Für Sorge

Rückblick auf die Feministische Bildungswoche

30. April 2020

 

Vom 29. Februar bis zum 08. März 2020 haben wir in Kooperation mit zahlreichen lokalen und überregionalen Organisationen und Einzelpersonen eine feministische Bildungswoche für eine andere Wirtschaft veranstaltet. Zum Abschluss ging die Bildungswoche in den feministischen Streik- und Kampftag über, anlässlich dessen viele Menschen laut und zahlreich auf die Straße gingen. In den darauf folgenden Tagen überschlugen sich die Nachrichten zum Corona-Virus. Damit änderte sich das soziale und politische Leben drastisch.

Durch die weltweit verheerend schnelle Ausbreitung von Covid-19 und dessen lebensbedrohliche Auswirkungen auf sogenannte Risikogruppen spitzen sich die Konsequenzen eines in Deutschland und global seit Jahren kaputt-gesparten Gesundheitssystems akut zu. Verstärkt durch die Pandemie werden sowohl prekäre und arme Lebens- und Einkommensverhältnisse als auch die ungleiche Verteilung aller bezahlten und unbezahlten Sorgetätigkeiten entlang von Klasse, Geschlecht und Herkunft deutlicher denn je sichtbar. Ungleichheiten im Zugang zu medizinischer Gesundheitsversorgung je nach sozialem und rechtlichem Status werden ebenfalls aktuell mehr in Medien und Gesellschaft thematisiert.

Doch diese Themen sind schon lange akut: Seit Jahren kämpfen Pfleger*innen für mehr Personal im Krankenhaus, pflegende Angehörige streiten für eine bessere Versorgung im Privathaushalt und Frauen für eine Umverteilung und Aufwertung von Care-Arbeiten (Sorgearbeit). Deutschlandweite Initiativen setzen sich teilweise seit mehreren Jahrzehnten für angemessene Gesundheitsversorgung und Existenzsicherung für alle Menschen unabhängig ihres Aufenthaltsstatus ein.

All diese Themen, Kämpfe und Forderungen spiegelten sich auch im Programm der feministischen Bildungswoche wieder. Wir wollen uns deshalb an dieser Stelle die Zeit nehmen um darauf zurückzublicken, was während der Bildungswoche passiert ist und was wir erlebt haben. Nicht zuletzt, da viele der Referent*innen und Teilnehmer*innen wichtige Akteur*innen sind für einen Wandeln hin zu einem besseren Gesundheitssystem, gerechteren Care-Verhältnissen und zu einer sozial-ökoloischen Wirtschaft – denn das ist in Zeiten der Corona-Pandemie dringender denn je.

Die feministische Bildungswoche hatte zum Ziel Care als politisches Thema im Leipziger Raum sichtbarer zu machen und Akteur*innen aus Care-Bewegungen zu vernetzen. Dafür boten wir zahlreiche Veranstaltungen in 7 Tagen an 3 verschiedenen Orten an.

Care umfasst viele Bereiche – Kochen, Putzen, Kinder betreuen, Menschen pflegen, für einander da sein, Selbstsorge. Alle Tätigkeiten, die sowohl bezahlt als auch unbezahlt getan werden. Dementsprechend breit sind auch die Akteur*innen dieses Sektors aufgestellt. Dies spiegelte sich im Auftakt der Bildungswoche anlässlich des Equal Care Day am 29.02.2020 wieder. In einem gut besuchten Worldcafé in der Frauenkultur Leipzig diskutierten die Teilnehmer*innen mit sechs Gästen aus verschiedenen Care-Sektoren (Nachbarschaftspflege Buurtzorg, Medinetz Leipzig, CABL e.V. Leipzig u.a.) darüber, was wir überhaupt unter Care-Arbeiten verstehen und unter welchen Bedingungen sie stattfinden.

