Sorgearbeit im Zentrum der Wirtschaft
Hinter jeder erfolgreichen Frau* steht eine andere Frau* mit Migrationserfahrung
20. Dezember 2019
Behshid Najafi arbeitet seit über 25 Jahren für den Verein agisra (Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung) in Köln. Beim Feminist Futures Festival hat sie auf einem Podium über globale Sorgeketten und die Kämpfe um ein gutes Leben für alle zwischen Nord und Süd, Ost und West gesprochen. Andrea Vetter vom Konzeptwerk Neue Ökonomie hat mit Behshid Najafi nach dem Festival ein Telefoninterview zur Arbeit von Agisra und ihre Perspektive auf Care-Arbeit geführt.
Was ist agisra und was machst du dort?
Wir sind eine Informations- und Beratungsstelle für Migrantinnen* und geflüchtete Frauen*. Seit 1993 arbeiten wir in Köln, ich bin von Beginn an dabei. Unser Team besteht zurzeit aus 16 Frauen*, zwei davon ohne Migrations- und Fluchterfahrung. Unser Team spricht rund 15 Sprachen, für alle anderen Sprachen bestellen wir Dolmetscherinnen*. Meine Tätigkeiten sind vielfältig: ich gehe drei Stunden mit einer Frau* zur Behörde, aber ich besuche auch internationale Konferenzen, wie 2001 die Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban, oder Peking+20 in New York. Der Einzelfall zählt – aber wir müssen uns auch dafür einsetzten, dass die Gesellschaft verändert wird!
Wie funktioniert eure Beratung?
In der Beratung begleiten und unterstützen wir Migrantinnen* und geflüchtete Frauen*, unabhängig von ihrer sozialer und ethnischer Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung, Alter, Sprache und Aufenthaltsstatus. Leider sind nicht alle Beratungsstellen offen für Frauen*, die wenig deutsch sprechen. Wir sagen: das ist ihr Recht und unsere Pflicht, diese Frauen* ebenso zu unterstützen. Wir haben immer auch Menschen ohne Papiere begleitet. 2003 hat die Kölner Ausländerbehörde uns deshalb angezeigt, weil wir nach §95 und 96 des Aufenthaltsgesetzes „Beihilfe zum illegalen Aufenthalt“ geleistet hätten, das Verfahren wurde aber nach einem Jahr von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Im Jahr 2011 wurde das Gesetz verändert und humanitäre Hilfe ist seither nur strafbar, wenn es wiederholt vorkommt. Seit 2011 bekommen wir auch Geld von der Kommune Köln, um diese Frauen* zu unterstützen.
Unser Beratungskonzept ist feministisch, ressourcenorientiert, anti-rassistisch und berücksichtigt Migrationsaspekte in der Beratung. Feministisch heißt für uns, dass wir parteiisch für die Frau* sind und ihr Glauben schenken und dass wir uns dafür einsetzen, dass sie selbständig wird. Ressourcenorientiert heißt, die Frauen* kommen mit einem oder mehreren Problemen zu uns, aber sie haben auch sehr viel geschafft in ihrem Leben. Manchmal nehmen sie ihre Ressourcen gar nicht mehr wahr – wir wollen darauf aufmerksam machen und diese stärken. Intersektionalität ist ein wichtiges Konzept in der Beratung: wir schauen, von welchen Unterdrückungsaspekten – Rassismus, Sexismus, Klassismus – ist sie betroffen, und wir setzen uns dafür ein, dass sie in allen Bereichen gestärkt wird.
Was hat die Einzelfallberatung mit Gesellschaftsveränderung zu tun?
Unser Ziel ist es, Informationen weiterzugeben und so nicht nur Einzelne zu unterstützen, sondern gesellschaftspolitisch die Situation für alle Frauen* zu verändern. Deshalb sind unsere weiteren Schwerpunkte Bildung und Selbstorganisation.
Wir sind selbst ein Verein der migrantischen Selbstorganisation, arbeiten zusammen mit anderen selbstorganisierten Gruppen und geben unser Know-How weiter. Es soll nicht über uns gesprochen werden, sondern wir wollen selbst eine Stimme haben.
