Illustration: Manuel Schroeder
Wer gestaltet die Schule der Zukunft?
Wie die sozial-ökologische Transformation in die Bildungsinstitutionen kommt und was wir dazu beitragen
Ein Beitrag von Christoph Sanders
20. Januar 2021
Obwohl Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit Mega-Themen unserer Zeit sind, die Schüler*innen als junge Menschen besonders betreffen, werden sie noch längst nicht selbstverständlich in den Schulen vorangetrieben oder gelebt.
Dieser Blogbeitrag will helfen überblicksartig zu verstehen, welche Prozesse bezüglich der Etablierung von Globalem Lernen und Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) in Deutschland laufen. Was sind ihre Erfolge und Probleme? Was macht das Konzeptwerk bezüglich dieser Prozesse und warum?
Schule ist kein neutraler Ort
Staatliche Schulen sind ein wichtiger Ort der Sozialisierung für die allermeisten Menschen. Hier wird nicht nur Wissen vermittelt sondern es werden auch Weltbilder und Verhaltensweisen geprägt – sowohl über den offiziellen Lehrplan als auch über den „heimlichen“. Heimlich meint, dass in der Schule über die Art der Lernens, über die Kontakte mit Lehrer*innen und Schüler*innen, über die Organisation der Schule – also das ganze Drum und Dran der Schule – Menschen geformt werden. Was wir als „normal“ und „möglich“ erachten, das erlernen wir auch in der Schule. Dies betrifft auch die Themen Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Schule und Bildung sind damit immer schon eingebunden in Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über Wissen und Kulturtechniken. Bildung und Schule sind nie neutral und immer auch Austragungsfeld von gesellschaftlichen Konflikten. Gute Bildung geht reflektiert und transparent mit Standpunkten und Positionen um, ermöglicht und fördert Kontroversität, Widerspruch und eigene Urteilskraft.
Vor diesem Hintergrund müssen die staatlichen Rahmenprozesse betrachtet werden, die dazu dienen, sozial-ökologische Themen in der Schule zu verankern. Hier gibt es zwei Stück – Achtung, jetzt wird es kurz ein bisschen technisch.
Die bundesweiten Rahmenprozesse zur Etablierung von Globalem Lernen und BNE
Zum einen hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz, also der Zusammenschluss aller Kultusministerien der Bundesländer, den sogenannten „Orientierungsrahmen globale Entwicklung“ aufgesetzt. Dieser definiert in einer Verständigung von Staat, Wissenschaft und Zivilgesellschaft für jeden Fachbereich, wie „globale Entwicklung“ in der Schule thematisiert und verankert werden soll. Es gibt daher fachspezifische Teilausgaben, die ebenfalls unter Beteiligung verschiedenster Akteure erstellt und überarbeitet werden. Koordiniert wird der gesamte Prozess auf Bundesebene von der Organisation „Engagement Global“. Der Orientierungsrahmen (OR) existiert bislang nur für die Sekundarstufe I und 2016 erschien seine zweite Auflage. Obwohl der Prozess schon seit mehr als zehn Jahren läuft, geht die Umsetzung in den Bundesländern nur langsam voran. Dafür wurden unter anderem sogenannte „BNE-Landeskoordinationen“ an den jeweiligen Kultusministerien etabliert und einzelne Länder entwickeln BNE-Landesstrategien.
Zum anderen hat das Bildungsministerium den sogenannten „Nationalen Aktionsplan BNE“ (NAP) aufgesetzt, der deutsche Beitrag zum UNESCO-Weltaktionsprogramm BNE. Dieser wurde ebenfalls von Wissenschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft und auch unter Beteiligung der Bundesländer gestaltet. Er unterscheidet Handlungsfelder nach verschiedenen Bildungsbereichen, für die Ziele und Maßnahmen definiert sind und es entsprechende Arbeitsgruppen gibt. Auch hier geht es darum, wie BNE in die Strukturen des Bildungssystems integriert werden kann. Der Plan wurde 2017 fertiggestellt. Gemäß der verschiedenen Handlungsfelder gibt es aktive Fachforen.
Sind das nun gute Prozesse für eine effektive Etablierung von starkem Globalen Lernen und BNE oder nicht? Das ist nicht so leicht zu sagen. Ich möchte ein paar wertschätzende Aspekte und einige Kritikpunkte nennen. Diese orientieren sich an einem Podium, das wir im Rahmen unseres Kongresses „Zukunft für alle“ im Sommer 2020 zum Thema dieses Blogbeitrags organisiert haben. Daraus geht dann auch hervor, warum und wie wir uns als Konzeptwerk im Feld engagieren. Dies möchte ich im Abschluss des Blogbeitrags noch vorstellen.
