Sorgearbeit im Zentrum der Wirtschaft

Gemeinsam politische Posten besetzen

05. Dezember 2019

 

Áurea Carolina de Freitas e Silva arbeitet als Abgeordnete im brasilianischen Parlament und ist Expertin für Gender und Gleichberechtigung. Sie widmet sich den Belangen von Frauen, von PoC (People of Color) , LGBTI (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle), Jugend, indigenen Völkern und Gemeinschaften und Menschen, die in den Peripherien leben. Im Jahr 2016 wurden Áurea Carolina und Cida Falabella von der linken Partei PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) durch eine gemeinsame Kampagne, der „Muitas“-Bewegung, zu Stadtratsmitgliedern in Belo Horizonte gewählt. Zusammen mit Bella Gonçalves, der damaligen ersten Stellvertreterin von Áurea, weihten sie die „Gabinetona“ (übersetzt soviel wie „großes Kabinett“) im Stadtrat von Belo Horizonte ein, indem sie ihre Mandate, Büros und Teams zusammenlegten. Im Jahr 2018 wurde Áurea Carolina zur Bundesabgeordneten des Bundesstaates Minas Gerais gewählt – als meist gewählte Frau im Bundesstaat. Sie baute dieses kollektive, offene und populäre Mandat, das sich heute in drei Bereichen der Legislative bewegt, zusammen mit drei weiteren Parlamentarierinnen – Cida Falabella und Bella Gonçalves, im Rathaus von Belo Horizonte und Andréia de Jesus, in der Abgeordnetenkammer von Minas Gerais – weiter aus. Mit der „Gabinetona“ gründet sie ein in der brasilianischen Politik beispielloses Projekt mit, das vier parlamentarische Mandate verschiedener Ebenen in einem gemeinsamen Mandat mit gemeinsamen Aktionen, Strategien und Teams vereint. Mehr als 100 Aktivist*innen, Expert*innen und Forscher*innen arbeiten gemeinsam mit ihnen, auch in Zusammenarbeit mit Bürger*innen und sozialen Bewegungen.

Lea Goncalves Crescenti hat auf dem Feminist Futures Festival im September 2019 in Essen mit Auréa gesprochen. Das Interview wurde von Lea ins Deutsche übersetzt.

Áurea, hi, wir sind hier auf dem Feminist Futures Festival, wie empfindest du es, wie war dein Tag?

Es waren Tage des Lernens, des Hinterfragens, der Reflexion. Es war ein sehr wichtiger Raum um zu sehen, dass wir sehr ähnlichen Herausforderungen erleben, obwohl unsere Kontexte manchmal ganz unterschiedlich sind. Wir brauchen viel Unterstützung in diesem transnationalen Netzwerk der Zusammenarbeit zwischen feministischen Kämpfen.

Du lebst in Belo Horizonte, du kommst von dort und arbeitest als Abgeordnete. Erzähl mir ein wenig über dich selbst und deine Arbeit.

Ich komme aus der Stadt Belo Horizonte, die im Bundesstaat Minas Gerais im Südosten Brasiliens liegt. Es ist eine große Stadt, die heute zum ersten Mal im Nationalkongress durch eine Schwarze Frau vertreten ist. Ich bin Abgeordnete des Bundesstaates Minas Gerais und Teil eines kollektiven Mandats, das wir „Gabinetona“ nennen.

Eine Geschichte, die 2017 begann als wir in Belo Horizonte zwei Plätze im Stadtrat gewonnen haben. Wir hatten eine gemeinsame Kampagne mit mehreren Kandidaturen gestartet, die das Ziel hatte, ein kollektives Mandat aufzubauen. Das heißt, das Mandat kam schon bevor überhaupt klar war, wie wir das in der Praxis umsetzen würden. Wir haben viel von dieser Möglichkeit in Belo Horizonte geträumt. Ich war eine von zwei gewählten Stadträtinnen, und diejenige, die in der Stadt am meisten Stimmen bekommen hat – eine sehr überraschende Abstimmung! Denn unsere Arbeit im Vorfeld wurde zwar mit hohem freiwilligem Engagement aber sehr geringen finanziellen Mitteln geleistet. Wir haben gesehen, dass es möglich ist, die Barriere des politischen Systems trotz aller Schwierigkeiten zu überwinden. Und diese Struktur herauszufordern, die vor allem Weißen, Geschäftsleuten und Erben gehört, die immer die Spielregeln kontrollieren. Mit mir wurde auch Cida Falabella als Stadträtin gewählt, sie ist fast 60 Jahre alt, kommt vom Theater und hat einen Kulturraum am Stadtrand namens „zap 18“ aufgebaut.

