„Entwicklung ist eine Fata Morgana“

Alberto Acosta im Interview mit Matthias Schmelzer
14. Juni 2018
Spätestens seit Geflüchtete im Sommer 2015 das europäische Grenzregime vorübergehend aus den Angeln gehoben haben, ist die Beschäftigung mit Fluchtursachen zu einem politischen Dauerbrenner avanciert. Dabei wird die Diskussion vor allem von Seiten der Regierungen und der Rechten geführt, mit dem Ziel, Migration von vornherein zu verhindern. Der ecuadorianische Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Alberto Acosta fordert dagegen, Ursachen für Migration in den Verwerfungen des globalen Kapitalismus zu suchen – in den Auswirkungen, die die Lebensweise des Nordens auf die Länder des Südens hat.

 

Matthias Schmelzer: Herr Acosta, wie kann über Fluchtursachen aus einer emanzipatorischen Perspektive gesprochen werden?

Alberto Acosta: Die Globalisierung des Kapitals beschert uns eine ganze Reihe von Konflikten.

Das Kapital darf sich auf der Welt frei bewegen, die Bewegungsfreiheit von Menschen dagegen wird in vieler Hinsicht eingeschränkt.

Mehr noch: Migrationsbewegungen sind in vielen Fällen eine Reaktion auf Krisen, die durch die freie Bewegung der Kapitalströme entstehen, welche die Spekulation über jedes vernünftige Maß hinaus befördern. Korruption und Steuerhinterziehung finden Zuflucht in den Steueroasen. Die Politik der Industrieländer zwingt die armen Länder dazu, Rohstoffe zu günstigen Preisen an die Staaten zu verkaufen, die als „entwickelt“ gelten und auf diese Weise ihren Reichtum mehren.

Geradezu perverse Dimensionen nimmt das Ganze an, wenn man auch den Waffenhandel und die imperialen Interventionen der Großmächte betrachtet. Sie provozieren und verschlimmern lokale und zwischenstaatliche Konflikte und treiben so Menschen in die Flucht.

„Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“ ist seit langem ein Slogan selbstorganisierter Geflüchtetenorganisationen.

Genau das ist es, was gerade geschieht: Frieden für die einen bedeutet Krieg für die anderen. Oder vielleicht noch deutlicher: Manche leben in Frieden, weil andere im Krieg leben. Man darf nicht vergessen, dass Kriege mit Waffen aus Ländern geführt werden, die von diesem Geschäft profitieren. Dass Profit, Einkommen, Arbeitsplätze und technologischer Fortschritt geschaffen werden, um zu töten.

„Wenn wir keine langfristigen strategischen Ziele haben, werden wir stets nur die Fragen des Augenblicks lösen. Dann werden wir nicht in der Lage sein, jene große Transformation weiterzubringen, die die nationalen Grenzen und die perversen Nationalismen begräbt, welche Rassismus, Xenophobie und Faschismus nähren“

Sie kritisieren auch die Abhängigkeit des Südens von Bergbau, vom „Extraktivismus“.

Die Auswirkungen gigantischer Bergbauprojekte und Minen füttern die „imperiale Lebensweise“ der herrschenden Eliten, sie zerstören Wälder und Ackerböden, verschmutzen Wasser und Luft, vertreiben Menschen aus ihren Häusern und zerstören soziale Gemeinschaften. Bei all dem ist Gewalt nicht Folge, sondern notwendige Bedingung. Dazu kommen die furchtbaren Auswirkungen des Klimawandels, der ja ebenfalls ein Produkt der kapitalistischen Lebensweise ist. Auch er wurde von Ländern verursacht, die sich durch dieses System bereichert haben, er trifft aber die Ärmsten.

Eine Antwort wäre es, wachstumskritische Diskussionen mit migrationspolitischen Fragen zusammenzuführen.

