Zeit der Umbrüche – Zeit der Möglichkeitsfenster
Diese Zeitenwende, von der alle sprechen – fand sie wirklich mit dem Angriff auf die Ukraine statt? Oder war es die Coronapandemie, die uns völlig aus unserem Alltag gehebelt und uns gezeigt hat, dass nichts wirklich sicher ist und so bleibt, wie wir es kennen? Vielleicht war es aber schon der Sommer 2015 als Kanzlerin Merkel uns versprochen hat, dass wir es gemeinsam schaffen werden, ganz viele Neuankömmlinge in unserem Land willkommen zu heißen. Was ist mit der Weltfinanzkrise 2007/08? Dachten wir damals nicht, alles bricht zusammen?
Oder der Terroranschlag auf das World Trade Center 2001? Was für ein Schock es war, dass die USA nicht unverwundbar sind.
Was macht den Überfall auf die Ukraine zu einem Wendepunkt? Warum ist es der Krieg in Gaza nicht im gleichen Maße? Scholz erklärte uns seine Zeitenwende in seiner Rede am 27. Februar 2022, die Welt sei jetzt nicht mehr dieselbe – und ermöglichte damit ein Sondervermögen für die Bundeswehr von beispiellosen 100 Milliarden Euro.
Für Scholz und die deutsche Bundesregierung mag der russische Angriffskrieg tatsächlich ein Einschnitt in der europäischen Geschichte sein. Die Ära der Entspannungspolitik, die nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der Sowjetunion eingeleitet wurde, scheint beendet. Damit wird ein außen- und sicherheitspolitischer Kurswechsel eingeleitet.
Hinzu kommt die Angst. „Die Russen kommen“ – keinen anderen Satz habe ich von meiner dementen Großmutter so oft gehört wie diesen. Sie und ihre acht Geschwister sind in Danzig aufgewachsen. Als „die Russen kamen“ hatte sie als Zweitälteste die Verantwortung, all ihre Geschwistern heil bis ins heutige Norddeutschland zu bringen. In einem Zug, der so voll war, dass Oma auf die Toilette gegangen ist, um sich wenigsten einmal kurz hinzusetzen und der nur nachts und ohne Licht fuhr, um von den russischen Fliegern nicht bombardiert zu werden. So zumindest die Geschichten, die mir in meiner Kindheit zu Kokos-Kuchen und Limonade serviert wurden. Die Angst vor „den Russen“ sitzt tief in der deutschen Geschichte, sie wird an die Enkel*innen weitergegeben. Sie ist zum Teil kollektive Erfahrung, zum Teil westliche Propaganda.
Vielleicht ist die einige Jahrzehnte andauernde Ruhe im Kalten Krieg zu Ende gegangen. Ganz verstanden warum die NATO Anfang der 1990er-Jahre nicht aufgelöst wurde, habe ich nie. Gefühlt jeden Morgen höre ich im Deutschlandfunk eine Rede von NATO-Generalsekretär Stoltenberg – ohne, dass die zunehmende Militarisierung kritisch hinterfragt wird. Ab 2026 sollen wieder US-Marschflugkörper in Deutschland stationiert werden. Ist das die Zeitenwende? Zurück in die Zukunft? Schließe ich mich dann den Initiativen an, die „Rheinmetall entwaffnen“ fordern, und protestiere gegen die Münchener Sicherheitskonferenz so wie meine Mutter, die in den 1980er-Jahren gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen und gegen Aufrüstung als vermeintliche Abschreckungsstrategie protestiert hat?
Schon wieder größenwahnsinnige Männer, die sich in vermeintlicher Blockkonfrontation gegenüber stehen, und riesige Militärkonzerne, die an den Kriegen und Konflikten in der Ukraine, Gaza, im Sudan, in Tigray im Norden Äthiopiens, Westpapua, Hawaii, Kurdistan, der Westsahara, im mexikanischen Chiapas, in Myanmar, Syrien, Libyen und Somalia verdienen. Ich bin es so leid. Ich habe keine Lust, meine Energie in einen Verteidigungskampf für Frieden und Demokratie investieren zu müssen. Ich will mehr. Ich will das gute Leben für alle. Meine Mutter hat schon gegen Aufrüstung und Militarisierung gekämpft, ich will mehr als das.