Die Existenz der Rahmendokumente ist ein Erfolg
Im internationalen Vergleich ist es besonders, dass es in Deutschland gelungen ist, für viele Bildungsbereiche spezifische Ziele und Maßnahmen unter Beteiligung von Akteuren aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zu erstellen. Auch im Vergleich zu vorherigen Prozessen, etwa Dokumenten, die im Rahmen der UN-Dekade BNE (2005-2014) entstanden sind, sind die aktuellen Dokumente relativ ambitioniert. Das ist auch deshalb der Fall, weil die Zivilgesellschaft früh dafür gekämpft hat, dass BNE und Globales Lernen in die Institutionen kommt. Relativ gesehen, sind sie ambitioniert, weil es um eine Etablierung von Globalem Lernen und BNE in allen Bildungsinstitutionen geht – also jenseits von Projekten wie Umweltschulen, Eine-Welt-Schulen, UNESCO-Schulen etc. Wie Tina Schauer vom hessischen Kultusministerium sagt, geht es um den Schritt vom Projekt zur Struktur.
Die Rahmendokumente kommen in den Lehr- und Entwicklungsplänen an
Nach Mandy Singer-Brodowski von der Freien Universität Berlin zeigen Studien, die die Umsetzung der beiden großen Rahmenprozesse begleiten, dass BNE und Globales Lernen auf der Ebene der richtungsweisenden Dokumente immer mehr aufgenommen werden, also etwa in die Lehrpläne, in Entwicklungspläne und zum Teil auch in Rahmengesetze. Das bestätigt auch Tina Schauer für Hessen. Auf dieser „Dokumentenebene“ gebe es, bei aller berechtigter Kritik am Orientierungsrahmen und am Nationalen Aktionsplan, eine gute Ausgangssituation für die fachspezifische Umsetzung von Nachhaltigkeit und globaler Gerechtigkeit. Damit sei im Prinzip auch eine gute Ausgangssituation für die niedrigschwellige Fortbildung von Lehrkräften gegeben. Was auf unserem Podium verschiedene Personen teilen und wir auch in unserer eigenen Arbeit sehen, ist, dass die Rahmenprozesse gut als Argumentationsgrundlage funktionieren, um Veränderungen anzustoßen. Dies gilt für alle möglichen Projekte: Sei es für Förderanträge oder für die Durchführung von Kooperationen mit Schulen und Universitäten oder für Lehrer*innen, um gegenüber der Schulleitung bestimmte Inhalte und didaktische Konzepte durchzusetzen.
Eine Chance für fächerübergreifendes Vorgehen
Nadine Golly, Sozialwissenschaftlerin, sieht durch den Orientierungsrahmen und den Nationalen Aktionsplan schließlich die Chance, dass Themen vernetzt und über fachspezifische Grenzen hinaus bearbeitet werden können. In der Tat wird etwa im Orientierungsrahmen der so genannte „Whole School-Approach“ gefordert, der Nachhaltigkeit als Querschnitt, also nicht nur auf inhaltlicher Ebene, in die Bildungsinstitutionen bringen soll. Damit ist zum Beispiel die Bewirtschaftung der Schule oder auch ein demokratischeres Schulmanagement gemeint. Die Kritik an den Rahmenprozessen und -dokumenten lässt sich vielleicht grob unterteilen hinsichtlich ihrer Inhalte und hinsichtlich ihrer Umsetzung – auch wenn beide Bereiche eng miteinander verzahnt sind.
Zu wenig diverse Perspektiven für eine kritisch-emanzipatorische Bildung
Auf der inhaltlichen Ebene stellen wir fest, dass nach wie vor zu wenige diverse Perspektiven vertreten sind und deshalb das damit einhergehende Wissen nicht ausreichend berücksichtigt wird. Das gilt an dieser Stelle zunächst für den Orientierungsrahmen, weil ich für den Aktionsplan keine kompetenten Aussagen treffen kann. Exemplarisch für diese Kritik sind etwa die Analysen und Forderungen im Rahmen des zivilgesellschaftlichen Projekts „Decolonize Orientierungsrahmen“. Diese entstanden im Zuge der Überarbeitung zur zweiten Auflage des OR im Jahr 2014. Laut Nadine Golly, Mitgestalterin des Projekts, ist die Kritik zum Teil in die Auflage von 2016 eingeflossen. Sie ist der Auffassung, dass das Wissen über historisch gewachsene Machtverhältnisse Kindern an die Hand gegeben werden muss, wenn unser Ziel kritisch-emanzipatorische Bildungslandschaften sind. Dies wird durch die Rahmenprozesse meines Erachtens zu wenig angestrebt. Dazu passend weist Golly ebenfalls darauf hin, dass im OR die Herkunft des dort vertretenen Wissens nicht immer transparent ist und die Kämpfe, die dazu geführt haben, dass bestimmte Ansätze es überhaupt dort hineingeschafft haben, verschleiert sind. Nach meinem Dafürhalten fehlt es dem Orientierungsrahmen also nach wie vor an anti-rassistischen, dekolonialen und feministischen Analysen sowie Transformationsansätzen. Dass dieses Wissen nicht vertreten wird, liegt auch an der homogenen Zusammensetzung der Autor*innen des OR.