Wir beide haben dann gemeinsam beschlossen, diesen Traum von einem kollektiven Mandat zu verwirklichen, und haben von Anfang an unsere Büros zusammen gelegt und dem Projekt den Namen „Gabinetona“ gegeben. Wir haben zwei Teams in einem einzigen Team zusammengeführt. Und wir hatten von Anfang an den Anspruch an dieses Team, repräsentativ und vielfältig zu sein, weil das für uns demokratische Kriterien sind. Es war ein Team mit einer Mehrheit an Frauen, Schwarzen Menschen, mit einer sehr starken Präsenz von LGBTI-Personen, zum ersten Mal der Präsenz einer indigenen Frau, einer schwarzen Trans-Frau, mit Bewohner*innen besetzter Häuser. So begannen wir also mit dem radikalen Experiment in der Stadt Belo Horizonte.

Wie ging es dann weiter?

Bei den Wahlen 2018 haben wir unsere Idee auf die parlamentarische Länder- und Bundesebene ausgedehnt. Wir haben abermals mehrere Kandidaturen gestartet und es geschafft, die Landtagsabgeordnete Andréia de Jesus zu wählen, eine Schwarze Frau aus einer Stadt der Metropolregion Belo Horizontes namens Ribeirão das Neves. Diese Stadt ist eine sehr stigmatisierte Stadt mit vielen Gefängnissen und einer sehr schlechten Infrastruktur. Die meisten Menschen dort leben unter schwierigen Bedingungen. Die Stadt wird oft als Satellitenstadt bezeichnet, die meisten Einwohner*innen verbringen einen Großteil ihrer Zeit mit Arbeit in der Hauptstadt Belo Horizonte. Andréia kommt aus dem Anti-Häftlingskampf, sie hinterfragt dieses Modell der massenhaften Inhaftierung junger Menschen, vor allem Schwarzer, die keine Gelegenheit hatten, zu studieren, die keinen Zugang zu ihren Rechten haben. Als beliebte Anwältin ist sie auch mit der Bewegung für den Kampf um Wohnraum verbunden. Zusammen mit Andréia wurde ich als Bundesabgeordnete gewählt und bin jetzt in Brasilia.

Wie viele seid ihr jetzt bei Gabinetona?

Abgeordnete sind wir vier: Andréia, Bella, Cida und ich. Bella war die erste Stellvertreterin als Cida und ich zu Stadträtinnen in Belo Horizonte gewählt wurden. Cida und ich haben zusammen mit Bella eine „Co-Abgeordnetenschaft“ gegründet, eine gemeinsame Teilung des Mandats von Vertreterinnen auf kommunaler Ebene. Und als ich die Wahl zur Bundesabgeordneten gewann, übernahm Bella die Position der Stadträtin und wir vier arbeiteten seitdem in dieser Mandats-Teilung, die neben den Parlamentarierinnen heute ein Team mit fast 100 Personen mit einbezieht. Es ist ein sehr vielfältiges Team, indem weiterhin Frauen und Schwarze Menschen in der Mehrheit sind. Wir haben jetzt die Präsenz indigener Frauen und Transsexueller erweitert, und wir sind sehr stolz darauf, denn es geht nicht nur um die Anwesenheit unterrepräsentierter Personen, die von der institutionellen Politik entfernt sind, sondern um die Stärke der Anliegen, Kämpfe und Verpflichtungen, die diese Menschen mitbringen.

Wie kamst du selbst zur Politik?

Ich komme aus der Hip-Hop-Kultur, in meiner Jugend war ich Rap-Sängerin. Ich begann sehr früh in der Politik zu arbeiten und habe selbstorganisierte Gruppen ins Leben gerufen. Ich war in der Bildungsarbeit tätig und habe mich mit feministischen, antirassistischen, jugendlichen und kulturellen Kollektiven vernetzt. Durch diese Erfahrung habe ich verstanden, dass alle diese Perspektiven auch mit institutioneller Politik zu tun haben. Mein Weg, zusammen mit so vielen anderen Partner*innen, zeigt wie wichtig es ist, dass viele gewöhnliche Menschen in Machtpositionen sind, um Entscheidungen zu treffen und diese „gewöhnlichen“ Geschichten ins Zentrum zu tragen.

Und wie organisiert ihr euch? Diese riesige Gruppe von Menschen, wie funktioniert das in der Praxis?

