Sorgearbeit im Zentrum der Wirtschaft
Queer ackern ‒ Eine queer-feministische Perspektive auf Ernährungssouveränität
22. November 2019
Die internationale Bewegung für Ernährungssouveränität Nyéléni steht für einen alternativen theoretischen und praktischen Ansatz von und zu „Entwicklung“ – sowohl im Globalen Süden als auch im Norden. Die Gärtnerin und La Via Campesina-Aktivistin Paula Gioia und die Agrarwissenschaftlerin Sophie von Redecker stellen die Frage, welche Rolle Queer-Feminismus in der Bewegung spielt und spielen sollte.
In der Bewegung für Ernährungssouveränität fehlt derzeit die Anerkennung von LGBTIQ* Personen. So werden etwa Frauen* in der Erklärung von Nyéléni auf Grund der vorherrschenden patriarchalen Geschlechterverhältnisse extra erwähnt. Personen, die nicht den heteronormativen Geschlechts- und Lebensentwürfen entsprechen, werden jedoch nicht explizit angesprochen. Dadurch werden sie nicht nur unsichtbar gemacht. Es wird auch eine intersektionale Perspektive erschwert, die die Analyse von Mehrfachdiskriminierung ermöglichen würde.
In der fehlenden Extrabenennung und mangelnden Sichtbarmachung der Sonderstellung von LGBTIQ*-Personen auf dem Land und in heteronormativ organisierten Gesellschaften sehen wir eine Lücke, die die Bewegung schließen sollte. Denn die „LGBTIQ-Community“ ist längst in der Bewegung aktiv. Ihr fehlt jedoch noch der Raum, um sich angemessen artikulieren zu können. Selbstverständlich kann eine solche Nichtbeachtung nicht einfach durch ein Benennen von LGBTIQ*-Personen in offiziellen Verlautbarungen behoben werden. Akzeptanz und Sichtbarkeit, die über Repräsentation hinausgeht, setzt aber diesen Schritt voraus oder muss zumindest damit einhergehen.
Natur ist Queer
Eine queere Perspektive auf Ernährungssouveränität kann das Konzept und die Bewegung verstärken, verfeinern sowie die kritische Ausrichtung vertiefen – gerade weil Ernährungssouveränität auch die sozial-ökologischen Komponenten mit einbezieht. Selbst wenn in der Nyéléni Erklärung auch jene Fischer*innen, Bäuer*innen, indigenen Menschen, die Autor*innen dieses Artikels, Frauen* und LGBTIQ*-Akteur*innen gemeint sind, die sich in einem binären Modell von Geschlecht und Begehren nicht wiederfinden, stellt sich die Frage, inwiefern sie sich in einem politischen Konzept wiederfinden wollen oder können, das zum Teil stark mit binären Vorannahmen und Essentialismen arbeitet.
Der oftmals mit „Natürlichkeit“ verknüpfte Diskurs um Ernährungssouveränität birgt ebenso wie ein mit „Natürlichkeit“ verbundener feministischer Diskurs, die Gefahr, sich auf normkonservative und binäre Geschlechtervorstellungen zu stützen und sie zu reproduzieren.
Essenzialisierende Geschlechtervorstellungen bleiben in der Praxis der Landwirtschaft und den Argumenten der Ernährungssouveränitätsbewegung allzu oft unhinterfragt. Sie müssen aufgedeckt und einer vielfältigeren, queeren, Sichtweise gegenübergestellt werden. Eine queere Sicht zeigt auf, dass eine Begründung unter Zuhilfename von „Natürlichkeit“ als Referenz nur eine Instrumentalisierung „der Natur“ ist. Um Heteronormativität zu stützen, wird ihr Prinzip in „die Natur“ hineingelesen, die Natur wird also benutzt, um die Norm zu stabilisieren, obwohl sie diese Grundlage nicht bietet. Es wird in „der Natur“ hegemonial genau das gesehen, was der heteronormativen Lebensweise entspricht, alles andere wird ausgeblendet. Der Referenzrahmen „Natur“ ist also bereits konstruiert.
Gerade im Kontext der Themen Landwirtschaft und Ernährungssouveränität scheint uns ein reflektierter Umgang mit dem, was als „natürlich“ bezeichnet wird, wichtig.
Probleme in der bäuerlichen Praxis
Gerade im landwirtschaftlichen und ländlichen Bereich wird die auf einem binären Geschlechtermodell basierende dichotome Unterteilung der Gesellschaft deutlich und tagtäglich reproduziert:
Männer* können Trecker fahren und pflügen und Frauen* sind für die Hauswirtschaft oder für den Anbau von Feingemüse zuständig.