Wir geben viele Workshops und Seminare zum Thema Frauen*, Flucht und Migration, bundesweit und bei uns im Haus. Zielgruppe sind Multiplikator*innen, die in der Flüchtlings- oder Sozialberatung tätig sind. Wir geben auch zahlreiche Workshops in Schulen.
Wir bieten Gruppen an zum Thema Gesundheit, Erziehung, Sexualität und Gewalt für betroffene Frauen*. Zwei Kolleginnen sind Wendo-Trainerinnen. Wir haben kostenlose Yoga- und Gymnastikkurse die offen für alle Frauen* sind.
Außerdem sind wir landesweit, bundesweit, europaweit und weltweit vernetzt. 2013 waren wir an der Gründung des Dachverbands der migrantischen Selbstorganisierungen, DaMigra beteiligt, ich war die Koordinatorin. 2018 sind wir aber ausgestiegen, weil Migrantinnenorganisationen darin mangelnd beteiligt waren. Wir arbeiten auch mit beim PICUM (Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants), einem europaweiten Netzwerk für die Unterstützung von Menschen ohne Papiere und sind Mit-Initiatorinnen von KOK (Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel).
Warum seid ihr ein Verein ausschließlich von und für Frauen*?
Es gibt viele Menschenrechtsverletzeung – Armut, mangelnde medizinische Versorgung, Kriege und Bürgerkriege, religiöse, ethnische und politische Verfolgung, mangelnde Schulbildung und die Folgen der Umweltzerstörung – die alle betreffen: Frauen*, Männer* und Kinder. Es gibt aber leider auch Menschenrechtsverletzungen, die auf patriarchalen Strukturen und Normen basieren und fast ausschließlich für Frauen* gelten und deren Selbstbestimmungsrechte schwerwiegend verletzen, wie erzwungene Jungfräulichkeit, Zwangsabtreibung, Zwangssterilisation, Witwenverbrennung, Zwangsverheiratung, Zwangsprostitution, Kleidervorschriften wie Zwangsver- oder Entschleierung, Genitalbeschneidung, Vergewaltigung. Diese sind hauptsächlich mit dem Körper und der Kontrolle über die Sexualität der Frau* verbunden.
Was bedeutet das für migrierende oder flüchtende Frauen*?
Nach ILO-Berichten sind von den 191 Millionen Arbeitsmigrant*innen weltweit die Hälfte Frauen*, bei den 75 Millionen Geflüchteten sind die Hälfte Frauen* und Mädchen*. Diese Frauen* migrieren auf Grund all dieser verschiedenen Menschenrechtsverletzungen. Sie flüchten oder migrieren auf der Suche nach Perspektiven, auch vielleicht durch eine Arbeit. Es wird zunehmend von „Feminisierung der Migration“ gesprochen – seit zehn Jahren etwa. Das liegt daran, dass die Frauen* mehr Verantwortung für ihre Familien und Kinder übernehmen. Aber auf dem Arbeitsmarkt – welche Chancen haben Frauen* auf dem internationalen Arbeitsmarkt? Aufgrund von patriarchalen Strukturen steht ihnen Arbeit im Haushalt, Pflege oder Sexarbeit offen. Das heißt, wenn die Frauen* in ihren Herkunftsländern keine Möglichkeit gehabt haben, höhere Bildung zu erlangen, haben sie nur in diesen Bereichen Chancen. Das gilt auch für ausgebildete Frauen*, deren Bildungsabschlüsse hier oft nicht anerkannt werden. Das heißt, Frauen* übernehmen diese Reproduktionsarbeit, die auch sonst nicht wertgeschätzt wird, obwohl es wichtige Arbeit ist – das heißt Putzen, Reinigen, Bügeln, Waschen, Pflegen von Kindern, Alten und Kranken. In den Industrieländern oder in reichen Familien übernehmen die migrierten Frauen* diese Arbeit. Früher sagte man, hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau. Jetzt sagen wir: hinter jeder erfolgreichen Frau* steht jetzt eine andere Frau*, die eine Migrantin* ist. Viele dieser Migrantinnen* lassen ihre eigenen Kinder bei Verwandten, der Großmutter, der Schwester, und kümmern sich um den Haushalt einer anderen Familie.
