Wider den Wachstumsfetisch

Eine Analyse zu Corona und Degrowth

Von Christoph Sanders, Matthias Schmelzer, Andrea Vetter

Dieser Beitag ist zuerst in der Taz erschienen.

20.04.2020

 

Jetzt ist die Zahl raus: die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren für das zweite Quartal 2020 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland um 9,8 Prozent. Das ist der stärkste Quartalsrückgang seit Beginn dieser Messung im Jahr 1970 – und doppelt so hoch wie während der Finanzkrise im ersten Quartal 2009. Möglicherweise fällt die Schrumpfung der Wirtschaft noch deutlich größer aus. Das ist höchst bemerkenswert, denn anders als bei der Weltfinanzkrise handelt es sich dieses Mal um eine bewusste Wachstumsrücknahme: Die Schrumpfung wurde politisch entschieden für ein höheres Ziel als Wirtschaftswachstum, nämlich das Retten von Menschenleben. Eine große Mehrheit der Bevölkerung trägt diese Entscheidung unter Inkaufnahme hoher persönlicher Verluste mit. Ist das nun eine Postwachstumsökonomie?

Corona lehrt uns, dass es politisch möglich ist, die Wirtschaft runterzufahren, dass das Klima Degrowth braucht und wie bedeutend Sorgearbeit ist

Eure Krise: Nicht unser Degrowth

Im Konzeptwerk Neue Ökonomie arbeiten wir seit langem zu den Möglichkeiten einer Wirtschaft ohne Wachstum, einer Degrowth-Gesellschaft. Und wir müssen klar sagen: nein, was wir aktuell sehen ist keine Postwachstumsgesellschaft. Denn eine Degrowth-Wirtschaft will ein gutes Leben für alle Menschen, ist krisenfest und ökologisch nachhaltig. Statt dessen ist die aktuelle Situation eine kapitalistische Wirtschaftskrise. Sie verschärft Ungleichheiten und Ausgrenzung. Sie bedroht Millionen Menschen existentiell, weil die Sozialsysteme nicht vom Wachstum entkoppelt sind.

Trotzdem zeigt die Coronakrise eines, das wir für die Zeit danach nicht vergessen sollten: es ist politisch möglich, für ein höheres Gut die Wirtschaft zurückzufahren. Niemand kann mehr sagen, eine Reduktion von Inlandsflügen, um so das Klima zu schützen, sei unmöglich. Wie also kann es möglich werden, die aktuelle Krise als Diskussionsgrundlage zu nehmen, um endlich den Wachstumsfetisch hinter uns zu lassen, und den Wiederaufbau nach dieser tiefen Krise an einer gerechten und ökologisch tragbaren Wirtschaft zu orientieren?

Sorgearbeit ins Zentrum der Wirtschaft

Die Bedeutung von Sorgearbeit – im Gesundheitsbereich, in der Kinderbetreuung oder der Hausarbeit – wird gerade in dieser Krise vielen Menschen bewusst. Weil Sorgearbeit so zentral für ein gutes Leben für alle ist, steht sie in einer Postwachstumsgesellschaft im Zentrum. Dort ist sie besser bezahlt, gesellschaftlich anerkannt und geschlechtergerecht verteilt. Anerkennung von Sorgearbeit baut globale „Sorge-Ketten“ ab. Menschen sind dann lokal gut versorgt und nicht auf prekarisierte Arbeitsmigrant*innen angewiesen, die eine Lücke in ihren Familien und Herkunftsorten hinterlassen, um in reicheren Ländern zu arbeiten.

Arbeitszeitverkürzung und sozial-ökologische Steuerreform

Im Homeoffice stellen gerade viele Menschen fest, wie zeitintensiv Sorgearbeit ist. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich für untere und mittlere Lohngruppen ist deshalb eine Kernforderung von Degrowth. Sie verteilt das in Deutschland sehr ungleiche Einkommen und damit Macht um. Aus Degrowth-Perspektive ist Arbeitszeitverkürzung auch deshalb wünschenswert, um die Wirtschaft wachstumsunabhängiger und stabiler zu machen: Wenn mehr Menschen weniger arbeiten und ressourcenintensive Maschinen, wo es sozial-ökologisch sinnvoll ist, zurückgebaut werden, dann müssen weniger Menschen entlassen werden, wenn die Wirtschaft schrumpft. Vermögen und Energieverbrauch müssen viel höher besteuert werden als Arbeit, damit es unattraktiv wird, viel Kapital in Maschinen zu investieren.

