Der Wandel der Wirtschaft aus der Sicht eines „Verlierers“

Zukunftswerkstatt zum Thema Unternehmen

Von Kai Kuhnhenn

05. August 2020

 

Wie sieht die Zukunft der Wirtschaft und Unternehmen aus? Dieser Frage ging im Rahmen unseres Projektes „Zukunft für alle – gerecht.ökologisch. machbar.“ eine Gruppe von Vordenker*innen aus Wissenschaft, Politik und sozialen Bewegungen nach. Der folgende Blogbeitrag ist keine Zusammenfassung der Inhalte der Zukunftswerkstatt, wurde aber davon inspiriert und nimmt viele Vorschläge auf.
Im Jahr 2048 gibt es: Demokratische Betriebe, Zeit für Wertschätzung im
Betrieb, Commoning

Im Jahr 2048 gibt es nicht mehr: Arbeiten zur Existenzsicherung, sehr ungleiche Gehälter, Renten aus dem Besitz von Grund und Boden oder Kapital, profitorientierte Aktienkonzerne

Ein Interview im Rahmen des Dossiers – „Die Verlierer des Wandels?“ der SoTz (Solidarische Tageszeitung), erschienen am 03. Juni 2039

Herr Wackermann, vielen Dank für Ihre Zeit, können Sie sich kurz vorstellen?

Mein Name ist Andreas Wackermann, ich war bis 2023 Vorstand der Innoheim, eines großen Unternehmens im Pflegebereich, das mal 170 Pflegeheime besaß sowie zahlreiche weitere Immobilien. Heutzutage bin ich in Rente und arbeite noch ein wenig in der Buchhaltung eines Buchbindekollektivs.

Die 2020er Jahre gelten als Zeit des Umbruchs, können Sie kurz skizzieren, was aus Ihrer Sicht damals geschah?

Die Wirtschaft allgemein hatte eigentlich seit der Finanzkrise 2008 Probleme, aber meinem Unternehmen ging es ziemlich gut. Dann kam die Corona-Pandemie, das hat alles verändert. In zahlreichen Ländern wurde klar, wie fragil das Gesundheits- und Pflegesystem geworden war… wegen der Rationalisierungen und Privatisierungen Anfang der 2000er.

Können Sie das kurz erläutern?

Als Aktienunternehmen im Pflegebereich haben wir damals mit allen anderen Unternehmen an der Börse konkurriert, mit Unternehmen, die mithilfe technischer Innovationen ihre Gewinnspannen erhöhen konnten. Diese Möglichkeiten sind im Pflegebereich begrenzt, daher wurde auf Arbeitseffizienz gesetzt – die Vorgänge in der Pflege wurden quantifiziert, also wie lange braucht Anziehen, Waschen, Essen reichen – , durchkalkuliert, vereinheitlicht und so weit es ging beschleunigt. Jeder Arbeitsschritt bekam einen Preis – und wurde immer weiter optimiert, um den Preis zu drücken, Gehälter wurden reduziert. In den Krankenhäusern war es ähnlich – alles musste so schlank und effizient werden wie möglich. Als die Pandemie kam, fehlten dann Kapazitäten, Pflege- und Krankenhauskräfte waren überarbeitet. Vor allem nach der Krise gab es dann diese Bewegung, die eine Vergesellschaftung der Pflege forderte, damit sie nicht mehr der Marktlogik folgt.

Wie haben Sie das damals erlebt?

Die Pandemie hat sehr viel Stress für die Firmenleitung und das ganze Unternehmen erzeugt und dann kamen die Vorwürfe dazu. Ich war damals noch fest davon überzeugt, dass der Markt das beste Werkzeug ist, um Bedarf und Angebot zu koordinieren. Ich habe zwar gesehen, dass dadurch im Krisenfall zu wenig Kapazitäten bereit standen, sah das aber eher als Problem der richtigen politischen Rahmensetzung. Ich habe ehrlich gesagt nicht daran geglaubt, dass demokratische Kontrolle und eine Abkehr vom Markt funktionieren, schließlich waren meine Kollegen und ich schon alle lange dabei und hatten soviel Expertenwissen.

„Die demokratische Kontrolle hat die Kontrolle durch Angebot und Nachfrage ersetzt. Wie ein Unternehmen wirtschaftet, wird demokratisch entschieden, vor allem von denen, die im jeweiligen Betrieb arbeiten, auch das, was es produziert.“

Aber es hat dann doch funktioniert.

Ja, erstaunlich gut. Zuerst wurde der ganze Pflegesektor vergesellschaftet, anfangs als städtische Einrichtungen, dann zunehmend in Form von Genossenschaften und Kollektiven. Dafür wurden Pflege-Räte geschaffen, die den Prozess demokratisch organisiert und kontrolliert haben.
Und wie wir jetzt alle wissen – dabei blieb es nicht. Als klar wurde, wie gut das System funktioniert, gab es auf einmal ganz viele andere Bewegungen, die einen Rückzug des Marktes aus ihrem Bereich forderten.