Ja, diese Diskussion ist zentral. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass mehr Wirtschaftswachstum die sozialen Probleme auf diesem Planeten lösen wird. Die Wirklichkeit beweist uns ständig das Gegenteil. Wir sehen, dass grenzenloses Wachstum nicht nur die ökologische Ungleichheit weiter vertieft, sondern auch weit davon entfernt ist, Armut und Elend zu lindern. Im Gegenteil: Wirtschaftswachstum vergrößert die Kluft zwischen Reichen und Armen. Inwiefern? Wir wissen, dass Länder für eine bestimmte Zeit wachsen können, ohne dabei Fortschritte bei der Entwicklung zu erreichen, eine häufige Erfahrung in der verarmten Welt. Das ist es, was viele nicht sehen: Wir haben es hier vor allem mit „Fehlentwicklung“ zu tun. Das betrifft auch die Länder, die als „entwickelt“ gelten. Das ganze System ist ein „Fehlentwickler“.

Heißt das, dass Wachstum als solches zu verdammen ist?

Nein, unter bestimmten Umständen kann Wachstum erforderlich sein, vor allem um – zum Beispiel bei Bildung und Gesundheit – grundlegende Mängel zu beheben. Wir müssen aber sehen, dass Wachstum immer Auswirkungen auf Menschen und Natur hat, und müssen immer im Blick haben, ob es dazu beiträgt, menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen, anstatt neuen oder größeren Auswanderungsdruck zu provozieren.

In welchen Aspekten sehen Sie Potenzial für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen der Degrowth-Bewegung und der migrationspolitischen Bewegung?

Degrowth öffnet die Tür zu einer anderen Art von Gesellschaft. Das ist nicht nur eine ökonomische Frage. Es geht darum, Wirtschaftswachstum als einen Prozess zu stoppen, der seiner Struktur nach wie ein Motor Gesellschaften dazu treibt, zu wachsen oder unterzugehen. Die große Frage ist: Wie hält man diesen Motor an, ohne dass dies verheerende soziale Auswirkungen hat? Hierfür brauchen wir Prozesse, die es uns ermöglichen, Gesellschaften aufzubauen, in denen alle in Würde leben können, mit Beziehungen, die auf Toleranz, Vielfalt, Gleichheit und Gerechtigkeit aufbauen. Das ist die Herausforderung.

Was heißt das konkret für den Übergang?

Wir brauchen mehrere Übergangsstrategien. Wir müssen gleichzeitig dekonstruieren und wieder aufbauen, ohne dabei die Gesellschaften zu brechen. Offensichtlich ist, dass wir die Produktion anders organisieren und dematerialisieren müssen. Wir müssen sie zumindest aus dem Räderwerk der perversesten Mechanismen des Weltmarktes lösen. Wir müssen Rohstoffe recyceln und Produktion in neuen ökologischen Kreisläufen organisieren. Wir müssen Reichtum umverteilen. Um eine ökologisch ausgerichtete Ordnung aufzubauen, brauchen wir Prozesse der Wiederaneignung von Natur und der Reterritorialisierung von Kulturen. Nur so können sich die Regionen erholen, die durch den Extraktivismus verwüstet wurden und von wo Menschen aus diesen Gründen zurzeit migrieren.

Migrationspolitische Debatten haben in der verfassunggebenden Versammlung Ecuadors von 2007/2008 eine sehr wichtige Rolle gespielt.

Ecuador war und ist Einwanderungs- und Auswanderungsland zugleich. Die Verfassung von 2008 trägt dem Rechnung. Zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte der Welt spielt menschliche Mobilität in der Verfassung eine relevante Rolle, und Ecuador wird klar als Herkunfts-, Transit-, Ziel- und Rückkehrland von Migration anerkannt.

Welche konkreten Fortschritte hat die Verfassung in Bezug auf Migrationsfragen gebracht?

