Sorgearbeit im Zentrum der Wirtschaft
Das Ganze der Ökonomie
15. November 2019
Die Politikwissenschaftlerin Uta von Winterfeld, die Soziologin Christa Wichterich und die Ökonomin Adelheid Biesecker machen deutlich, warum Wohlstand und Wachstum seit Beginn der Moderne auf einer hierarchischen Geschlechtertrennung basieren, die bis heute auch die Grundlage der Wirtschaftswissenschaften bilden.
FRANCIS BACON formulierte in der Morgendämmerung der Moderne ein bis heute paradigmatisches Wohlstands- und Fortschrittsversprechen: „Wohlstand durch Naturbeherrschung“, so die Formel seiner programmatischen Schrift » Neues Organon « .
Es kam dem amtierenden Lordkanzler von Großbritannien 1620 darauf an, dass die mechanischen Künste (heute Technik) im Wettlauf mit der Natur gewinnen. Die von Francis Bacon proklamierten Wohlstands- und Fortschrittsvorstellungen basieren auf Indienstnahme und Versklavung des „weiblichen Natürlichen“ durch das „männliche Geistige“.
„Wohlstand“ ist auch das zentrale Thema der ökonomischen Theorie seit ADAM SMITH. » An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations « – so lautet der Titel eines seiner beiden Hauptwerke. Im Deutschen wird dieses Werk unter dem Titel » Der Wohlstand der Nationen « zitiert. Als Quelle dieses Wohlstandes sieht Smith „die jährliche Arbeit eines Volkes“ an, womit er, in heutigen Begriffen, ausschließlich die Erwerbsarbeit meint, die für die Herstellung von Waren (Dienstleistungen eingeschlossen) für den Markt geleistet wird.
Abgespalten und aus dem Ökonomischen ausgegrenzt sind so von Anbeginn des Nachdenkens über „Wohlstand“ an die sorgenden, sozial vor allem Frauen zugewiesenen Arbeiten.
„Wohlstand“ wird verstanden als Warenwohlstand. Er kann gesteigert werden durch Steigerung des Warenvolumens – durch Wachstum. Das geschieht bei Smith vor allem durch die Steigerung der Produktivkräfte der Arbeit, insbesondere durch Arbeitsteilung und Ausdehnung der Märkte. Der Markt wird so zu einem zentralen Mechanismus in der Bestimmung des „Wohlstands“. Ökonomie ist Marktökonomie. Alle leben vom Tausch, mit Geld als dem „unentbehrlichen Hilfsmittel im Handel“. Und alle haben beim Tausch ihren eigenen Vorteil im Blick. Später wird daraus die individuelle Nutzenmaximierung. Diese gilt als rational. Bis heute verbirgt sich in dem formal bestimmten Rationalitätskonzept der Mainstream-Ökonomie die alte Nützlichkeitsphilosophie.
Abgespalten aus dem Ökonomischen ist auch die Natur. Nur dort, wo sie zu Privateigentum und damit warenförmig geworden ist, geht sie in die Rechnungen der Wirtschaftsakteure ein. Wie die sorgenden Arbeiten (heute sprechen wir von Care-Arbeit und Care-Ökonomie) ist auch die Natur bei Smith als immer zur Verfügung stehend angenommen – als unhinterfragte Existenzbedingung der (kapitalistischen) Warenproduktion.
Diese lebendigen Grundlagen tragen einen großen Teil der Kosten dieser Art ökonomischen Handelns – Kosten, die nicht in die privaten Wirtschaftsrechnungen eingehen: Verlust der Biodiversität z. B. oder Armut, vor allem Frauen- und Kinderarmut. Um der Qualität dieser Trennungsstruktur eine passende Bezeichnung zu geben, sprechen wir von „Externalisierung als Prinzip“. Wir meinen damit nicht nur die Externalisierung von Kosten, sondern die soziale und ökologische Tätigkeiten und Produktivitäten systematisch ausgrenzende Struktur des Ökonomischen. Diese Grundstruktur des ökonomischen Denkens hat sich bis heute im Mainstream erhalten. Vieles wurde verfeinert, mathematisiert, hinzugefügt – aber die Trennungsstruktur wurde nicht aufgelöst. Im Gegenteil:
Der feministische Diskurs hat deutlich gemacht, dass diese Trennungsstruktur eine geschlechtlich geprägte Hierarchie aufweist – was am Markt geschieht, ist produktiv, wertvoll bzw. Wert schaffend und öffentlich, was jenseits davon geschieht, ist unproduktiv oder bestenfalls reproduktiv, nicht Wert schaffend, privat.
Und diese Trennungsstruktur prägt auch den zentralen Wohlstandsindikator, wie er bis heute auch in Deutschland erhoben wird: Das Sozialprodukt. Ob in der Entstehungs-, Verwendungs- oder Verteilungsrechnung – berücksichtigt werden nur durch inflationsbereinigte, in Geld ausgedrückte Preise bewertete Warenmengen oder Markteinkommen. Anderes zählt nicht. Die Leistungen der unbezahlten Care-Arbeit kommen nicht vor, ebenso wenig wie die der Natur. Und auch die Kosten, die diese Bereiche zu tragen haben, werden nicht berechnet. Die Kritik an diesem Indikator wurde detailliert zusammengefasst von der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission in Frankreich. Dennoch gilt das Sozialprodukt weiterhin als Wohlstandsmaß, und sein Wachstum als Wohlstandssteigerung.
Als Maß für Lebensqualität oder „gutes Leben“ taugt es aber nichts – wie auch nicht als Maß für die ökologische Qualität des Wirtschaftens. Und auch als Maß für ökonomisches Wachstum ist es falsch.