Eine wichtige Frage, nicht nur für die Rahmendokumente und -prozesse sondern für (staatliche) Bildung im weitesten Sinne, ist: Wie kann dies aufgebrochen werden? Wie also kann Bildung emanzipatorisch, kritisch und perspektivenreicher werden? Dass dies gelingt, ist nämlich selbst bei besten Absichten überhaupt nicht einfach und eher ein langfristiges Projekt, das auch uns in unserer eigenen Arbeit sehr beschäftigt. Schlagworte sind hier für uns: Lernbereitschaft; Dekonstruktion eigener Werte, Bilder und Verhaltensweisen; Bereitschaft Macht zu teilen; Vertrauensaufbau.
Beteiligung der Zivilgesellschaft ist wichtig für die Umsetzung und Weiterentwicklung der Dokumente – doch es geht nicht ohne Geld und Willen
Dass die Rahmenprozesse also stärker in eine Richtung kritisch-emanzipatorischer Bildung wirken, bis hinunter in den konkreten Schulalltag und -unterricht, erfordert unbedingt die weitere Zusammenarbeit von staatlichen Akteuren und der Zivilgesellschaft. Dies betont auch Mandy Singer-Brodowski. Sie ist überzeugt, dass in solchen Kooperationen bessere Angebote entstehen. Zugleich sieht sie die Gefahr, dass sich gerade kritische Zivilgesellschaft aus dem Prozess der BNE-Gestaltung ausklinken, nachdem dieser nun zunehmend formalisiert und verstaatlicht wurde. Dass dies nicht passiert, hat auch etwas mit dem Willen des Staates zu tun, die Zivilgesellschaft auch tatsächlich und ernsthaft beteiligen zu wollen. Durch meine eigene Beteiligung und Beobachtung der Prozesse kommt bei mir zumindest die Frage auf, ob es sich nicht zum Teil um „So-tun-als-ob-Beteiligungen“ handelt. Der Eindruck entsteht schon alleine deshalb, weil die Beteiligung oft auf unentgeltlicher Basis angeboten wird, was bereits Ausschlüsse erzeugt. Denn wer kann es sich leisten, derart komplexe und zeitintensive Prozesse ohne Honorare und Fahrtkosten zu begleiten?
Es hakt in der Umsetzung. Zu unbekannt, zu wenig Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte
Ich sehe auch an weiteren Stellen, dass es an Geld, aber auch an Willen für die Durchsetzung der Prozesse fehlt. Insbesondere denke ich dabei an die Lehrkräfte-Fortbildung. Wir sehen in unserer Arbeit, dass selbst engagierte und motivierte Lehrkräfte nur unter sehr großen eigenen Opfern Anstrengungen im Sinne der Rahmendokumente oder gar im Sinne transformativer Bildung unternehmen können. Die Arbeitslast ist hoch, die Fortbildungsmöglichkeiten gering. Neben der Ökonomisierung der Bildungslandschaft seit Anfang der 2000er hören wir auch immer wieder von Widerständen aus dem Kollegium und von Seiten der Schulleitung gegen die Umsetzung der Rahmenprozesse. Auch Tina Schauer meint, dass Lehrkräfte sich oft alleingelassen und überfordert fühlten. Ähnlich sieht das Mandy Singer-Brodowski, die ebenfalls in der Aus- und Fortbildung von Fach- und Lehrkräften eine große Herausforderung sieht, weil diese wenig auf die neuen Anforderungen und Herausforderungen vorbereitet seien – auch weil einfach zu wenig Weiterbildung stattfinde. Das zeigten Studien durchgängig. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Dokumente in meiner Wahrnehmung auf der Ebene der Schulen selbst noch recht unbekannt sind.
