Es geht ums Ganze!
Sozial-ökologische Transformation braucht machtkritische Bildung
Ein Kommentar von Nadine Kaufmann
10. August 2020
In diesen Tagen lässt sich ein Text kaum anders beginnen als irgendwie Bezug zu nehmen auf die Krise, die mit der Corona-Pandemie einhergeht. Das ist auch nicht besonders schwierig, da diese offenbar alle unsere Lebensbereiche betrifft: Womit wir unsere Zeit verbringen, wie wir Miete, Lebensmittel usw. bezahlen und besorgen, wie wir unsere sozialen Beziehungen und Familien gestalten, wie wir uns politisch einbringen und wie wir unsere Wirtschaft im Großen organisieren. Auf die eine oder andere Weise haben wahrscheinlich alle, die das hier lesen, in den letzten Monaten die Erfahrung gemacht, dass sich etwas verändert hat. Welche Auswirkungen das hat, das ist allerdings vermutlich sehr unterschiedlich.
Das „Wir“ tippt sich so leicht in einem Text, der ja auch alle ansprechen will. Doch direkt beim Schreiben kommt das Unbehagen. Wer ist eigentlich dieses „wir“, von dem ja nicht nur ich hier spreche, sondern das in Artikeln und Reden – auch in sozialen Bewegungen – so viel bemüht wird? Ich schaue mir dafür die Startseite des ´Spiegels´ an – laut Selbstauskunft Deutschlands führende Nahrichtenseite – und suche nach „wir“. Neun Treffer – inklusive Werbung, die ich anschalten muss, um überhaupt etwas lesen zu können. Da steht nun z.B. „Wir brauchen die Corona-App“ – kann ich nicht einschätzen. Dann steht da noch eine andere Überschrift: „Gefühle in der Corona-Krise: Diese Art Trauer sind wir nicht gewohnt“. Quasi eine Steilvorlage für das, worum es hier ja eigentlich gehen soll – machtkritische Bildung.
Bei machtkritischer Bildung geht es uns (ab jetzt benutze ich das nur noch, wenn ich von uns als Konzeptwerk Neue Ökonomie spreche) im Kern darum genauer hinzuschauen, was alles hinter einem leicht daher gesagten „wir“ steckt und wer oder was damit unsichtbar gemacht wird. In unserer Arbeit betrifft das oft die Frage, wie und von wem eine sozial-ökologische Transformation gestaltet wird, wer die Probleme benennt und die Lösungen entwickelt und umsetzt – und nicht zuletzt für wen. Wenn ich lese, diese Art von Trauer seien wir nicht gewohnt, weil wir bis auf „einzelne oder kleine Gruppen“ bisher nie die Erfahrung gemacht hätten, unser Sicherheitsgefühl zu verlieren, dann kann dieses „wir“ nur ziemlich eingeschränkt gemeint sein. Vielmehr zeigt sich darin, wie schnell die eigene (privilegierte) Positionierung und die eigenen Erfahrungen für normal und universell gültig gehalten werden – und das passiert auch mir.
Das Gefühl von Unsicherheit und Ohnmacht scheint mir mit Blick auf Geschichte und Gegenwart etwas zu sein, das bestimmte Gruppen von Menschen sehr gut kennen. Kolonialismus hat für die meisten Menschen in den besetzten und ausgebeuteten Gebieten Unsicherheit, Ohnmacht und Trauer bedeutet. Und Rassismus macht für People of Colour und Schwarze Menschen das Leben oft noch immer unsicher und ihre Positionen unsichtbar. Frauen und Menschen, die in ihrer Sexualität oder ihrem Geschlecht nicht der zweigeschlechtlichen Norm entsprechen, sind oft damit konfrontiert, weniger wert zu sein und das schlägt sich etwa auch in geringeren Löhnen nieder. Erfahrungen, die mit Abwertung, Ausschluss und Unsicherheit verbunden sind, machen Menschen, die von unterschiedlichsten Formen von Diskriminierung betroffen sind, auch aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihres Alters, ihrer Religionszugehörigkeit oder ihrer körperlichen Eigenschaften. Nicht zuletzt machen global hunderttausende, wenn nicht millionen Menschen im Kontext der Klimakrise die Erfahrung, ihr Sicherheitsgefühl zu verlieren, sei es weil ihre Lebensräume überflutet oder bspw. für den Abbau von Braunkohle abgebaggert werden.