Was plakativ klingt, ist auf den Höfen und Äckern für viele eine unhinterfragte Alltagspraxis. Mit diesen Stereotypen werden Frauen* besonders dann konfrontiert, wenn sie selbst den Hof führen. Landwirtschaftliche Betriebsleiterinnen* berichten, dass bei Kontakt mit Maschinenvetreter*innen oder landwirtschaftlichen Berater*innen meist zunächst nach ihren Ehemännern gefragt wird. Diese Diskriminierungen zeigen sich auch in den geschlechtsspezifischen Mustern der Berufswahl junger Menschen oder einer nicht vorhandenen Offenheit gegenüber sexuellen und geschlechtlichen Identitäten jenseits der heteronormativen zweigeschlechtlichen Norm. Auch in der Ablehnung von Lebensmodellen jenseits der traditionellen Kleinfamilie, manifestiert sich diese Diskriminierung. Die christliche Prägung im ländlichen Raum Europas verstärkt diese Realität.
Für viele LGBTIQ*-Akteure ist der Wegzug vom Land in größere Städte die naheliegendste Option. Ein Kontinent, der in den vergangenen 50 Jahren große Teile seiner (klein)bäuerlichen Landwirtschaft verloren hat und dringend Strategien benötigt, um ländliche Strukturen wieder zu stärken, kann sich diese Abwanderung junger Menschen nicht erlauben. Solange das Leben auf dem Land stark mit heteronormativen und konservativen Tendenzen verbunden wird, gehen der Landwirtschaft wichtige Akteur*innen verloren. Das sogenannte „Höfesterben“ wird verstärkt, da potenzielle Nachfolger*innen im Landleben keine Zukunft sehen (können).
Queeres Leben wird nach wie vor eher mit dem urbanen Großstadtleben verbunden. Zugleich gründen sich weltweit immer mehr queer-feministisch ausgerichtete Projekte oder über die Kleinfamilie hinausgehende Hofgemeinschaften auf dem Land.
Die Praxis kleinstrukturierter Landwirtschaft pluralisieren
Die „Wiederverbäuerlichung“ des ländlichen Raums als Gegenbewegung zu einem industriellen Agrarmodell ist deshalb nicht nur wichtig, um ein ernährungssouveränes Lebensmittelsystem zu ermöglichen. Sie kann und muss auch dazu beitragen, eine sozial gerechtere Gesellschaft zu schaffen, sowie eine Landwirtschaft, die mit der Natur zusammenarbeitet und klimagerecht ist. Die Neugestaltung kleinstrukturierter Landwirtschaft als Gegenwehr gegen die industrielle Marktlogik des Ernährungssektors kann hier als Riss im System genutzt werden. Er bietet das Potential, nicht einfach zu einem alten Bild von Bäuerlichkeit zurückzukehren, sondern Lebensweisen im ländlichen Raum und die Praxis der Landwirtschaft zu pluralisieren.
Wenn der „bäuerliche Familienbetrieb“ nicht wie selbstverständlich mit Vater, Mutter und (am liebsten biologischen und hoferbendem) Kind assoziiert wird, sondern genauso gut auch Vater, Vater und zwei Kinder oder viele Freunde und Wahlverwandte umfassen kann; wenn kollektive Hofgemeinschaften Rechtsformen auswählen können, die diesem Modell gerecht werden und die Nachbar*innen sie beim Stammtisch willkommen heißen, sind erste Schritte getan, um die Dominanz des patriarchalen Modells zu überwinden.
Gesellschaftlich hegemoniale Vorstellungen von Sexualität, Geschlechteridentität und Zusammenleben stützen ein kapitalistisches und patriarchales Gesellschaftssystem und sind somit hinderlich für die links-transformatorischen Ziele der Ernährungssouveränität.
Queere Lebensentwürfe sollten im tiefen Brandenburg oder in einer Landlosenbesetzung im ländlichen Raum Brasiliens nicht weniger selbstverständlich sein als in San Franciscos Szenevierteln – dafür muss die konstruierte Verknüpfung von Natürlichkeit und Heteronormativität ein Ende finden, ebenso wie die zur Kluft gewordene Dichotomie zwischen Stadt und Land.