Wie viele Frauen* sind das etwa hierzulande?
In Deutschland beschäftigen laut DGB etwa 2,6 Millionen deutsche Haushalte Hausarbeiterinnen*, davon 90 Prozent nicht offiziell, ohne Arbeitsvertrag, ohne Sozialabgaben. Es gibt zudem etwa drei Millionen Pflegebedürftige in Deutschland, über 70 Prozent davon werden zu Hause gepflegt. Wer sind diese Migrantinnen*, die diese Arbeiten übernehmen? Viele sind aus EU-Ländern. Es wird gesagt, in manchen Dörfern in Rumänien gibt es nur noch Kinder und Großeltern. Alle Mütter sind ausgewandert, um den Lebensunterhalt der Kinder zu sichern.
Welche Probleme treten dabei auf?
Die Gefahr für Menschenrechtsverletzungen sind in diesen Arbeitsverhältnissen sehr hoch. Denn diese Frauen* arbeiten allein im Haushalt, meistens ohne geregelte Arbeitszeit, ohne Kranken- und Unfallversicherungsschutz und mit geringer Bezahlung, ohne Rentenansprüche. Diejenigen, die im Haushalt leben, haben 24h Bereitschaft. Und wenn Frauen* wenig Deutschkenntnisse haben, ist es sehr schwierig für sie, ihre eigenen Interessen zu vertreten und überhaupt an die Informationen zu kommen, welche Rechte sie haben.
Wie können diese Arbeiterinnen* erreicht werden?
Die Erreichbarkeit ist sehr schwierig. Zu uns kommen deshalb eher extreme Fälle. Frauen*, die schwerer Ausbeutung oder Gewalt ausgesetzt sind, Opfer von Vergewaltigung oder Menschenhandel. Seit 2005 hat sich der Paragraf zu Menschenhandel verändert – Gewalt und Ausbeutung ist seitdem auch als Menschenhandel zu klassifizieren. Doch wenn wir diesen Frauen* helfen, kommen wir mit dem Zoll und den Behörden in Konflikt, die sagen: das ist illegale Arbeit. Wir sagen: die sind keine Täterinnen*, sondern Opfer von Menschenhandel, sie brauchen unsere Unterstützung! Wir unterstützen Frauen*, die ihren Lohn nicht bekommen haben, wir begleiten sie zum Arbeitsgericht. Aber die Frauen* verlieren dann ihren Job. Was machen sie dann? Die Abhängigkeitsverhältnisse sind sehr hoch, es gibt keine Netzwerke, um das aufzufangen. Deutschland hat die ILO Konvention 189 (decent work for domestic workers) unterzeichnet, aber leider mit Vorbehalten. Diese Vorbehalte sind für die 24h-in-Haus-Pflege. Das kritisieren wir, denn gerade diese Menschen brauchen Unterstützung, um von dieser Konvention positiv profitieren zu können.
Welche politischen Forderungen ergeben sich aus euren Erfahrungen?
Das Minimum ist, Care-Arbeit als staatliche Aufgabe zu betrachten, nicht als individuelles Problem. Dass es gesicherte Arbeitszeitregelungen gibt: Feiertage, Mutterschutz. Eine Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung für Hausarbeiterinnen*. Die Gewerkschaften müssen sich öffnen und Raum schaffen für Care-Arbeiterinnen*! Es braucht legale und unbürokratische Wege für Einwanderung. Eine Hotline für akute Notfall-Situationen für Menschen aus dem Sektor Care-Arbeit, ähnlich wie die Hotlines die bei Gewalt gegen Frauen* helfen, das wäre eine gute Sache. Außerdem eine Änderung für den Status der Au-Pairs. In Deutschland gibt es den Au-Pair-Status für junge Menschen zwischen 17 bis 26 Jahren, fast nur Frauen*. Es ist vorgesehen, dass sie leichte Hausarbeit und Kinderbetreuung machen, einen Deutschkurs besuchen, Lohn bekommen. Wir haben mehrere Frauen* gehabt, die massive Gewalterlebnisse hatten, vergewaltigt wurden – sie haben das alles ertragen, weil sie Angst hatten, den Aufenthaltsstatus zu verlieren. Dieser Aufenthaltsstatus ist gebunden an eine Familie, und sie haben nur zwei Wochen Zeit um eine neue Familie zu finden. Das ist eine sehr diskriminierende Regelung. Viele haben Angst, nicht so schnell eine neue Familie zu finden. Deshalb bleiben sie oft in Gewaltsituationen. Es gibt sehr viele private Au-Pair Agenturen fast ohne staatliche Kontrolle – dafür braucht es mehr Kontrolle und mindestens drei Monate Zeit, um den Arbeitgeber zu wechseln.
