Illustrationen: Mona Hofmann

Für die Zukunft sorgen

Zukunftswerkstatt zum Thema Gesundheit und Sorge-Arbeit

Von Anne Pinnow

13. Juni 2019

 

„In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ und „wie kann Sorge-Arbeit 2048 aussehen?“ Diese Fragen stellten sich im Februar Menschen aus unterschiedlichen Bereichen der Sorge-Arbeit im Rahmen unseres Projekts „Zukunft für alle – gerecht. ökologisch. machbar.“.

Im Jahr 2048 gibt es: Kiez-Küchen, Gesundheitshäuser, das Recht auf Assistenz, umfassende Barrierefreiheit, Wahlrecht für Menschen mit Beeinträchtigung, eine Bürger*innenversicherung

Im Jahr 2048 gibt es nicht mehr: Zwei-Klassen-Medizin, das Wort „Inklusion“, Krankenhäuser, Pflegeheime, den größten Pflegedienst des Jahres 2019

Phase 1: Alle Probleme auf den Wickeltisch

Die erste Phase der Zukunftswerkstatt widmeten sich die Teilnehmenden dem Stand der Dinge: wo liegen die Probleme? Was sind ihre Ursachen? 

Der Fokus der Zukunftswerkstatt lag auf den Themen Krankenhaus, Pflege und Behinderung sowie unbezahlte Hausarbeit. Hier zeigt sich zugespitzt die Krise moderner kapitalistischer Gesellschaften: Lebensnotwendige Sorgearbeiten und die Bedürfnisse von Menschen werden vernachlässigt, während Wettbewerbsfähigkeit, Schwarze Null und Standortsicherung Priorität haben. In einem ersten Schritt wurde die aktuellen Probleme im Sorgebereich gesammelt. Es wurde deutlich, dass der Sektor stark von Diskriminierung geprägt ist: Geflüchtete sind oft aus dem Gesundheitssystem ausgeschlossen; häusliche Arbeit wird oft von Migrantinnen unter sehr schlechten Arbeitsbedingungen erledigt; die Arbeitsbedingungen im gesamten Sorgebereich – in dem zu etwa 90 Prozent Frauen* tätig sind – sind meist schlecht. Durch die Beschäftigung von Migrantinnen in der Sorgearbeit entstehen auf globaler Ebene Sorge-Lücken: Migrierte Frauen, die hier in der Pflege tätig sind, können nicht für ihre eigene Familie im Herkunftsland sorgen. Die Inklusion von Menschen mit Behinderung gelingt schlecht, überall werden Menschen behindert gemacht: Es gibt vielfältige Barrieren im öffentlichen Raum, oft nur unzureichenden Anspruch auf Assistenz und kein Wahlrecht für viele Betroffene. Eine wesentliche Ursache für die Situation im Gesundheitssystem wurde in der Ökonomisierung gesehen, also in der Ausrichtung auf Gewinnerwirtschaftung im Gesundheitssektor. Sie führt zu miesen Arbeitsbedingungen, schlechter ambulanter Versorgung und unzureichender gesellschaftlicher Teilhabe – besonders für beeinträchtigte Menschen, aber auch für viele andere.

 

Phase 2: Visionäres Denken

Nachdem alle Probleme auf dem Tisch lagen, konnten die Köpfe frei werden und der Blick richtete sich in die Zukunft, ins Jahr 2048. Unabhängig von allen Hindernissen in der Gegenwart wurden Ideen und Visionen skizziert, wie der Sorge-Bereich im Jahr 2048 aussehen soll. Wir stellen hier einige Schlaglichter dieser Visionen vor.

Gemeinschaftliches Leben // Kiezküche

Im Jahr 2048 ist gemeinschaftliches Zusammenleben weit verbreitet. Die Menschen leben überwiegend in Wohngemeinschaften oder der eigenen Wohnung in Wohnprojekten. Hier verwalten sie den Wohnraum selbst und unterstützen sich auch in ihrem Alltag: Putzen, Kochen und Pflegen werden als gemeinschaftliche Aufgaben gesehen. Innerhalb der Wohngemeinschaften wechseln sich die Leute damit ab. Sie kochen häufig füreinander und versorgen sich, Kinder und Ältere gemeinsam. Auf Grundlage dieser Gegenseitigkeit werden in den Wohngemeinschaften zeitliche Freiräume für alle geschaffen und Stress reduziert, weil Aufgaben auf mehrere Leute verteilt sind.

