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Unerhörte Forderungen: Eine kleine Währungsreform mit großen Folgen
Zukunftswerkstatt zum Thema Finanzen
Von Bakara Merle
09.10.2019
Während heute Geld die Welt regiert, ist die Rolle von Geld in den Gesellschaftsentwürfen, die wir in unserem Projekt „Zukunft für Alle“ diskutieren, viel kleiner als heute. Geld hat aber wichtige Funktionen in der Wirtschaft. Deswegen haben wir in einer Zukunftswerkstatt mit Vordenker*innen aus Politik, Wissenschaft, NGOs und der alternativen Bankenpraxis auch über Geld-, Finanz- und Währungssysteme gesprochen. Denn diese können dabei helfen, ganz andere Gesellschaftsentwürfe zu realisieren.
Ein wichtiger Vorschlag in dieser Zukunftswerkstatt beschäftigte sich mit der Rolle von Währungen und Wechselkursen: Der Vorschlag einer internationalen Ausgleichsunion. Da uns solch eine Union – vor allem als Voraussetzung auf dem Weg zu globaler Gerechtigkeit – zentral erscheint, stellt Zukunftswerkstatt-Teilnehmerin Bakara Merle sie in einem eigenen Blogbeitrag vor.
Im Jahr 2048 gibt es: die internationale Standard-Währung „Bancor“, eine internationale Ausgleichsunion, feste aber anpassbare Wechselkurse, Strafzinsen für aggressive Handelsstrategien
Im Jahr 2048 gibt es nicht mehr: Finanzkrisen, einen so großen Abstand zwischen armen und reichen Ländern, freie Wechselkurse, Spekulation auf schwankende Wechselkurse
Vor etwa hundert Jahren, Mitte der 1940er Jahre, schlug der Ökonom John M. Keynes in den Bretton-Woods-Verhandlungen vor, eine internationale Währung namens Bancor, einzuführen. Diese Idee wurde wegen ihrer weitreichenden positiven Auswirkungen immer wieder aufgegriffen, bis sie letztendlich im Jahre 2030 umgesetzt wurde. Wagen wir einen Blick in das Jahr 2019, um zu sehen, was sich seitdem verbessert hat.
2019: Die Probleme
Das internationale Wirtschaftssystem war von starker Ungleichheit geprägt und extrem anfällig für Krisen. In einem Abstand von wenigen Jahren brachen regelmäßig Finanzkrisen aus. Die internationale Finanzkrise 2007/08 wurde dabei als die schlimmste Krise seit der Großen Depression der 1930er Jahre identifiziert. Aber auch jenseits dieser Krisen mit wohlhabenden Industrieländern als Epizentren kam es insbesondere in den 1980er und -90er Jahren in Südamerika, in Asien und Afrika zu fatalen Finanz- und Schuldenkrisen. Diese haben Millionen Menschen in Armut geworfen und Chancen auf eine gerechte „Entwicklung“¹ enorm verschlechtert.
Die Gründe für die Finanz- und Schuldenkrisen in Ländern, die vom kapitalistischen System nicht profitierten, waren vielfältig. Meistens waren ungerechte globale Infrastrukturen für Produktion, Ernährung, Wohlfahrt und Wertschöpfung für die Krisen verantwortlich. Drei Aspekte waren besonders relevant: 1.) wirtschaftlich schwache Länder waren von ausländischen Währungen abhängig; 2.) ihre Währungen unterlagen großen Wechselkursschwankungen; und 3.) große internationale Finanzströmen flossen unvorhersehbar in die Länder ein und aus und konnten so die Wirtschaften destabilisieren.
Eine Währung – wie Geld insgesamt – ist nur so viel wert, wie ihr Vertrauen entgegengebracht wird. Das Vertrauen basiert darauf, dass die Währung von anderen in Kauf- oder Schuldverträgen akzeptiert wird. Währungen von wirtschaftlich schwachen Ländern genossen einen geringeren Vertrauensvorschuss, weswegen diese Länder von ausländischen Währungen wie dem US-Dollar, Euro, Pound, Yen sowie von bereits damals überflüssigen Kolonialwährungen wie dem CFA-Franc abhängig waren. Sie brauchten diese Währungen, um z.B. für importierte Güter zu bezahlen, Auslandsschulden zu begleichen oder ihren Wechselkurs zu stabilisieren.