Eine queer-feministische Perspektive unterstützt und vertieft den feministischen Kampf
Selbst innerhalb von La Via Campesina mussten Frauen* − trotz der anti-patriarchalen Ausrichtung der Bewegung − um Anerkennung und einen Platz kämpfen. Sie haben es geschafft, Reproduktion, Fürsorge und Menschlichkeit stärker ins Zentrum des systemkritischen Diskurses zu rücken. Eine feministische Perspektive setzt sich für die Anerkennung der zentralen Rolle von Frauen in der täglichen Nahrungsmittelproduktion, in der Erhaltung der Biodiversität und in der Pflege der Naturressourcen ein, denn ländliche Frauen* werden durch neoliberale Politiken und ihre Folgen doppelt diskriminiert und benachteiligt. Sie erleiden Unterwerfung und Sprachlosigkeit, die oft ihr Selbstwertgefühl und ihre leitenden Rollen in Gemeinschaften untergraben.
Darauf aufbauend bleibt jedoch die Frage, welche Vorstellung von Frau*-Sein hier benannt ist und ob „die Frauen“ in der Bewegung auch tatsächlich jene Sichtbarkeit erhalten, die ihnen durch eine Extrabenennung, sowie durch eine Fünfzig-Prozent-Quote in der Repräsentation bisher suggeriert wird. Eine queer-feministische Perspektive zeigt sich solidarisch mit diesem feministischen Kampf: er ist unumgänglich, solange das Patriarchat nicht überwunden ist.
Dennoch läuft eine rein feministische Perspektive Gefahr, binäre Geschlechtsmodelle zu wiederholen und Zuschreibungen zu reproduzieren, die queeren Lebensweisen, Gendervielfalt, unterschiedlichem Begehren, sowie einer Entkopplung von Geschlecht und Identität keine Beachtung schenken.
Eine queer-feministische Perspektive unterstützt die Stärkung von Frauen* im Diskurs um Ernährungssouveränität. Diese Stärkung soll aber nicht ausschließlich damit begründet werden, dass Frauen* die Familie versorgen und in weiten Teilen der Welt die landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten. Auch wenn dies vielerorts die Realität sein mag, ist dies aus einer queeren Perspektive nur eine mögliche Sicht auf die Lebensrealitäten und Identitäten von Frauen*. Durch solche Zuschreibungen werden Frauen*rollen konstruiert und ihre gesellschaftlich normative Stellung festgeschrieben, anstatt sie zu überwinden und auszuweiten.
Nur wenn Fragen der Fürsorge, der Care-Arbeit und des gemeinschaftlichen Lebens vergemeinschaftet werden, nur wenn heteronormative und geschlechtsspezifische Ausbeutung ein Ende findet, können Gendervielfalt und queere Lebensmodelle frei entfaltet werden.
Eine doppelt so lange Version dieses Artikels findet sich in der Zeitschrift „Luxemburg“. Dort finden sich auch zusätzliche Fußnoten und Literaturhinweise.
LGBTIQ steht für Lesben, Gays, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle und Queer.
Das * verdeutlicht, dass die Aufzählung nicht abgeschlossen oder feststehend ist.
Paula Gioia
ist Gärtnerin und Aktivistin für eine andere Landwirtschaft bei La Via Campesina Europa.
Sophie von Redecker
ist Masterstudentin der Ökologischen Agrarwissenschaften an der Universität Kassel-Witzenhausen und Stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie studierte Gender Studies an der Universität Kassel.
Teil 5 der Blogserie „Sorgearbeit im Zentrum“
Mit dieser Blogserie wollen wir deutschsprachige und internationale Diskussionen vorstellen, die sich damit beschäftigen, wie Sorgearbeit, ökologische und soziale Gerechtigkeit und unser wachstumsbasiertes Wirtschaftsystem zusammen hängen. Dafür wählen wir verschiedene Formate: wir stellen Videos vor, Ton-Mitschnitte aus Konferenzen, Podcasts und Texte. Wir wollen mit dieser Blogserie einen Wegweiser bieten über einiges bisher gedachte, und dazu einladen, darüber hinauszudenken.
Alle Beiträge der Serie
- Teil 1: Warum Care und Degrowth zusammen gehören
- Teil 2: Wie steht es um die Care Revolution
- Teil 3: Ökofeministische Kritik von „Entwicklung“
- Teil 4: Das Ganze der Ökonomie
- Teil 5: Queer ackern
- Teil 6: Kämpfe um Identätsfragen sind neoliberal
- Teil 7: Lokale und globale Perspektiven auf Sorgearbeit
- Teil 8: Gemeinsam politische Posten besetzen
- Teil 9: Die radikale neue Rechte
- Teil 10: Extraktivismus, Klimakrise und ökofeministische Entwicklungsalternativen in Afrika
- Teil 11: Wie wollen wir Care organisieren?
- Teil 12: Hinter jeder erfolgreichen Frau steht eine andere Frau mit Migrationserfahrung
- Teil 13: Alle dabei? LSBTIQ-Anliegen zwischen Alltag, Corona und einer Zukunft für Alle