbeit – wie Zuhören und Nachfragen, Geburtstagsgeschenke besorgen oder Streit schlichten – wird nach wie vor nicht entlohnt und vorrangig von weiblich sozialisierten Menschen übernommen. Auch die sogenannten „Ökosystemdienstleistungen“ zählen nicht. Darunter fällt zum Beispiel das Bestäuben der Obstbäume durch Insekten, die Bewässerung unserer Äcker durch Regen oder die Aufbereitung der Frischluft durch Bäume. Ohne diese „Leistungen“ würden wir nicht überleben.

Zu guter Letzt sagt das BIP nichts über die Verteilung des Wohlstands aus. Es könnten also sehr wenige Menschen vom Anstieg des BIP profitieren und damit die Ungleichheit in der Gesellschaft steigen. Trotzdem würde dieser Anstieg als Erfolg gefeiert werden, weil das BIP-Wachstum als Indikator für den Anstieg von Wohlstand gilt. Aber seit den 1980er-Jahren stagniert das Wohlergehen der Menschen, während das BIP weiterhin gestiegen ist. Was jedoch parallel ansteigt, ist die Umweltzerstörung. Seit 1972 Die Grenzen des Wachstums veröffentlicht wurde, der erste Bericht an den Club of Rome, wissen wir, dass Wirtschaftswachstum mit einem erhöhten Materialdurchlauf (Produktion, Konsum, Müll) verbunden ist. Dieser Ressourcenverbrauch lässt sich nach wie vor nicht vom Wirtschaftswachstum entkoppeln, egal wie technikoptimistisch nach solchen Möglichkeiten gesucht wird. Vor allem der Rebound-Effekt macht diese Effizienzgewinne immer wieder wett. So ist der Verbrennungsmotor zum Beispiel deutlich effizienter geworden, dafür sind die Autos aber schwerer geworden und haben mehr PS, sodass der Verbrauch unterm Strich nicht gesunken ist.

Die Frage, „Was zählt?“, lässt sich aus verschiedenen Perspektiven beantworten, häufig wird jedoch – bewusst oder unbewusst – eine verengte ökonomische Denkweise herangezogen: Etwas zählt, lohnt sich, ist wünschenswert, wenn ich profitiere. „Ökonomisch“ in diesem Sinne meint genau genommen „kapitalistisch“. Würden wir aber eine „gemeinwohlökonomische“ Perspektive einnehmen, dann würden wir andere Kriterien anlegen, um zu bestimmen, was zählt. Es wäre nicht mehr entscheidend, ob ich oder die Menschen profitieren, die mir nah sind. Entscheidend wäre, ob etwas allen Menschen und der Umwelt zu Gute kommt.

In unserer Vision für 2048 haben wir diese grundverschiedene Wirtschaft skizziert. Darin beschreiben wir, wie unsere Gesellschaft aussehen könnte, wenn wir unser Miteinander auf Kooperation statt Konkurrenz, auf Bedürfnisorientierung statt Profitgenerierung und auf Solidarität statt auf Abschottung ausrichten würden. In unserer Vision wird die Frage, was ökonomisch sinnvoll ist, mit Blick auf menschliche Bedürfnisse und ökologische Regenerationsprozesse demokratisch ausgehandelt. Es gibt dort eine umfassende Daseinsvorsorge durch öffentliche Betriebe. Gesundheitsversorgung, Mobilität, Wohnen und Bildung sind kostenlos, aber auch deutlich weniger kostenintensiv, weil sparsamer gebaut, lokaler gereist und gesünder gelebt wird. Ein wichtiger Bestandteil dieser Wirtschaft ist auch die selbstorganisierte Beitragsökonomie, deren Prinzipien „Beitragen statt Tauschen“ und „Besitz statt Eigentum“ sind. Tauschlogikfreies Wirtschaften überwindet Markmechanismen vollständig, da in Beitragsökonomien nicht Waren in Geld und Geld in Waren getauscht werden, sondern alle für die Gesellschaft produzieren und von ihr versorgt werden.