Es gibt drei Wege an ausländische Währungen zu kommen: Güter exportieren, Schulden in diesen Währungen aufnehmen oder Finanzströme anziehen, z.B. in Form von Investitionen oder Mitteln aus der „Entwicklungszusammenarbeit“. Alle drei waren im alten Währungssystem für die Länder des globalen Südens² schwierig. Wirtschaftlich schwache Länder exportierten bis 2030 größtenteils nur Rohstoffe, deren Preise im Vergleich zu verarbeiteten importierten Gütern langfristig im Mittel immer mehr sanken und starken Schwankungen unterworfen waren. Zwar versuchten sie immer wieder, Rohstoffkartelle, etwa für Kupfer oder Öl zu gründen, und die OPEC ist auch heute, im post-fossilistischen Zeitalter, noch vielen ein Begriff. Zumeist scheiterten diese Projekte aber an den globalen ökonomischen Machtverhältnissen. Wurde der Bedarf an Fremdwährungen durch Schuldenaufnahme gedeckt, war das mit vielen Risiken verbunden. Kredite konnten nur zurückgezahlt werden, wenn rechtzeitig genug exportiert wurde. Die Zinsen, die auf die Schulden gezahlt werden mussten, waren horrend. Sie überstiegen um ein Vielfaches das, was Industrieländer für Schulden zahlen mussten. Konnte ein Land seine Schulden nicht zurückzahlen, musste es befürchten, entweder nichts mehr geliehen zu bekommen (was die wenigsten riskieren wollten) oder von außen Politiken aufdiktiert zu bekommen, die das Wohl seiner Bevölkerung in einem großen Maß beeinträchtigten und ein höheres Maß an wirtschaftlicher Instabilität mit sich brachten.
Bei Finanzzuflüssen – ob nun in Form von ausländischen Krediten oder Entwicklungshilfe – traten dieselben Probleme auf. Länder erkrankten an der „Holländischen Krankheit“: Fließt plötzlich viel Geld in ein Land mit flexiblen Wechselkursen, wertet die Währung auf, d.h. inländische Preise stiegen im Vergleich zu ausländischen. Mit diesem relativen Preisanstieg wird das Land weniger wettbewerbsfähig und kann weniger exportieren, bekommt also auch weniger ausländische Währungen und muss folglich noch mehr Schulden aufnehmen. Ein Teufelskreis.
Besonders private ausländische Finanzströme mit kurzem Zeithorizont waren gefährlich. Diese waren insbesondere seit der Deregulierungswelle der 1980er entfesselt und flossen immer dahin, wo es potentiell die höchsten Profite mit wenig Risiken gab. Weil arme Länder höhere Zinsen für Kredite zahlen mussten, flossen dorthin oft kurzfristige Finanzströme, die die Währung aufwerten ließen. Das ruinierte die heimische (Export-)Wirtschaft, weil die Aufwertung der lokalen Währung einer Preissteigerung für das Ausland gleichkam. Die Schuldnerländer kamen in Zahlungsschwierigkeiten, was die Finanzinvestoren ihr Geld wieder abziehen ließ, mit plötzlichen Abwertungen der eigenen Währung als Folge. Abwertungen wiederum bedeuten, dass es den Ländern schwerer fällt, Importe zu bezahlen, weil sich die Preise in ausländischen Währungen relativ zur eigenen Währung erhöht haben.