Die Tatsache, dass manche mit vollem Ernst sagen können, kollektive Unsicherheit und Ohnmacht hätten wir vor Corona nicht gekannt, und gleichzeitig genau diese Erfahrung Alltag sicherlich der meisten Menschen/Gruppen ist, zeigt auf eine besondere Art, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse funktionieren: Sie konstruieren die Erfahrungen der einen als normal und universell gültig und machen die anderer unsichtbar. Unsere Kolleg*innen vom quixKollektiv haben das auf einer gemeinsamen Veranstaltung kürzlich so beschrieben: „Macht bezeichnet die Möglichkeit einer Person oder Gruppe auf das Verhalten und Denken einzelner Personen oder Gruppen und auf gesellschaftliche Diskurse einzuwirken. Dabei werden die Ideen, Ansichten, Werte, Strukturen etc. der machtvollen Gruppe oder Personen als etwas wichtigeres/besseres/ erstrebenswertes erachtet.“
Eine andere Seite von Macht jedoch ist Widerständigkeit und Ermächtigung. Es gibt weltweit so viele Beispiele wie sich Menschen und Gruppen organisieren, um Widerstand zu leisten, sich die Rechte zu erkämpfen, die ihnen genommen wurden und eigene Alternativen aufzubauen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich selbst als weiße Person, die in Deutschland aufgewachsen ist, erst ganz schön spät davon erfahren, mir diese Informationen gesucht und sehe noch immer viel zu wenige davon in den großen Medien. Auch das machen Machtverhältnisse – Widerstand und Alternativen unsichtbar und illegitim.
Machtkritische Bildung gestalten betrifft verschiedene Ebenen der Arbeit im Konzeptwerk
Wenn wir anstreben Bildungsarbeit im Konzeptwerk machtkritisch zu gestalten, dann heißt das für uns zunächst Zuhören – um dann Machtverhältnisse sichtbar zu machen, zu versuchen diese zu verändern und damit in Frage zu stellen, was „normal“ ist. Diese Aspekte betreffen sowohl die Inhalte unserer Arbeit als auch deren Rahmenbedingungen sowie unsere Rolle als Begleiter*innen von Lernprozessen.
1. Augen auf und Ohren auf – Wer sind wir als Bildungsakteur*in und was können wir deshalb (nicht)?
Wer auf unsere Website schaut und dort die Fotos des Konzeptwerk-Teams sieht, der*dem fällt (hoffentlich) schnell auf: fast alle weiß. „Hoffentlich“, weil das bedeutet, dass die Person sensibel dafür ist, dass das eben nicht „normal“ ist bzw. sein sollte. Für uns als Konzeptwerk heißt das, dass wir uns fragen müssen, wo und wie wir für Menschen, die bspw. im Bezug auf Rassismus diskriminiert sind, ausschließend oder unattraktiv sind als Gruppe, in der sie gerne politische Bildungsarbeit machen möchten. Daran müssen wir selbst arbeiten, uns weiterbilden und lesen, was dazu bereits geschrieben wurde. Dabei helfen uns auch externe Menschen, die mit uns einen Blick darauf werfen und unsere „blinden Flecken“ benennen. Für uns heißt das auch, dass wir, so wie wir aufgestellt sind, für bestimmte Positionen nur stellvertretend sprechen können. Wir versuchen deshalb in der Bildungsarbeit solidarische Kooperationspartner*innen zu sein für Gruppen und Personen, die stärker von struktureller Diskriminierung betroffen sind, als wir. Das heißt für uns auch immer wieder darauf zu schauen, was bzw. wessen Positionen und Wissen in der Debatte um Bildung & Nachhaltigkeit, in Bildungsangeboten, Materialien und Literaturlisten unsichtbar gemacht sind bzw. werden und nicht vorkommen (oder nur auf eine Weise, die Diskriminierung reproduziert). Damit es eben nicht „normal“ ist, dass zu 95% weiße (bezüglich Literaturlisten, könnte man noch „männliche“ hier einfügen) Personen abgebildet, zitiert und deren Gedanken diskutiert werden. Da ist bei uns auch noch Luft nach oben und dafür gibt es eigentlich keinen legitimen Grund.
Eine machtkritische Haltung heißt für uns in diesem Kontext deshalb auch zuzuhören, wenn Menschen uns kritisieren.
Ein Tipp (vor allem für andere weiß positionierte Menschen) zu diesem Teil: Macht auch die Fortbildung „Erfolgreich rassismuskritisch veranstalten“ der Noah-Sow Academy – wir haben da sehr viel gelernt.