Die Verfassung erkennt die Rechte der unterschiedlichen Völker an, die innerhalb der Staaten koexistieren, und sieht Mechanismen vor, die ihren vielfältigen Charakter ausdrücken und schützen, und die Rassismus und jede Form der Diskriminierung ablehnen. Die Verfassung verteidigt hierbei das Prinzip der universalen StaatsbürgerInnenschaft und die freie Mobilität aller BewohnerInnen des Planeten. Außerdem sieht sie vor, den Status des Ausländers als bestimmendes Element der ungleichen Beziehungen zwischen den Ländern – vor allem in den Nord-Süd-Beziehungen – perspektivisch auslaufen zu lassen. Die Verfassung verlangt auch, dass alle Menschen, die in Ecuador leben, ihre Rechte voll ausüben können, nicht nur die Bürgerinnen und Bürger.

Inwiefern lassen sich die Fragen dieser Diskussion auf heute, und auf Deutschland und Europa übertragen?

Das ist nicht einfach, aber es wäre großartig, wenn man hieraus lernen könnte und sich eine internationale Bewegung formieren würde, die die universelle Staatsbürgerschaft voranbringt – nach dem Motto „Niemand ist ein Fremder auf der Erde“. Denn wenn wir keine langfristigen strategischen Ziele haben, werden wir stets nur die Fragen des Augenblicks lösen. Dann werden wir nicht in der Lage sein, jene große Transformation weiterzubringen, die die nationalen Grenzen und die perversen Nationalismen begräbt, welche Rassismus, Xenophobie und Faschismus nähren.

Seit jeher gehört „Entwicklung“ zu einem der umstrittensten Begriffe in der Nord-Süd-Debatte. Manche Geflüchtete verbinden damit auch etwas Positives, etwa eine neue Straße, die es ermöglicht, im Notfall ins Krankenhaus zu gelangen.

Eine neue Straße kann positiv sein, aber sie kann auch negative Auswirkungen haben. Diese Bewertung hängt vom sozialen und ökologischen Kontext ab, das heißt von der Geschichte und von den Gründen für diese Straße: Es gibt Straßen, die Menschen und Kulturen miteinander verbinden. Es gibt aber auch Straßen, die Bergbauprojekte und Ölfelder mit den Weltmärkten verbinden, und Urwälder zerstören. Letztere sorgen nur dafür, dass am Ende wieder ein paar wenige auf Kosten vieler leben. Sogar ein Krankenhaus könnte vor allem dazu dienen, Patienten zu behandeln, die unter den Auswirkungen von industriellen Projekten leiden. Alles, um ein nicht vorhandenes Ziel zu erreichen: Entwicklung.

Was soll das genau heißen, „ein nicht vorhandenes Ziel“?

Seit vielen Jahrzehnten schon beschäftige ich mich mit der Frage der Entwicklung. Ich war sogar an verschiedenen Universitäten Professor für Entwicklungstheorien. Inzwischen aber fühle ich mich wie ein Astronomie-Lehrer, der nach dem Abschluss seiner Forschungen zu einem bestimmten Stern feststellt, dass dieser Stern bereits erloschen ist. Oder noch schlimmer: Der feststellen muss, dass dieser Stern die ganze Zeit nichts weiter als eine bloße Reflexion innerhalb des komplexen Sternensystems war. Genauso verhält es sich auch mit der „Entwicklung“. Sie ist eine Art Fata Morgana, die die Menschheit mobilisiert.

Über dieses Interview

Im Oktober 2017 fand in Leipzig  die Konferenz „Selbstbestimmt und solidarisch! Konferenz zu Migration, Entwicklung und ökologischer Krise“ statt, die das Konzeptwerk mitorganisiert hat. Unser Mitarbeiter Matthias Schmelzer nahm die Veranstaltung zum Anlass, den Ökonomen und Politiker Alberto Acosta zu interviewen.

Das Interview ist zuerst in der Wochenzeitung Der Freitag erschienen.