Ein zentraler Ort in jeder Nachbarschaft ist die Kiez-Küche. Sie ist ein öffentlicher Raum, wo Anwohner*innen täglich kochen und die Nachbarschaft mit einer Mahlzeit versorgen. Hier gibt es Essen für alle mit Gemüse von der nahe gelegenen solidarischen Landwirtschaft. Beim Essen kommen die Leute aus der Nachbarschaft miteinander in Kontakt, die Anwohner*innen kennen sich. Die Kiez-Küche ist auch ein Raum, wo über die Gestaltung der Nachbarschaft gesprochen und entschieden wird. Hier werden Pläne geschmiedet, es gibt Raum für politische Debatten und persönlichen Austausch. Dieses Forum für die Meinungsbildung erleichtert es auch, später basisdemokratische Entscheidungen zu treffen.

Die Familie ist nicht mehr der größte Pflegedienst

Im Jahr 2048 kennt niemand mehr das Wort „Inklusion“, weil es nicht mehr nötig ist. Wohnungen, Wege, öffentlicher Verkehr, Behörden und Naherholungsgebiete sind barrierefrei. Menschen mit Beeinträchtigung sind sichtbar und Teil des gesellschaftlichen Lebens. Sie wohnen so, wie sie es sich aussuchen. Alle Pflegeheime wurden vor langer Zeit geschlossen. Ganz wie die Menschen es benötigen, um Teil des gesellschaftlichen Lebens zu sein, werden sie von einer Assistenz unterstützt, die sie sich aussuchen können (wie auch die assistierende Person wählen kann, wen sie unterstützen möchte). Das steht jeder Person zu. Ein Teil der Betroffenen wird weiterhin von Familienangehörigen unterstützt, das geschieht 2048 jedoch nicht mehr aus ökonomischer Notwendigkeit, sondern auf freiwilliger Basis, weil die Menschen füreinander sorgen wollen. Finanzielle Notlagen erleben die Pflegenden und die Pflegenehmenden nicht mehr. Sie sind wie alle anderen auch in der Lage, am gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Leben teilzuhaben und ihren Hobbys nachzugehen. Im Jahr 2048 selbstverständlich: Menschen mit Beeinträchtigung sind wahlberechtigt und bestimmen Entscheidungen, soweit es für sie möglich ist, selbstverständlich mit.

Das Gesundheitshaus als öffentlicher Raum // Eine Krankenkasse für alle

Im Jahr 2048 ist das Gesundheitshaus (früher als „Krankenhaus“ bekannt) ein öffentlicher Raum. Das Gebäude ist hell und strahlt eine beruhigende Stimmung aus. Überall sind unterschiedliche Sprachen zu hören, das Gesundheitshaus ist ein Ort der Bildung. Informationsveranstaltungen zum Körper und über Gesundheit werden angeboten, es ist ein Ort sportlicher Betätigung und Anlaufstelle für Sozial- und Rechtsberatung. Alle Menschen – unabhängig von finanziellen Ressourcen – erhalten die selbe medizinische Versorgung. Krankenkassenkarten sind Teil der Vergangenheit.

Alle Menschen beteiligen sich an der Finanzierung der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Krankheit wird seit einiger Zeit als gesellschaftliche Tatsache verstanden. Zuvor wurde krank sein als individuelle Problemlage und sogar eigenes Verschulden interpretiert. Heute, 2048, wird sich gefragt, welche gesellschaftlichen Entwicklungen dazu führen, dass Menschen krank sind.

„Im Jahr 2048 ist das Gesundheitshaus (früher als „Krankenhaus“ bekannt) ein öffentlicher Raum. Das Gebäude ist hell und strahlt eine beruhigende Stimmung aus. Überall sind unterschiedliche Sprachen zu hören, das Gesundheitshaus ist ein Ort der Bildung. Informationsveranstaltungen zum Körper und über Gesundheit werden angeboten, es ist ein Ort sportlicher Betätigung und Anlaufstelle für Sozial- und Rechtsberatung.“