Passend zu meiner Kritik am fehlenden politischen Willen betont Nadine Golly dann auch, dass die Dokumente nicht als Zielgerade sondern als Zwischenstand in einem Prozess verstanden werden sollten. Die Existenz oder das Fehlen von politischem Willen und Geld ist natürlich selbst oft Teil einer Auseinandersetzung um Deutungshoheiten und Macht. Akteure der Zivilgesellschaft, sofern sie aus strategischen Gründen zu dem Entschluss kommen, in staatlichen Bildungsprozessen aktiv sein zu wollen, stehen also in Kooperationsprozessen nicht nur für andere Inhalte und didaktische Ansätze ein, sondern auch für angemessene Formen der Beteiligung und der Repräsentation.
Unser Engagement als Bildungsteam für die Etablierung einer transformativen Bildung
Für uns gibt es deshalb immer wieder gute Gründe als zivilgesellschaftlicher Akteur an der Weiterentwicklung der Rahmenprozesse mitzuwirken sowie diese kritisch zu begleiten. Das Bildungsteam des Konzeptwerks ist daher Teil der Arbeitsgruppe, die den Fachbereich Wirtschaft des Orientierungsrahmens überarbeitet. Jüngst sind wir ebenfalls in den Facharbeitskreis Wirtschaft berufen worden, der die Teilausgabe des OR für die Sekundarstufe II erarbeiten soll. Weiterhin sind wir im Fachforum non-formales und informelles Lernen/Jugend des Nationalen Aktionsplans aktiv. Neben diesen Aktivitäten auf Bundesebene begleiten wir auch den Umsetzungsprozess im Land Sachsen. Hier hat das Land eine Landesstrategie BNE verabschiedet, die im Prinzip den Orientierungsrahmen und den Nationalen Aktionsplan umsetzen soll. Dieser Prozess wird von der Zivilgesellschaft begleitet, die in der so genannten Landesarbeitsgemeinschaft BNE involviert wird. Letztere ist wiederum in verschiedene Arbeitsgruppen unterteilt. Wir begleiten die Landesarbeitsgemeinschaft in der Beratungsgruppe „Fortbildungen für Multiplikator*innen“.
Es ist ja schon angeklungen, dass wir die Aus- und Weiterbildungen von Lehrkräften für sehr wichtig halten. Daher bieten wir auch in Kooperation mit Landesschulämtern in verschiedenen Bundesländern immer wieder Fortbildungen an. Als effektiver und unkomplizierter jedoch hat sich für uns erwiesen, direkt mit Didaktikfachbereichen von Universitäten zu kooperieren und Lehramtsseminare gemeinsam mit diesen Fachbereichen durchzuführen, so etwa mit dem Zentrum für Lehrer*innenbildung der Uni Leipzig oder dem Lehrstuhl für Didaktik der politischen Bildung der Uni Kassel. Weiterhin halten wir die Vernetzung von unterschiedlichen Akteuren im Feld BNE und Globales Lernen, auf der Ebene des Diskurses und auf der Ebene der konkreten Projektkooperation, für sehr wichtig. Nur so kann diese Form des Lernens von einer größeren Vielfalt von Perspektiven geprägt werden. Das haben wir im Rahmen unserer Kongressprojekte „Bildung Macht Zukunft“ und dem Bildungsstrang „Schule Macht Zukunft“ des Kongresses „Zukunft für alle“ probiert. Ich schreibe probiert, weil es uns in mancherlei Hinsicht gelungen ist, Akteure mit vielfältigen Perspektiven für eine Kooperation und für unsere Formate zu gewinnen. Oft ist es uns aber auch nicht gelungen. Hier befinden wir uns in einem Lernprozess und es wird deutlich, dass vertrauensbildende Arbeit im Rahmen dieser Projekte für uns zu neuen Erkenntnissen, neuen Formen des Arbeitens und der Kooperation geführt hat. Schließlich vertreten wir Positionen wie in diesem Blogbeitrag auch auf Anfrage in der Öffentlichkeit – etwa auf Podien oder in Fachbeiträgen.
Teil 5 der Blog-Reihe:
Transformative Bildung.
Jetzt mal konkret!
Trotz und wegen Corona glauben wir, dass eine transformative und kritische Bildung notwendiger denn je ist um solidarische Antworten auf gesellschaftliche Krisen zu finden und ein gutes Leben für Alle zu erstreiten.
Alle Beiträge der Blog-Reihe
- Teil 1: Transformative Bildung in der Corona-Krise
- Teil 2: Eine zukunftsfähige Gesellschaft braucht eine Transformation der Schule
- Teil 3: Es geht ums Ganze – Sozial-ökologische Transformation braucht machtkritische Bildung
- Teil 4: Lernen lassen will gelernt sein
- Teil 5: Wer gestaltet die Schule der Zukunft?
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