„Was ich ganz überraschend aber auch total wichtig fand, war dass es ja auch darum geht, überhaupt Sorgearbeit machen zu können. Es ist eben oft so, dass man dafür zu wenig Zeit hat, es aber Arbeit ist, die man eigentlich machen möchte, weil sie einem wichtig ist. Unbezahlte Care-Arbeit darf nicht nur wegorganisiert werden, sie muss gesellschaftlich und wirtschaftlich auch möglich gemacht werden.“

– Karin Luttmann, Genderkompetenzzentrum Sachsen –

Anschließend gab es im Laufe der Woche ein vielfältiges Programm. Die Eckpfeiler bildeten Workshops sowohl zu den globalen Zusammenhängen von Care und Geschlechterungerechtigkeit als auch zu prekären Arbeitsverhältnissen im Care-Sektor. Im Folgenden ein paar Schlaglichter zur Veranschaulichung.

Women in Exile and Friends

diskutierten an Hand des von ihnen produzierten Films „Testimonials from the Uterus – Gesundheitsfürsorge für geflüchtete Frauen in Berlin und Brandenburg“ den fehlenden Zugang für Asylsuchende zu einer angemessenen medizinischen Versorgung. Sie zeigten damit wieder einmal die katastrophalen Lücken im deutschen Gesundheitssystem und dessen rassistische Grundlagen auf.

MEDINETZ LEIPZIG

demonstrierte mit Hilfe eines inspirierenden Planspiels in ihrem Workshop „Krank und ohne Papiere? – für einen gerechten Zugang zum Gesundheitssystem“ die ungleichen Zugangsvoraussetzungen zu Gesundheitsversorgung, die in Bezug auf Migration und Flucht, Geschlecht und Armut bestehen.

„Viele Migrant*innen sind von Diskriminierung und der Bürokratie im deutschen System betroffen. Sprachbarrieren, fehlende Sprachmittler*innen, die Angst vor Meldung und Abschiebung machen es unmöglich die Kosten für die eigene Gesundheitsversorgung erstattet zu bekommen.“

– Katharina Reisser, Medinetz Leipzig –

DaMigra

lenkten in ihrem Workshop den Blick auf Brasilien und die hiesigen kolonialen Kontinuitäten im Bereich der Hausarbeit. Hier leisten nach wie vor überwiegend Schwarze Frauen notwendige Care-Tätigkeiten unter prekären Bedingungen. Aus den Erfahrungen lokaler Strukturen in Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas entstand der Feminismo comunitario (kommunitarischer Feminismus), den die Referent*innen Denise Braz und Catalina Ariza mit seinen Potentialen für global vernetzte feministische und anti-koloniale Bewegungen vorstellten.

Carina Flores & Ana Katherine Moreno Carrillo

fragte im Workshop „Konflikte und Solidarität in globalen feministischen Bewegungen“ wie es möglich ist, eine transnationale feministische Bewegung aufzubauen. Patriarchale Verhältnisse sind zwar vielerorts ein gemeinsamer Nenner von feministischen Kämpfen, gleichzeitig unterscheiden sich jedoch die jeweiligen Lebensbedingungen der Aktivist*innen und die spezifischen Macht- und Unterdrückungsverhältnisse, in denen sie leben, je nach Lebensort und sozioökonomischem Status. Die Teilnehmenden konnten im Workshop an gemeinsamen Strategien für eine weltweite feministische Vernetzung arbeiten, in der diese Differenzen Berücksichtigung finden.

Vielseitige Workshops

In vielen der Workshops stellte sich nicht zuletzt immer wieder die Frage danach, welche Möglichkeiten wir haben, um für eine gerechtere Verteilung und Neuorganisation von Sorgetätigkeiten und für ein besseres Gesundheitssystem zu kämpfen. Ferner stand zur Debatte, ob der feministische Streik zum 08. März eine neue und sinnvolle Aktionsform sein kann. Im Workshop „Selbst-Fürsorge als Widerstand“, einem BIPoC-Empowerment-Workshop für Mütter* und FLINT* of Color, weist Referent*in Phuong Nguyen etwa darauf hin, dass

„nicht alle streiken gehen können, weil sie zum Beispiel unter rassistischen und prekären Umständen lohnarbeiten müssen. Wenn sie frei machen, gehen sie das Risiko ein, ihren Job zu verlieren.“

Andere Menschen wiederum übernehmen lebenswichtige Betreuungs- und Pflegeaufgaben, die nicht mal für einen Tag still liegen können. Kurz, ist Sorgearbeit überaupt bestreikbar? Für eine Transformation von Care-Verhältnissen braucht es zudem Politiken, die alle Geschlechter sowie die Forderungen und Erfahrungen von Menschen aus LSBTIQA-Communities (lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle intersexuelle, queere, asexuelle) mit einbezieht. Welche konkreten Schritte braucht es dafür?