Wechselkursschwankungen sind schlecht für die Wirtschaft und schränken Handlungsoptionen von Regierungen ein. Firmen und Regierungen können wegen der enormen Unsicherheit nicht planen. Importierende Firmen gehen pleite, wenn eine Unterbewertung der heimischen Währung Importe verteuert; exportierende Firmen, wenn eine Überbewertung ihre Wettbewerbsfähigkeit einschränkt. Spekulanten nutzten Wechselkursschwankungen aus und vergrößerten diese noch: Wurde erwartet, dass der Wechselkurs steigt, lohnte es sich, diese Währung zu kaufen, was sie noch mehr aufwerten ließ. Regierungen haben zum Teil versucht, dieser Aufwertung entgegenzuwirken: Durch Zinserhöhung sollte die Nachfrage gedrosselt und so das Preisniveau gesenkt werden, um dadurch die Währung wieder abwerten zu lassen. Aber die erhöhten Zinsen hatten zweierlei Effekte: Erstens erschwerte es Investitionen im Land, weil die Kreditaufnahme teurer war; und zweitens machte es das Land noch attraktiver für ausländische Finanzströme.
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Im Jahr 2048
…ist die Situation zum Teil entschärft – wenn auch immer noch nicht perfekt. 2030 haben die G195+ die Einführung des Bancor und die Gründung einer Internationalen Ausgleichsunion beschlossen. Die G195+ hat sich vor dem Hintergrund der Klimakrise gegründet, an deren Folgen allein bis 2030 schätzungsweise pro Jahr eine halbe Million Menschen starben. Sie ist eine diplomatische Gruppe, die alle Nationalstaaten und basisdemokratischen Konföderationen an den Verhandlungstisch setzt und in der jede diplomatische Vertretung eine Stimme hat. Dank eines Zusammenschlusses vieler Länder und Konföderationen des globalen Südens konnten nicht nur Entschädigungszahlungen von den Verursachern der Klimakatastrophe und ein absoluter Schuldenschnitt durchgesetzt werden, sondern auch eine Reform des internationalen Finanzsystems mit weitreichenden Folgen. Nachdem jahrzehntelang an dem Glauben festgehalten worden war, dass allein individuelles Politikversagen Ursache für die Armut vieler Länder sei, wurden endlich ihre strukturellen Gründe angegangen.
Das Ziel der Reform war es, für internationalen Ausgleich und Stabilität zu sorgen. Der Bancor hat mit jeder anderen Währung einen festen, wenn auch anpassbaren Wechselkurs. Er ist seit 2030 die Währung, die für alle internationalen Verträge benutzt wird. Exportiert ein Land A in ein Land B, wird die Bezahlung über die Internationale Ausgleichsunion abgewickelt: Land B überweist den Preis für die Exporte in seiner Währung an die Ausgleichsunion. Diese rechnet die Währung des Landes A in Bancor um und schreibt den Betrag auf dem Bancor-Konto des Landes A gut. Land A kann dieses Guthaben dann für Importe verwenden oder an ein anderes Land zu niedrigen Zinsen verleihen. Die Internationale Ausgleichsunion schöpft ihre eigenen Bancors als virtuelles Geld, wie Zentralbanken das schon früher getan haben.
Bei der Reform wurden auch die Forderungen von Keynes in den älteren Versionen seines Vorschlags berücksichtigt: Verfolgt ein Land eine aggressive Exportstrategie (z.B. weil es die Löhne in seinem Land niedrig hält) und macht deshalb zu große Überschüsse, können diese mit einem Strafzins belegt werden. Das kann das Land umgehen, indem es einem Defizitland die Überschüsse als günstige Kredite zur Verfügung stellt. Aus diesem Grund – und weil wirtschaftlich schwache Länder keine ausländischen Währungen mehr horten müssen, um sich gegen Wechselkursschwankungen zu schützen – bekamen ehemals arme Länder einen größeren finanziellen Spielraum. Äthiopien beispielsweise hat diesen genutzt, um führend in der Entwicklung einer dank Sonnenenergie emissionsarmen Wasserstoff-Sauerstoff-Brennstoffzellen zur dezentralen Stromerzeugung zu werden. Seitdem es diese Technologie tantiemefrei allen zur Verfügung gestellt hat, wird damit global dezentral Strom erzeugt. Auch in anderen Ländern wurden die zusätzlich freigewordenen Ressourcen in eine sozial-ökologische Transformation investiert. Damit ist die Lücke zwischen armen und reichen Ländern um einiges kleiner geworden. Das kam auch der reicheren Bevölkerung zugute, die sich nicht mehr mit den Gewissensbissen plagen mussten, auf Kosten anderer zu leben.