2. Machtverhältnisse und Widerstand sichtbar machen
Als Konzeptwerk machen wir Bildungsarbeit zu Themen rund um eine sozial-ökologische Transformation von Gesellschaften im Globalen Norden. Eine machtkritische Perspektive darin einzunehmen bedeutet für uns, ökologische Krisen nicht nur als „zuviel C02 in der Luft“ zu verstehen, sondern sichtbar zu machen, wie ökologische Krisen mit sozialer Ungerechtigkeit, Ausbeutung oder mit Demokratie zusammenhängen – global wie lokal. In welcher Form Menschen zur Verschärfung der Klimakrise beitragen, davon betroffen sind und/oder sich (selbstbestimmt) vor den Auswirkungen von Klimaveränderungen schützen können, hängt sehr eng damit zusammen, inwieweit sie gesellschaftlich und wirtschaftlich privilegiert oder diskriminiert werden. Welchen Unterschied es macht, mit welcher Perspektive ich auf globale Verhältnisse blicke, macht Vanessa Andreotti deutlich, wenn sie z.B. den Ansatz einer „critical global citizenship education“ beschreibt: Heißt das Problem Armut oder globale Ungleichheit & Ungerechtigkeit? Liegt die Ursache des Problems in „mangelnder Entwicklung, Bildung etc.“ oder in einem (kapitalistischen Wirtschafts-)System aus Grundannahmen und Machtverhältnissen, die Ausbeutung und Diskriminierung zulassen und rechtfertigen – und von dem alle Teil sind?
Und auf der anderen Seite: Ist das Ziel, dass alle Menschen in „entwickelten“ Gesellschaften leben können oder, dass Machtverhältnisse sichtbar und damit bearbeitbar gemacht werden und Menschen selbst bestimmen können, wie sie leben möchten? Wenn ich Bildungsangebote gestalte, treffe ich immer eine Wahl, welche Perspektive ich dabei vertrete und damit kann ich „entwicklungspolitische“ Bildungsarbeit auch wirklich politisch machen.
Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie Gruppen im Globalen Süden wie Norden Widerstand leisten gegen ausbeuterische und diskriminierende Verhältnisse, gegen zerstörerische Praxis von Konzernen, gegen eine Politik, die das zulässt oder sogar unterstützt und dagegen, dass das alles „normal“ und alternativlos scheint – sei es der zerstörerische Abbau von Rohstoffen, die Verfolgung von Klima- und Umweltaktivist*innen oder die gesundheitsgefährdenden oder tödlichen Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie. Diese Stimmen sind wichtig. Sie können und sollten viel mehr Platz in der Bildungsarbeit im Kontext von Bildung für Nachhaltige Entwicklung/Globales Lernen einnehmen. Denn sie machen Verhältnisse sichtbar, die in Medien wenig gezeigt werden und sie fordern Alternativen – und zeigen oft auch schon, wie diese aussehen könnten.
Ein Tipp hierzu: Nehmt euch die Zeit und reflektiert eure eigene Bildungsarbeit mit den Fragen aus der Checkliste „HEADS-UP“ von Vanessa Andreotti – und keine Angst vor den großen Begriffen darin (eine Version in einfacherer Sprache gibt es auch hier.
3. Normalität hinterfragen – und aktiv verändern: Ist das vielleicht Transformative Bildung?
Stellt man den Aspekt, der den ganzen Text durchzieht, normalerweise an den Anfang oder ans Ende? Vielleicht egal. Was „normal“ ist, ergibt ja auch nicht immer für alle Sinn. Auch wenn diese Überleitung zugegebenermaßen vielleicht etwas, naja, gewollt ist, ist es doch genau das, worum es für uns bei „Transformativer Bildung“ geht: Hinterfragen und ändern, was als „normal“ und erstrebenswert gilt. Der Begriff „Transformative Bildung“ wird in den letzten Jahren im Kontext von Globalem Lernen und Bildung für Nachhaltige Entwicklung viel benutzt, um deutlich zu machen, dass Lernen in diesen Zusammenhängen viel stärker in die Tiefe gehen muss, als das bisher oft der Fall ist. Es muss auch darum gehen zu hinterfragen, welche Grundannahmen oder Glaubenssätze Menschen in ihrer Sozialisation, in ihrem Aufwachsen in einer Gesellschaft lernen – darüber, wie Menschen sind, was Sinn und Zweck von Wirtschaften ist und was ein gutes und erstrebenswertes Leben ist. Denn das ist in der Regel sozusagen tiefenimprägniert von den Machtverhältnissen, um die es oben im Text schon ging. Eine Aufgabe von Bildung ist dann, Räume zu schaffen, in denen sich Menschen überhaupt erst darauf einlassen können, ernsthaft zu hinterfragen, was sie für normal und gut halten – und woher sie diese Überzeugung haben. Und dazu gehört auch über Privilegien und Diskriminierung zu sprechen. Denn je nach Positionierung erleben Menschen sehr Unterschiedliches als „normal“, z.B. Einfluss oder Ohnmacht, Zugehörigkeit oder Ausschluss, Wertschätzung oder Abwertung. Nur ist das weniger sichtbar.