What men value has brought us to the brink of death. What women find worthy may bring us back to life.
Alternative Wohlstandskonzepte, die auch die Leistungen der Care-Arbeit und der Natur sowie die diesen Bereichen aufgebürdeten Kosten erfassen, machen deutlich: Wenn auch das in Geld ausgedrückte Sozialprodukt noch steigt, so wächst die Wirtschaft doch schon lange nicht mehr! Diese Erkenntnis ist nicht neu – insbesondere nicht in der feministischen Debatte.
» If Women counted « unter diesem Titel fasst MARILYN WARING schon 1988 eine Debatte zusammen und entwickelt sie weiter, die Frauen schon länger global geführt haben und in der die Care-Arbeit und die Natur mit ihren Leistungen erfasst werden. „What men value has brought us to the brink of death: What women find worthy may bring us back to life“ – so endet die Untersuchung von Waring und beschreibt gleichzeitig, worum es geht: um die Neu-Bewertung aus der Perspektive von Lebensprozessen.
Grundlage solcher Neu-Bewertungen sind ein Verständnis und eine Kritik der durchgehenden Trennungsstruktur der bestehenden kapitalistischen Ökonomie. Nur so kann „das Ganze der Ökonomie“ in den Blick kommen und als Ungetrenntes und Verwobenes verstanden, nur so können alle den Wohlstand fördernden Kräfte erfasst werden. Aus dieser feministisch ganzheitlichen und hierarchiekritischen Perspektive erfolgen diese weiterführenden Überlegungen, d.h. sie richten den kritischen Blick auf Trennungsstrukturen und Externalisierungen und dekonstruieren Herrschaftsstrukturen.
So fragen wir:
Welche Rolle spielt das Geld in dieser Ökonomie – und welche könnte es in einer anderen, einer ver- und vorsorgenden Wirtschaftsweise spielen?
Was geschieht mit der Arbeit in dieser Trennungsstruktur, und wie könnte „das Ganze der Arbeit“ in einem zukunftsfähigen Bewertungskonzept erfasst werden?
Was alles geht verloren im gültigen Wohlstandskonzept, und wie könnte ein Konzept vom Guten Leben diese Abspaltungen vermeiden?
Dazu gehört auch eine Auseinandersetzung mit der strukturellen Teilung der Gesellschaft in eine Sphäre des Öffentlichen und eine des Privaten: Was befördert die Exklusion, und wie kann eine Gesellschaftsstruktur der Inklusion gedacht werden?
Da der individualistischen Maximierungsrationalität aus der Perspektive des sozial und ökologisch (Re-)Produktiven eine zerstörerische ökonomische Unvernunft innewohnt, gilt es abschließend neue Handlungsrationalitäten, Bewertungen und Ansatzpunkte für sozial-ökologische Transformationen zu identifizieren, um neue Horizonte zu eröffnen, die Wohlstand und gutes Leben mit Demokratie und Gerechtigkeit verknüpfen.
Leicht geänderte und gekürzte Einleitung aus „Feministische Perspektiven zum Themenbereich: Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“.
Adelheid Biesecker
ist Ökonomin. Sie war Professorin an der Universität Bremen und ist Mitglied im Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften.
Video-Interview mit Adelheid Biesecker über Ansätze zu einer sozial-ökologischen Wirtschaft
Christa Wichterich
ist Soziologin. Sie arbeitet als freiberufliche Publizistin, Buchautorin und als Beraterin in der Entwicklungszusammenarbeit und engagiert sich im wissenschaftlichen Beirat von attac Deutschland und im europäischen Netzwerk Women in Development Europe (WIDE+).
Video-Vortrag von Christa Wichterich zu „Care und (Re)Produktion – Eine feministische Sicht auf Postwachstum“
Uta von Winterfeld
ist Politikwissenschaftlerin. Sie ist Professorin für Politische Ökologie an der Universität Kassel und arbeitet am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Sie ist Mitglied im Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften.
Teil 4 der Blogserie „Sorgearbeit im Zentrum“
Mit dieser Blogserie wollen wir deutschsprachige und internationale Diskussionen vorstellen, die sich damit beschäftigen, wie Sorgearbeit, ökologische und soziale Gerechtigkeit und unser wachstumsbasiertes Wirtschaftsystem zusammen hängen. Dafür wählen wir verschiedene Formate: wir stellen Videos vor, Ton-Mitschnitte aus Konferenzen, Podcasts und Texte. Wir wollen mit dieser Blogserie einen Wegweiser bieten über einiges bisher gedachte, und dazu einladen, darüber hinauszudenken.
Alle Beiträge der Serie
- Teil 1: Warum Care und Degrowth zusammen gehören
- Teil 2: Wie steht es um die Care Revolution
- Teil 3: Ökofeministische Kritik von „Entwicklung“
- Teil 4: Das Ganze der Ökonomie
- Teil 5: Queer ackern
- Teil 6: Kämpfe um Identätsfragen sind neoliberal
- Teil 7: Lokale und globale Perspektiven auf Sorgearbeit
- Teil 8: Gemeinsam politische Posten besetzen
- Teil 9: Die radikale neue Rechte
- Teil 10: Extraktivismus, Klimakrise und ökofeministische Entwicklungsalternativen in Afrika
- Teil 11: Wie wollen wir Care organisieren?
- Teil 12: Hinter jeder erfolgreichen Frau steht eine andere Frau mit Migrationserfahrung
- Teil 13: Alle dabei? LSBTIQ-Anliegen zwischen Alltag, Corona und einer Zukunft für Alle