Also fahre ich aufs System Change Camp nach Erfurt. Dort wird eine Zeitenwende nicht voller Angst entgegengeblickt, sondern geradezu anvisiert. Aber natürlich meinen wir dort die Wende in eine ganz andere Zeit: die Veränderung unseres Gesellschaftssystem von Konkurrenz zu Solidarität, von rechter Hetze zu einer Welt, in der Menschen ohne Angst verschieden sein können, und von der Verdrängung der Klimakrise hin zu einer Auseinandersetzung mit dem, was kommt.
Sechs Tage Zeit und so viele Fragen zu diskutieren: Was bedeutet revolutionäre Realpolitik in Zeiten des „Rechtsrucks“? Wie können wir langfristig politisch aktiv bleiben und widerständig leben? Wie kann linkes prepping for future aussehen? Was können wir von den Zapatistas für unsere Kämpfe lernen? Wie erreichen wir eine klimaverträgliche Produktionsweise?
Das Gefühl, nicht ohnmächtig einer sogenannten Zeitenwende gegenüber zu stehen, in der international wieder hochgerüstet wird und wir in Sachsen wie die Kaninchen vor der AfD-Schlange sitzen, bekomme ich auch bei der Wahlkampfveranstaltung von Nam Duy Nguyen, dem Linken-Direktkandidaten im Leipziger Osten. Bei der gut besuchten Stadtteilversammlung Ende Juni singen zum Abschluss alle Zeit, dass sich was dreht von Herbert Grönemeyer. Man merkt all den Menschen, die für Nam Duy in den Haustürwahlkampf ziehen an, dass sie überzeugt davon sind, einen Unterschied zu machen. Dass sie dazu beitragen können, die notwendigen zwei Direktmandate zu gewinnen und damit zu verhindern, dass die Linke in Sachsen aus dem Landtag fliegt, was schwerwiegende Konsequenzen für alle linken Strukturen im Freistaat hätte. „Zeit, dass sich was dreht“ – eine Zeitenwende auch hier, aber in eine ganz andere Richtung!
Dann liege ich mit meinen neuen Freund*innen auf der Donauinsel in Wien. Es ist August, es ist heiß, wir kommen von einem Degrowth-Festival zurück und wollen uns so recht nicht lösen aus der schönen Erfahrung. Eine Woche lang gemeinsam mit 100 Menschen verbringen, unser Gemüse selber ernten und zubereiten, uns den ganzen Tag in Workshops beschäftigen mit dekolonialen Perspektiven, queerfeministischen Aktionsformen und vor allem ganz vielen Ideen davon, wie ein Leben jenseits der kapitalistischen Wirtschaftsweise aussehen könnte. Wir wollen nicht aufhören, davon zu träumen, dass eine andere Welt möglich ist. Und wir wissen, dass es nicht nur ein Traum ist. Wir sind uns da ganz sicher, weil die Erfahrung von Gemeinschaft noch so frisch ist und wir sie mit nach Hause nehmen und hüten werden wie ein Schatz. Wir werden versuchen, sie wachsen zu lassen, indem wir versuchen, auch in Paris gemeinschaftlich zu wohnen, auch in den dicht besiedelten Niederlanden mehr solidarische Landwirtschaft zu ermöglichen, gemeinsam in Nachtzügen durch Europa reisen, um unsere Freund*innen in Italien und in Spanien zu besuchen, uns lange Emails zu schreiben, um den Austausch über alternative Formen des Wirtschaftens und das utopische Geschichten erzählen fortzuführen.
Als ich glücklich angetrunken im Nachtbus sitze und in Gedanken durch die wunderschönen vergangenen Sommertage streife, fällt mein Blick auf den Bildschirm, der an der Decke des Busses befestigt ist. Horrornachrichten aus aller Welt: Terrorgefahr in Australien, rechte Mobs in Großbritannien, Überschwemmungen in Nordkorea, unsägliche Geschlechterdiskurse zu Olympia.
Wie kann es sein, dass inmitten all dieser Krisen so schöne Momente der Solidarität und Hoffnung möglich sind? Wie umgehen mit dieser Dissonanz?
Dieser Text ist erstmals ist in der Rubrik „Zukunft für alle“ in der Agora42 04/2024, einem philosophischen Wirtschaftsmagazin, erschienen.
Autor*in
Mascha Schädlich (sie)
erschien in der Agora42 04/2024
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