feministisches Streikbündnis Leipzig

Diese Fragen griff die Referent*in Alex Gerber in ihrem Workshop auf und versuchte mit den Teilnehmenden Lösungen zu finden, die einen internationalen Streik zum 08. März möglich machen. Ein wichtiger Schritt hin zu einem Wandel für gute Sorgebedingungen ist ein möglichst breites Bündnis, in dem Alternativen diskutiert und diese erkämpft werden können. Die Streikfrage bleibt akut! Ein mögliches Diskussionsfeld wäre hierbei, wie kollektive Arbeitsniederlegungen sowohl betrieblich als auch im Haushalt organisiert, und solidarische Strukturen zum Beispiel im Stadtteil geschaffen werden können.

Doch die Bildungswoche war mehr als eine Ansammlung einzelner Workshops. Sie war auch ein Ort der Vernetzung für Leipziger Akteur*innen. Insbesondere hierfür fand am vorletzten Tag der Bildungswoche der Markt der Möglichkeiten statt. Acht Projekte aus verschiedenen Sektoren im Care-Bereich kamen miteinander und mit Teilnehmer*innen ins Gespräch und stellten ihre Arbeit vor. Mit dabei waren u.a. das feministische Streikbündis, das ADB Antidiskriminierungsbüro Sachsen, das LAG Queeres Netzwerk Sachsen, Ver.di und Rosa Linde e.V.

Im Rahmen der Veranstaltungen der Bildungswoche haben die Referent*innen und Teilnehmer*innen besonders hervorgehoben: Sorgearbeit ist zentral für ein gutes Leben für alle und muss im Zentrum unserer Wirtschaft stehen. Care ist Handlungsfeld für globale Gerechtigkeit, denn alle Menschen überall auf der Welt brauchen einen angemessenen Zugang zum Gesundheitssystem. Das wird in Zeiten von Covid-19, in denen den Menschen an Europas Außengrenzen jegliche Gesundheitsversorgung versagt wird und vielerorts grundlegende Menschenrechte ausgesetzt werden, deutlicher denn je. Dringend brauchen wir deshalb eine Aufwertung und Umverteilung der Sorgetätigkeiten auf alle Menschen, bedürfnisgerecht und umfassend finanziert. Gerade jetzt ist also unverzichtbar, sich für eine feministische, soziale und ökologische Wirtschaft einzusetzen, mit der ein gutes Leben für alle möglich ist und in der es genug Zeit und Ressourcen für Care, für Gesundheit und Krankenversorgung gäbe. Diese Wirtschaft wäre ein Gegenentwurf zur kapitalistischen, auf grenzenlosem Wachstum und Profitmaximierung basierenden Wirtschaftsweise. Streiten wir dafür!

Mehr Infos zum Equal Care Day, einer Initiative des klische*esc e.V.

Podcasts und Radiobeiträge im Rückblick auf die Bildungswoche folgen hier. Bleibt gesund, wachsam und solidarisch!

Konzeptwerkmitarbeiterin Ronja Morgenthaler hat während der Bildungswoche die Referent*innen von DaMigra zum Thema „feminismo communitario“ interviewt:

Beitrag zu "feminismo communitario" auf Radio Blau

von Ronja Morgenthaler

Am 21.03. wurde im Rahmen der Sendung Tipkin von Radio Blau über die feministische Bildungswoche berichtet, mit O-Tönen von Referent*innen und Teilnehmer*innen. Hört mal rein:

Das Medinetz Leipzig bietet seit vielen Jahren kostenlose medizinische
Versorgung für geflüchtete Menschen an und setzt sich für einen besseren Zugang zum Gesundheitssystem unabhängig vom Aufenthaltsstatus ein. Aileen Mirasyedi interviewte das Medinetz Leipzig und Women in Exile & Friends zum Thema:

Das gesamte Programm der Bildungswoche findet ihr hier.
Eine Veranstaltung in Kooperation mit Weiterdenken Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen e.V.

Gefördert durch das Referat für die Gleichstellung von Frau und Mann der Stadt Leipzig