Zeit der Umbrüche – Zeit der Möglichkeitsfenster

Normal ist, was wir gewohnt sind. Herausfordernd also, dass sich unsere Arbeitsweise, unsere Beziehungsmodelle, unsere Ernährungsweise, die technischen Möglichkeiten und – mit den weitreichendsten Folgen – sogar unser Klima in zunehmendem Tempo verändert. Viele sehnen sich zurück in eine Welt die verstehbarer und vertrauter ist, als der derzeitige Imperativ des immer Neuen, der kürzlich auch noch eine bedrohliche Schwester in Form von unbeherrschbaren Krisen bekommen hat: Pandemien, Naturkatastrophen, Inflation, Krieg. Diese Krisen sind vielleicht doch nicht so neu, aber sichtbar wie lange nicht mehr. Die Illusion, wir hätten alles im Griff, ist stark beschädigt.

Unsere Normalität selbst befindet sich in der Krise. Doch unsere kapitalistische Wirtschaftsweise hat schon vor der Krise dieser Normalität Reichtum für Wenige auf Kosten von Vielen erzeugt und unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstört. Auch wenn die russische Invasion der Ukraine bei Vielen das Gefühl erzeugt hat, dass eine lange Periode der Friedenszeit vorbei gegangen ist, hat in den letzten Jahrzehnten immer Krieg geherrscht – nicht zuletzt unter deutscher Beteiligung. Diskriminierung aufgrund von zugeschriebener oder tatsächlicher Herkunft, aufgrund des Geschlechts (oder der Weigerung sich in ein binäres Geschlechtersystem einordnen zu lassen) sowie aufgrund der Klassenzugehörigkeit sind in unserer Gesellschaft tief verwurzelt. Auch wenn wir immer mutiger voran schreiten, um dies zu ändern, haben wir noch einen langen Weg der Aufarbeitung vor uns.

Wenn aber unsere alte Normalität, gar nicht so gut war, und wir uns in einer Phase von tiefgreifenden Veränderungen befinden, dann ist das vielleicht nicht nur schlecht, sondern auch eine Option für Verbesserung: Eine Zeit der Umbrüche ist auch eine Zeit der Suchbewegungen und Möglichkeitsfenster. Und indem wir uns diese Veränderungsprozesse aneignen und sie mitgestalten, verlieren sie auch ihre beängstigende und überfordernde Dimension. Stattdessen können sie zu einer spannenden Auseinandersetzung mit der Frage, „Wie wollen wir leben?“, werden: Wie könnte eine neue Normalität aussehen, wenn wir unserer Vorstellungskraft Raum geben und unsere Zukunftsentwürfe nicht von der krisengeschüttelten Gegenwart bestimmen lassen? Dazu möchte ich durch drei Möglichkeitsfenster auf die Zukunft blicken.

Möglichkeitsfenster 1:
Vielen Menschen ist längst bewusst, dass das Ende der Verbrennungsmotoren eine klimapolitische Notwendigkeit ist. Unsere Mobilität wird sich zwangsläufig verändern müssen. und Wir haben die Möglichkeit, weiterhin motorisierten Individualverkehr zu fördern, indem wir auf E-Autos setzen, oder wir widmen uns der übergeordneten Frage: Wie können wir Mobilität sozial und ökologisch gerecht gestalten?
Autos sind an einem Großteil der Verkehrsunfälle in Städten beteiligt und Abgase und Feinstaubbelastung führen jedes Jahr zu tausenden Todesfällen. Dabei bietet der öffentliche Raum ein riesiges Potenzial, die Lebensqualität der Stadtbewohner*innen zu verbessern. Wo Straßen nicht mehr vorrangig für Autos da sind, kann Platz für Begegnung in der Nachbarschaft und schattenspendende Bepflanzung entstehen. Anstatt auf einen reinen Antriebswechsel zu setzen, könnten wir eine umfassende Mobilitätswende einleiten herbeiführen. Autofreie Städte würden den Bewohner*innen und ihrer Gesundheit, der gerechten Verteilung des öffentlichen Raums und dem Klima- und Artenschutz dienen.

Möglichkeitsfenster 2:
Wohnraum ist in Deutschland sehr ungleich verteilt, sowohl in seiner Qualität als auch in seiner Quantität. Und dadurch, dass die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf kontinuierlich zunimmt, werden Energieeinsparungen durch bessere energetische Standards zunichte gemacht. Dass diesem Problem politisch nicht begegnet wird, liegt daran, dass die Profitinteressen von Immobiliengesellschaften und Finanzwirtschaft einer geringeren Wohnfläche und einer gerechteren Wohnraumverteilung entgegenstehen. Auch in diesem Bereich stellt sich die Frage: Wie könnte Wohnraum sozial und ökologisch gerecht verteilt und genutzt werden?
Durch Vergesellschaftung großer Immobilienunternehmen könnte Wohnraum den Profitinteressen entzogen und stattdessen demokratisch, bedürfnisgerecht und sparsam verteilt werden. Diese Idee ist nicht einmal besonders utopisch, sondern bereits teilweise in kommunalen Wohnungsunternehmen und Genossenschaften verwirklicht.