Und dann natürlich die Maximalforderungen: wir müssen die Weltwirtschaftsordnung insgesamt ändern. Patriarchale Strukturen und den Kapitalismus abschaffen. Kleine Schritte sind wichtig. Aber große Träume sind auch wichtig. Denn die kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Strukturen bringen die Frauen* in diese Situation!
* Mit dem Gendersternchen versuchen wir auf das Spannungsfeld der geschlechterdualistischen Zuschreibung aufmerksam zu machen und sie aufzulösen z.B. bei „Frauen*“ alle miteinzuschließen, die sich als Frau definieren, unabhängig von bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht oder von Geschlechtsmerkmalen. Nicht nur „Frauen“ können von heteronormativer Diskriminierung betroffen sein, sondern auch LGBTIQ. Dennoch befinden wir uns in einer Welt/Gesellschaft, in der nach wie vor patriarchale und geschlechterdualistische Vorstellungen den Alltag bestimmen und den Begriff sowie den Kampf um Frauenrechte notwendig machen. Wir bleiben weiterhin in Diskussion darüber.
Foto: Anja Weber von taz
Behshid Najafi
ist Menschenrechtsaktivistin. Pragmatisch aber auch visionär ist ihr Ziel, die Gesellschaft für alle Frauen* zu verbessern.
Mehr über die Arbeit von Agisra in diesem Video erfahren.
Andrea Vetter
schreibt und organisiert zu den Themen Care und Degrowth für das Konzeptwerk Neue Ökonomie, das Haus des Wandels in Ostbrandenburg und die Zeitschrift Oya: enkeltauglich leben.
Teil 12 der Blogserie „Sorgearbeit im Zentrum“
Mit dieser Blogserie wollen wir deutschsprachige und internationale Diskussionen vorstellen, die sich damit beschäftigen, wie Sorgearbeit, ökologische und soziale Gerechtigkeit und unser wachstumsbasiertes Wirtschaftsystem zusammen hängen. Dafür wählen wir verschiedene Formate: wir stellen Videos vor, Ton-Mitschnitte aus Konferenzen, Podcasts und Texte. Wir wollen mit dieser Blogserie einen Wegweiser bieten über einiges bisher gedachte, und dazu einladen, darüber hinauszudenken.
Alle Beiträge der Serie
- Teil 1: Warum Care und Degrowth zusammen gehören
- Teil 2: Wie steht es um die Care Revolution
- Teil 3: Ökofeministische Kritik von „Entwicklung“
- Teil 4: Das Ganze der Ökonomie
- Teil 5: Queer ackern
- Teil 6: Kämpfe um Identätsfragen sind neoliberal
- Teil 7: Lokale und globale Perspektiven auf Sorgearbeit
- Teil 8: Gemeinsam politische Posten besetzen
- Teil 9: Die radikale neue Rechte
- Teil 10: Extraktivismus, Klimakrise und ökofeministische Entwicklungsalternativen in Afrika
- Teil 11: Wie wollen wir Care organisieren?
- Teil 12: Hinter jeder erfolgreichen Frau steht eine andere Frau mit Migrationserfahrung
- Teil 13: Alle dabei? LSBTIQ-Anliegen zwischen Alltag, Corona und einer Zukunft für Alle