Sie meinen die Bewegungen in den Bereichen Ernährungen, Energie und Bildung? Die gab es ja schon lange vor der Pandemie.

Das mag sein, ich hab diese Dinge damals nicht so genau beobachtet. Jedenfalls passierte dann das, was im Pflegesektor passierte auch in anderen Bereichen.

Und das führt uns zur jetzigen Situation, in der es zwar immer noch einen Markt gibt, dieser aber wie die Unternehmen viel stärker kontrolliert wird.

Das heißt zwar noch Markt und Wirtschaft, aber hat mit dem, was früher war, kaum noch etwas zu tun. Die demokratische Kontrolle hat die Kontrolle durch Angebot und Nachfrage ersetzt. Wie ein Unternehmen wirtschaftet, wird demokratisch entschieden, vor allem von denen, die im jeweiligen Betrieb arbeiten, auch das, was es produziert. Die Maximaleinkommen sind begrenzt und durch das Grundeinkommen ist quasi auch eine untere Grenze gesetzt. Der ganze Unternehmenszweck hat sich geändert – es geht um den Beitrag zur Gesellschaft und nicht um Profite.

Und auch die Struktur der Wirtschaft hat sich geändert.

Ja, die ganze Finanzindustrie, Versicherungsindustrie, Rüstungsindustrie und Schwerindustrie sind weniger geworden, ganz zu schweigen von der Automobilindustrie. Dafür ist mein ehemaliger Bereich stark ausgeweitet worden, genauso wie der Bereich der Bildung.

„Ich musste lernen, wieder mit weniger auszukommen. Aber irgendwann hab ich gemerkt, dass es für mein Wohlbefinden eigentlich nur eine kleine Rolle spielt, ob ich eine Garage voller Maserati und 5 Zimmer mehr habe in meinem Haus.“

Wie war dieser Wandel für Sie persönlich?

Ich hatte, wie gesagt, große Skepsis. Und natürlich hat es bei mir auch persönlich zu großer Unsicherheit geführt, was meine finanzielle Situation angeht. Ich habe daher, und das bereue ich aus heutiger Sicht, lange gegen diesen Wandel gekämpft. Aber ich hab mich in den Menschen getäuscht und darüber bin ich froh. Nachdem ich meine „Trotzphase“ hinter mir hatte, habe ich dann auch eingesehen, dass ich mich einbringen sollte, anstatt nur darauf zu hoffen, das alles zusammenbricht. Ich bin dann in verschiedene Care-Räte gegangen und war überrascht, wie ich behandelt wurde.

Wie meinen Sie das?

Ich hatte mit Vorverurteilung und Ablehnung gerechnet, aber als klar wurde, dass ich helfen will, waren die Leute für meine Ansichten dankbar. Wissen Sie, innerhalb des Unternehmens lief ja damals bei uns auch viel ohne Geld, das war quasi schon ein marktfreier Raum. Deswegen waren viele Prozesse in den Räten dann auch ähnlich und ich wusste ja, wie man Pflege organisiert. Ich wusste nur nicht wie man gute Pflege organisiert und wie man das ohne Hierarchien macht. Ich hab mich sehr über diese Wertschätzung gefreut und auch über die Wertschätzung, die der ganze Pflegebereich heute genießt.

Auch wenn diese Wertschätzung in ihrem Fall mit weniger Vergütung einhergeht?

(lacht) Weniger Vergütung ist ja noch sehr untertrieben! Das geringe Maximaleinkommen, die zunehmende Besteuerung von Kapitalerträgen und die Vergesellschaftung des Wohnraums – damit war mein Vermögen weg! Ich musste lernen, wieder mit weniger auszukommen. Aber irgendwann hab ich gemerkt, dass es für mein Wohlbefinden eigentlich nur eine kleine Rolle spielt, ob ich eine Garage voller Maserati und 5 Zimmer mehr habe in meinem Haus.

Gibt es denn trotzdem auch etwas, das sie vermissen?

Das Taktieren, das Bündnisse schmieden, die Entscheidungsmacht – ich verstehe, wie wenig das einer Gesellschaft zuträglich ist, aber natürlich hatte das damals eine Faszination. Es war wie ein Spiel mit unglaublich hohem Einsatz und entsprechend hohem Gewinn oder Verlust. So etwas gibt es heute nicht mehr.

Lieber Herr Wackermann, wir danken für das Gespräch.

Das Konzeptwerk Neue Ökonomie führte die Zukunftswerkstatt im Rahmen des Projekts „Zukunft für alle – ökologisch. gerecht. machbar“ durch.