Möglichkeitsfenster 3:
Auch unsere Arbeitswelt befindet sich in einer immer offensichtlicheren Krise. Viele Menschen gehen einer Lohnarbeit nach, die sie für sinnlos oder sogar schädlich halten. Das sowie die Zusätzlich verschärft die Beschleunigung und Verdichtung der Arbeitsvorgänge verschärft die Entfremdung von uns selbst und Anderen und löst Stress und Unzufriedenheit oder gar Burnout und Depressionen aus. Die Norm des Acht-Stunden-Tages wurde vor mehr als 100 Jahren eingeführt, zu einer Zeit also, als eine völlig andere Arbeitswelt existierte. Währenddessen erfahren Sorgetätigkeiten wie zum Beispiel Kochen, Putzen oder Kinderbetreuung auch heutzutage in unserer Gesellschaft weder finanziell noch sozial eine die angemessene Wertschätzung. Insbesondere in Anbetracht dessen, dass diese „reproduktive“ Arbeit die Grundlage dafür ist, dass überhaupt „produktiver“ Arbeit, also Lohnarbeit, nachgegangen werden kann. Stattdessen findet Sorgearbeit unter prekarisierten Bedingungen statt und gilt als unerschöpfliche, kostenfreie Ressource.
Obwohl sich die Transformation unserer Arbeitswelt vor allem in Flexibilisierung, Digitalisierung und Entgrenzung zeigt, ist eine Modernisierung in eine ganze andere Richtung sowohl möglich als auch wünschenswert: ein kollektive Arbeitszeitverkürzung auf 28 Stunden in einer Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. Längerfristig könnte ein Reduktionspfad hin zu 20 bis 25 Wochenstunden angestrebt werden, um Arbeit und verfügbare Zeit noch stärker umzuverteilen und den Menschen ausreichend Zeit für Freunde und Familie, politisches Engagement und lebenslanges Lernen zu geben.

Wie die neue Normalität einer Zukunft für alle aussehen kann, liegt an uns: Was können wir uns vorstellen und was fordern wir ein? Wofür gehen wir auf die Straße und was erkämpfen wir politisch? Die Möglichkeiten, sich zu engagieren sind vielfältig: Wenn wir uns für eine andere Mobilität einsetzen wollen, können wir bei Initiativen und Vereinen wie dem Allgemeinen Deutsche Fahrrad-Club (ADFC), dem Verkehrsclub Deutschland (VCD) oder bei den Gruppen „Am Boden bleiben“ und „Sand im Getriebe“ aktiv werden. Für eine gerechte Wohnraumverteilung setzt sich bekanntermaßen die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ein. Auch das Mietshäuser Syndikat, die Solidarische Wohnungsgenossenschaft (SoWo) Leipzig, das Projekt Planbude und das Maßnahmenprogramm Rotes Berlin sind gute Adressen für alle, die sich für gerechte Wohnraumverteilung interessieren. Gewerkschaften, dem Netzwerk Care Revolution oder der 4-Stunden-Liga kann sich anschließen, wer an der Transformation unserer Arbeitswelt mitwirken will.

Die genannten Beispiele für mögliche Transformationsprozesse sind Teil der Bausteine für Klimagerechtigkeit des Konzeptwerks Neue Ökonomie und kostenlos online abrufbar: https://konzeptwerk-neue-oekonomie.org/bausteine-fuer-klimagerechtigkeit/.
Die Bausteine sind konkrete klimapolitische Maßnahmen, die auf die strukturelle Veränderungen unseres wachtumsbasierten, profitorientierten und globalisierten Wirtschaftssystems zielen und Möglichkeiten für gesellschaftliche statt technische Innovationen aufzeigen. Im Sinne einer revolutionären Realpolitik sind es sie erste Schritte, auf die weitere folgen müssen, um eine gute Zukunft für Alle zu ermöglichen. Wie diese Zukunft aussehen könnte, haben wir bereits in Zukunft für alle – Eine Vision für 2048 (oekom, 2020) formuliert.

 

Dieser Text ist erstmals ist in der Rubrik „Zukunft für alle“ in der Agora42 03/2023, einem philosophischen Wirtschaftsmagazin, erschienen.

Autor*in
Foto von Mascha Schädlich

Mascha Schädlich (sie)

erschien in der Agora42 03/2023

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