Wenn es darum geht, diese Verhältnisse zu verändern, dann muss aus einer machtkritischen Perspektive „Handeln“ sinnvollerweise immer in eine Reflexion der eigenen Position und Haltung sowie der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die diese eingebunden sind, eingebettet sein. In unserer eigenen Bildungspraxis war es dafür auch sinnvoll mit Gruppen real existierende Alternativen zu besuchen, z.B. Solidarische Landwirtschaften, Klimacamps, ein migrantisches Radioprojekt oder ein Reparatur-Café, in denen etwas anderes „normal“ ist – und auch ehrlich zu reflektieren, wo darin gesellschaftliche Machtverhältnisse weiterhin wirken.
Das ist ein Plädoyer dafür im sogenannten Dreischritt des Globalen Lernens „Erkennen – Bewerten – Handeln“ den ersten beiden Teilen mehr Raum zu geben, als das aktuell oft der Fall ist. Und das ist ein Appell an die Förderlandschaft solcher Bildungsarbeit, dass es in Lernprozessen nicht immer direkt darum gehen kann welche Verhaltensänderung „hinten raus kommt“. Veränderung braucht Zeit.
Und zuletzt ist das auch noch eine Bitte an Menschen, die Bildungsarbeit machen (die nicht von mir kommt, sondern von Noah Sow): Geht nicht davon aus, dass alle Menschen einer Gruppe, mit der ihr arbeitet die gleichen Möglichkeiten und Chancen bekommen haben oder sich – berechtigter Weise in der Verantwortung sehen „etwas anders zu machen“.
Weil ich schon so viel geschrieben habe, am Ende nur nochmal ein Verweis darauf, dass eine machtkritische Haltung natürlich auch dabei eine Rolle spielt, wie ich Lernräume gestalte und wie dementsprechend Menschen in Workshops, Seminaren etc. miteinander umgehen: Ist die Trainerin die „Expertin“ oder gilt das Wissen aller gleichermaßen? Schaffe ich als Trainer*in einen Raum, in dem z.B. ein sensibler Umgang mit Geschlechtsidentitäten eingeübt werden kann, indem bspw. alle sagen, welches Pronomen sie sich für sich wünschen? Achte ich bzw. achten alle zusammen darauf, wer wie viel spricht etc..?
Ein Tipp hierzu: hm, zu komplex. Vielleicht lieber auch kein weiterer Tipp von einer weißen Person, sondern selbst suchen, wo ihr euch dazu weiter belesen, austauschen etc. könnt. Dafür gibt es z.B. das quix kollektiv für kritische Bildungsarbeit, das Portal Intersektionalität, glokal e.V., Phoenix e.V. oder das Bildungskollekitv Karfi.
Und wenn das jetzt alles klingt als wäre da noch so viel zu tun und würde alles ganz anstrengend, dann ist das vielleicht ja ein Zeichen dafür, dass eine machtkritische Haltung und Praxis in der Bildungsarbeit noch nicht „normal“ ist – und, dass diejenigen zu wenig gehört werden, für die Workshops und Seminare, in denen es keinen sensiblen Umgang mit Macht gibt, jetzt schon ultra anstrengend und ausschließend sind. Gleichzeitig es gibt viele, die daran mitbauen, dass sich das ändert. Eine ganze Reihe weiterer Gedanken zu machtkritischer Bildung, könnt ihr auch in unserem frisch erscheinenden Sammelband zur Konferenz „BildungMachtZukunft – Lernen für die sozial-ökologische Transformation?“ lesen.
Nadine Kaufmann ist Teil des Bildungsteams im Konzeptwerk und arbeitet u.a. zu den Themen Transformative Bildung, sozial-ökologischer Transformation und Digitalisierung.
Teil 3 der Blog-Reihe „Transformative Bildung.
Jetzt mal konkret!“
Trotz und wegen Corona glauben wir, dass eine transformative und kritische Bildung notwendiger denn je ist um solidarische Antworten auf gesellschaftliche Krisen zu finden und ein gutes Leben für Alle zu erstreiten.
Alle Beiträge der Blog-Reihe
- Teil 1: Transformative Bildung in der Corona-Krise
- Teil 2: Eine zukunftsfähige Gesellschaft braucht eine Transformation der Schule
- Teil 3: Es geht ums Ganze – Sozial-ökologische Transformation braucht machtkritische Bildung
- Teil 4: Lernen lassen will gelernt sein
- Teil 5: Wer gestaltet die Schule der Zukunft?
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