Das Gesundheitshaus ist im Stadtteil verwurzelt, die Mitarbeitenden sind mit dem Viertel und seinen Besonderheiten vertraut. Sie wissen, was die Menschen beschäftigt, was gesundheitlich förderlich ist und was sie krank macht. Erst wenn die sehr gut ausgebaute ambulante Versorgung nicht mehr ausreicht, gehen die Menschen ins Gesundheitshaus, um sich medizinisch versorgen zu lassen. Gemeinsam wird mit ihnen über die ärztliche Behandlung gesprochen. Dabei werden die ihnen nahe stehenden Personen mit einbezogen. Müssen Menschen einige Zeit im Gesundheitshaus verbringen, steht auch den ihnen nahe stehenden Personen Raum zur Verfügung. Sie können die gesamte Zeit des Aufenthalts mit dem*der Patient*in gemeinsam dort verbringen. Wie fast alle Organisationen ist auch das Gesundheitshaus selbstverwaltet. Die Mitarbeitenden sind gleichberechtigt und gestalten ihren Arbeitsalltag selbstbestimmt. Wegen dieser Gleichstellung der Tätigkeiten sind auch die Einkommen angeglichen, Ärzt*innen verdienen genau so viel wie Pflegende und Putzende. Konsequente Forschung hat dazu beigetragen, dass nun fast alle medizinischen Geräte und Versorgungsmittel so gereinigt werden können, dass sie wiederverwendbar sind. Müll entsteht im Gesundheitshaus kaum noch.

 

 

Phase 3: Strategien zur Umsetzung

Doch wie kam es zu diesen Veränderungen? In der dritten Arbeitsphase der Zukunftswerkstatt ging es um Strategien zur Umsetzung der Visionen für das Jahr 2048. Hier tüftelten die Gestalter*innen der Zukunftswerkstatt an Ideen, welche Bewegungen es im Jahr 2030 gegeben haben wird, die den Weg zu diesen Veränderungen zeigen.

 

Der Sorge-Bereich wird sichtbar

Lange Zeit war es für Menschen aus dem Sorge-Bereich sehr schwer, ihre Interessen zu vertreten. Proteste fanden meist im Rahmen von Tarifverhandlungen durch Gewerkschaften in Krankenhäusern statt. Unbezahlte Hausarbeit wurde lange nicht als Arbeit wahrgenommen. Auch Pflegende und Menschen, die Unterstützung erhalten, waren nicht Teil des öffentlichen Diskurses. Sie waren nicht sichtbar, kaum jemand kannte ihre Geschichten. In den 2020ern änderte sich jedoch einiges.

Das schönste Bild waren die über 5000 Senior*innen und Rollstuhlfahrer*innen, die im April 2021 den Berliner Stern blockierten. Sie, die Senior*innen, Pflegenden, Pflege-Empfangenden und Eltern-Initiativen haben angefangen. Sie organisierten sich und gründeten einen großen Dachverband. Ausschlaggebend dafür waren die Enthüllungen der Missstände in Pflegeeinrichtungen, die unter dem Hashtag #menschenunwürdig an die Öffentlichkeit gelangten und Empörungswellen schlugen.

Feministischer Streik und Einführung der 25-Stunden-Woche

Zeitgleich erfuhr der feministische Streik immer mehr Unterstützung. Unterschiedliche Menschen und Gruppen fingen an, sich unter dem Dach des Feminismus zu versammeln: Menschen, die ihre Angehörigen und Kinder versorgen, Alleinerziehende, Krankenhausangestellte, Altenpfleger*innen, Erzieher*innen und viele Arbeitnehmer*innenvertretungen. Auch Schüler*innen, Studierende und Auszubildenden fingen an, sich für ihre Zukunft und Selbstbestimmung einzusetzen und schlossen sich der feministischen Bewegung an. Für sie alle war die Zeit endlich reif, mehr Gleichberechtigung zwischen und Diversität von Geschlechtern anzuerkennen und rechtlich zu fördern. Diese Vielfalt zeigte sich auch in den zunehmend umfassenderen Forderungen, die gestellt wurden. Von der Beendigung des Pflegenotstands, über bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne im Gesundheitssektor, wurde eine Frauenquote in allen Ämtern und Posten von 50 Prozent gefordert, eine Bürgerversicherung sollte die Zwei-Klassen-Medizin beenden und eine 25-Stunden-Woche eine gleichberechtigte Aufteilung der privaten Haus- und Sorgearbeit unterstützen. Anfängliche Demonstrationen mündeten in tagelanger Arbeitsniederlegung von Millionen Beschäftigten und zum Aussetzen privater Haus- und Sorgearbeit. Diese wiederholten Streiks in immer kürzeren Abständen führten dazu, dass die Versorgungslage in den privaten Haushalten aber auch in allen Versorgungseinrichtungen zusammenzubrechen drohte. In dem Moment übernahmen viele Männer die Versorgung ihrer Angehörigen, Freund*innen und anderer Menschen. Dies mündete in einem massiven Einbruch der „traditionellen Erwerbsarbeit“. Während vor allem Männer nun die Versorgung leisteten, wurde klar, dass sie kaum noch Zeit für ihre Erwerbsarbeit hatten. Den Gewerkschaftsfunktionär*innen blieb nichts anderes übrig als die 25 Stunden-Woche als neue Vollzeit auszurufen. Anders wäre es nicht möglich gewesen, Erwerbsarbeit zu leisten und sich um andere zu sorgen, so das Fazit der Gewerkschaften, das von Politiker*innen unterstützt wurde (zu dem Zeitpunkt waren noch 70% der Bundestagsabgeordneten Männer).