Diese Angleichung ist aber nur ein Teil dessen, warum seit 2030 Schuld- und Finanzkrisen fast komplett ausgestorben sind. Weitere Faktoren sind, dass die festen Wechselkurse keine Spekulationen auf Auf- und Abwertungen mehr zulassen und damit destabilisierenden Spekulationen die Grundlage entzogen wird. Auch ist die Geldmenge stabil – unabhängig von der Politik der Länder, die früher die international verwendete Währung bereitgestellt haben. So konnte früher eine Beschränkung der US-Dollarmenge die Solvenz anderer Länder bedrohen, die in US-Dollar verschuldet waren. Die Geldmenge in Bancor ist aber auch an die Bedürfnisse der G195+ anpassbar. So hat zum Beispiel die Ausgleichsunion 4,4 Milliarden zusätzliche Bancor geschöpft, um humanitäre Hilfe für Opfer des Zyklons Ingo bereitzustellen, der große Teile Mitteleuropas 2037 verwüstet hat. 2018 wurde so viel Geld noch täglich für das Militär auf der Welt ausgegeben.
Keynes‘ Vorschlag hat also seinen erwünschten Effekt gehabt. In der letztendlichen Umsetzung seiner Idee wurde aber eine Ausnahme gemacht: 2030 entschieden die G195+, anders als in dem ursprünglichen Vorschlag von Keynes vorgesehen, gegen eine Golddeckung. Das lag daran, dass Gold kaum einen praktischen Nutzen hat, abgesehen von seiner geringfügigen Verwendung in elektronischen Geräten. Schließlich ist der Wert von Gold nur eine Fiktion und speiste sich Jahrhunderte allein aus der Faszination für blinkenden Schmuck – mit einem hohen menschlichen und ökologischen Preis. Die Kopplung der Währung an einen materiellen Stoff war ohnehin nicht nötig, denn wie gesagt: Eine Währung – wie Geld insgesamt – ist nur so viel wert, wie ihr Vertrauen entgegengebracht wird. Und die gemeinsame Festlegung durch alle Staaten und demokratischen Konföderationen auf ein System, das die globale Ungleichheit zu verringern hilft, schafft genug Vertrauen.
Anmerkung 1: Entwicklung wird mittlerweile nicht mehr als ökonomisches Wachstum verstanden, sondern als ein Prozess, der das Wohlergehen aller Menschen innerhalb planetarer Grenzen zum Ziel hat. Teil dessen ist auch, dass Länder bzw. demokratische Konföderationen unabhängig über ihre eigene Politik entscheiden können.
Anmerkung 2: Länder des globalen Südens ist keine geographische Beschreibung (obwohl es sich größtenteils mit dem geographischen globalen Süden überschneidet), sondern meint vielmehr Länder, die im kapitalistischen System marginalisiert waren. Die lateinamerikanische Dependenztheorie hat dafür den Begriff der Länder der Peripherie geprägt. In ihnen finden die Zentrumsländer (Länder des globalen Nordens) Rohstofflieferanten, billige Arbeitskräfte und Absatzmärkte. Umweltverschmutzung und die von den Zentrumsländern verursachte Klimakatastrophe werden auch weitestgehend an die Länder des globalen Südens ausgelagert.
Das Konzeptwerk Neue Ökonomie führte die Zukunftswerkstatt im Rahmen des Projekts „Zukunft für alle – ökologisch. gerecht. machbar“ durch. In den nächsten Monaten werden weitere Zukunftswerkstätten zu verschiedenen Themenbereichen wie Mobilität, Landwirtschaft, Klima und Energie, globaler Handel, Finanzsystem, oder Bildung stattfinden.