All diese Konzepte sind weder neu noch unrealistisch. Vieles wird bereits an verschiedenen Stellen ausprobiert und gelebt; von sogenannten „gemeinsamen Ökonomien“ bis zu solidarischen Landwirtschaften oder Kollektivbetrieben. Ob wir diese Wirtschaftsformen aus den Nischen heben können, ist vor allem eine Machtfrage. Glücklicherweise wurde vor wenigen Jahren ein Hebel (wieder)gefunden, um die ungleichen Machtverhältnisse, die sich in unserer Gesellschaft vor allem in Eigentumsstrukturen manifestieren, infrage zu stellen – Artikel 15 des Grundgesetzes: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“

Mit diesem Verfassungs-Juwel ausgestattet, hat die Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen (DWE) 2021 eine erfolgreiche Kampagne für die Vergesellschaftung von Wohnraum in Berlin geführt und diese Strategie sowie den Verfassungsartikel wieder in den gesellschaftlichen Diskurs geholt. In Berlin und vielen weiteren Großstädten ist eigentlichen allen Bewohner*innen klar, dass der Markt bei der Aufgabe versagt, das menschliche Grundbedürfnis nach Wohnraum angemessen zu befriedigen. Aber da die Berliner Regierung die Umsetzung des erfolgreichen Mietenvolksentscheids verschleppt und blockiert, erarbeitet DWE einen Gesetzesvolksentscheid, der rechtlich bindend sein soll. Darüber hinaus inspiriert der Kampf um die Vergesellschaftung von Wohnraum Aktivist*innen aus anderen Bereichen. So wird im März die Konferenz „Let’s socialize – Vergesellschaftung als Strategie für Klimagerechtigkeit“ stattfinden. Dort werden Aktive aus den Bereichen Landwirtschaft, Care-Arbeit, Mobilität und Energie zusammenkommen und Konzepte entwickeln, wie Vergesellschaftung in ihren Bereichen aussehen kann.

Denn wenn wir nicht an Vergesellschaftung in all diesen Bereichen arbeiten, dann lässt sich die Frage, „Was zählt?“, weiterhin nur kapitalistisch beantworten: Es wird weiterhin vor allem das zählen, was Profit bringt. Dabei wäre eine Wirtschaft, die an sozialer, ökologischer und globaler Gerechtigkeit ausgerichtet ist, möglich.

in einem Anwaltsbüro. Das Projekt „Haus Bartleby e. V. – Zentrum für Karriereverweigerung“ hat aus dieser Haltung heraus von 2014 bis 2017 verschiedene Performances, unter anderem das Kapitalimustribunal, aufgeführt und Bücher veröffentlicht, um dem „Wachstums- und Karrierefetisch“ etwas entgegenzusetzen. In der Theorie erstaunlich simpel, ist es in der Praxis oftmals äußerst schwierig, sich zu verweigern. Eine Hilfestellung bietet das von der Gruppe herausgegebene Buch Sag alles ab! Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik (Edition Nautilus, 2015).

Mit der individuellen Verweigerung von Leistungszwänge lässt sich sicherlich gut beginnen. Aber dies kann nur die Probe für den großen kollektiven Aufstand gegen ein Wirtschaftssystem sein, das uns tagtäglich zeitlichen, hierarchischen und Leistungszwängen unterwirft. Es gibt bereits gute Ansätze und wir sind eingeladen kreativ zu werden, um gemeinsam weitere Wege zu finden, nicht nur unsere individuelle, sondern vor allem unsere kollektive Freiheit zu vergrößern. Mehr Zeitwohlstand, Mitbestimmung und das Gefühl zu genügen, als die, die wir sind, warten auf uns.

 

 

Dieser Text ist erstmals ist in der Rubrik „Zukunft für alle“ in der Agora42 02/2024, einem philosophischen Wirtschaftsmagazin, erschienen.

Autor*in
Foto von Mascha Schädlich

Mascha Schädlich (sie)

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