Gegen die Klimakrise: Gemeinwohl & Open Localism

Diese Krise zeigt erneut, dass nur ein Rückgang des BIP zu einem ausreichend schnellen Absinken der Umweltbelastungen und des CO2-Austosses führt, um dem Klimawandel wirksam zu begegnen. Seit Jahren zeigen Studien, dass eine ausreichende Entkopplung von CO2-Verbrauch und BIP-Wachstum unmöglich ist. Deshalb fordert Degrowth einen umfassenden sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft, der auch mit einem Rückgang des BIP in den Ländern des globalen Nordens einhergeht. Wir dürfen nach der Krise nicht zur sozial ungerechten und ökologisch zerstörerischen Wachstumswirtschaft zurückkehren. In einem Degrowth-Szenario gibt es daher keine „Bailouts“ für fossile Industrien. Statt dessen muss ein Investitionsprogramm für Klimagerechtigkeit gemeinwohlförderliche Wirtschaftsbereiche stärken. Diese sollen wachsen und im Sinne eines sozial-ökologischen Strukturwandels Arbeitskräfte aus schrumpfenden Wirtschaftszweigen aufnehmen.

Offener Lokalismus

Die Corona-Wirtschaftskrise zeigt, dass globale Produktions- und Lieferketten nicht nur menschenrechtlich und ökologisch viele Probleme aufweisen, sie sind auch sehr krisenanfällig.
Deshalb müssen sie lokaler gestaltet werden. Im Sinne eines offenen Lokalismus darf eine lokalere Wirtschaft jedoch nicht einen Nationalismus befeuern, wie die derzeitige Engführung des Solidaritätsbegriffs befürchten lässt. In einer solidarischen Postwachstumsgesellschaft ist Bewegungsfreiheit für Menschen, egal in welchem Land sie geboren wurden, ein Grundrecht.

Die Pandemie als Scheideweg

„Entweder wir entscheiden uns für ein Projekt des Lebens und der Sorge umeinander oder für eines der beschleunigten gesellschaftlichen Zerstörung“ (Raul Zelik; WOZ, 02.04.20). Jetzt ist die Zeit, alles dafür tun, dass die Krise nicht einen autoritäreren Kapitalismus hervorbringt, der unsere Gesellschaften und Ökosysteme schneller destabilisiert und eine große Transformation zunehmend verunmöglicht.
Jetzt ist die Zeit, eine breitere demokratische Beteiligung in einem transparenteren Corona-Krisenmanagement zu erkämpfen. Dieses wird nicht morgen vorbei sein. Es ist die Zeit, Diskussionen über alternative Gesellschaftsentwürfe und Politikvorschläge wie Ernährungswende, Verkehrswende, Mobilitätswende und viele mehr zu vertiefen. Diese Krise macht deutlich, dass radikale Veränderungen unserer Lebens- und Produktionsweise möglich sind und von einer breiten Mehrheit getragen werden können. Es muss deutlich werden: Bei einer sozial-ökologischen Transformation gibt es für die meisten Menschen viel zu gewinnen. Die Klima- und Gerechtigkeitskrise auf diesem Planeten ist allein technisch nicht zu lösen: sie ist ein politisches und kulturelles Projekt. Es ist die Zeit für den demokratischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne eines guten Lebens für alle.

 Andrea Vetter arbeitet im Konzeptwerk zu Care und Degrowth-Themen.

Matthias Schmelzer arbeitet im Konzeptwerk am Projekt „Zukunft für alle – gerecht. ökologisch. machbar.“

Christoph Sanders macht Bildungarbeit und ist im Degrowth-Team des Konzeptwerks.