Care-Räte und ambulante Versorgung in den Stadtteilen

Dass der Notstand nicht eingetreten ist, war vielen Pionier*innen im Gesundheitssystem zu verdanken. Schon Jahre zuvor gab es Initiativen, die an Konzepten von selbstverwalteten Krankenhäusern und Polikliniken arbeiteten und auch umsetzten. Dank der Vorbilder und des Wissens, das in diesen Kollektiven entstanden war, konnte der Notstand aufgefangen werden. Konzepte und Strukturen der Pioniere wurden zu den neuen Standards. Einen langen Atem bewiesen auch die „Care-Räte“. Diese entstanden nach diversen gesundheitspolitischen Kampagnen und gründeten sich anfangs vereinzelt in einigen Städten. Ihr Ziel war es, einen gemeinsamen Wirkungsraum für unterschiedliche Interessens- und Anspruchsgruppen der Sorgearbeit herzustellen. Vertreten waren private Pflegende, Angestellte aus dem Gesundheitsbereich, Erzieher*innen, Gewerkschaften, Menschen aus der Altenpflege, Entscheidungsträger*innen von Kranken- und Altenheimen, Politiker*innen und Pioniere, die bereits an alternativen Versorgungsstrukturen arbeiteten. Die Care-Räte wirkten beharrlich auf lokaler Ebene an der Verbesserung der Versorgungslage und den Arbeitsbedingungen für die Angestellten. Hier wurden innovative Ideen erarbeitet und nach einiger Zeit von kommunalen Strukturen unterstützt. Sie wirkten darauf hin, dass ambulante Pflege in den Stadtvierteln organisiert wurde und so eine engere Bindung und Beziehung zwischen Pflege-Empfangenden und Pflege-Gebenden entstand.

Einführung einer Bürger*innenversicherung

Ein wichtiger Schritt, der nur durch die Care-Räte möglich war, war die Einführung der Bürger*innenversicherung. Anfangs war die Aufhebung unterschiedlicher Leistungen durch Krankenkassen kaum vorstellbar und politisch nicht gewollt. Nachdem zahlreiche Studien und Überlegungen zur Bürger*innenversicherung erfolgten, wurde das Vorhaben in drei Modellstädten getestet. Das Ergebnis: für die meisten Menschen (außer den Spitzenverdiener*innen) entstand kein höherer Beitrag für die Krankenversicherung, ihre Leistungen wurden qualitativ besser und das Verhältnis zu den Pflegeinstitutionen wurde vertrauensvoller. Patient*innen konnten nun sicher sein, dass sie mit ihrem Anliegen ernst genommen wurden und nicht mehr als cash cow dienten. Daraufhin wurde die Bürger*innenversicherung, in die alle Menschen je nach Einkommen einzahlen, flächendeckend umgesetzt.

 

Das Konzeptwerk Neue Ökonomie führte die Zukunftswerkstatt im Rahmen des Projekts „Zukunft für alle – ökologisch. gerecht. machbar“ durch. In den nächsten Monaten werden weitere Zukunftswerkstätten zu verschiedenen Themenbereichen wie Mobilität, Landwirtschaft, Wohnen, globaler Handel, Finanzsystem, oder Bildung stattfinden.

Anne Pinnow arbeitet im Konzeptwerk am Projekt „Zukunft für alle – gerecht. ökologisch. machbar.“

Wer nahm an der Zukunftswerkstatt teil?

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