Formal haben wir vier Mandate, und jedes Mandat hat ein eigenes Büro. Im Fall von Belo Horizonte ist es ein gemeinsames Büro, zwei in einem. Jedes Mandat hat ein eigenes Team von Mitarbeiter*innen. Wir wollen aber alle unsere Projekte gemeinsam umsetzen.

Vor kurzem haben wir in Belo Horizonte ein „Gabinetona“-Haus eingeweiht. Dort können Meetings, Workshops, Mobilisierung von Menschen und der Empfang von Gruppen stattfinden. Auch die Verwaltung und die Kommunikationszentren des Mandats werden dort untergebracht.

Seit einiger Zeit arbeiten wir an einer „Menschenrechtsfront“. Wir erhalten täglich Anklagen von Menschenrechtsverletzungen, die wollen wir bearbeiten. Im Gabinetona-Haus gibt es einen Raum, in dem dafür qualifizierte Menschen zuhören. Wir können durch das Haus das Schutznetz der öffentlichen Politik für andere soziale Bewegungen aktivieren, und unsere Rolle nutzen, um die Regierungen zu drängen, auf diese Menschenrechtsverletzungen zu reagieren. Dieses Haus ist für uns eine Errungenschaft, weil es die Erfahrung der Integration materialisiert.

Jedes der vier Mandate hat seine Besonderheiten. Wir arbeiten für gemeinsame Ziele, aber wir haben unterschiedliche Arten, das umzusetzen – das variiert je nach Profil jeder Parlamentarierin und dem jeweils mit ihr verbundenen Team. Alle vier haben wir gesetzgeberische Rechte: Gesetze vorschlagen, an öffentlichen Anhörungen teilnehmen, Regierungen beaufsichtigen – und wir versuchen, das auf gemeinsame Weise zu tun.

Welche Themen liegen euch besonders am Herzen?

Priorität haben für uns das Recht auf Kultur und Bildung, die Menschenrechte, die Frage nach Landgewinnen und das „gute Leben“ in einem breiteren Sinne. Und anhand von diesen großen Achsen entfalten wir das, was wir die „Karte der Kämpfe“ nennen. Zum Beispiel haben wir eine Karte der Kämpfe mit dem Thema „die Sicherheit der Bürger“. Dieses Thema ist natürlich verbunden mit Menschenrechten, mit Kultur und Bildung, mit Landgewinnen.

Unser Team wird anhand dieser spezifischen Themen gebildet, fast 100 Aktivist*innen, die aus ihren jeweiligen Erfahrungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten beitragen. Darunter Menschen, die am Kampf um Wohnraum beteiligt sind, solche, die sich mit Fragen der Gesundheit von Transpersonen befassen, … und so entwickeln wir unendliche Themen! So können wir auch auf die vielen an uns gestellten Anfragen reagieren. Denn obwohl es sich um ein großes Mandat handelt, sind wir sehr wenige angesichts all der Probleme, mit denen wir aktuell konfrontiert sind, wie dem Verlust von Rechten. Deshalb legen wir Wert darauf, in einem Netzwerk zu arbeiten. Nicht nur, weil es effektiver ist, sondern auch, weil wir glauben, dass wir nur so Dinge verändern, in einem Prozess der gemeinsamen Übernahme von Verantwortung zusammen mit einem breiteren Feld fortschrittlicher Kräfte.

Der interne Entscheidungsprozess ist dabei immer eine Herausforderung, aber wir sind entschlossen, ihn so offen wie möglich, demokratisch und horizontal zu gestalten, weil es das ist, woran wir glauben.

Wie wird diese Arbeit von Euch aufgenommen? Auf der einen Seite im politischen Umfeld und auf der anderen Seite auch in der Gemeinschaft, in Belo Horizonte. Wie reagieren die Menschen?

Im politischen Umfeld gibt es mittlerweile eine gewisse Begeisterung für die kollektiven Mandate. Die Geschichte beginnt sich bereits zu verbreiten. Weitere Erfahrungen mit kollektiven Mandaten sind schon bei den Wahlen 2018 aufgetaucht. Eine von ihnen, die mich sehr begeistert, ist von Leuten aus Pernambuco. Die „Juntas“, fünf Co-Kantidatinnen – Frauen, Feministinnen, Diverse –, haben sich mit ihrem Namen zur Wahl gestellt. Im brasilianischen Wahlsystem ist es eigentlich nur eine Person, die mit ihrem Namen als Kandidatin bei der Wahl antritt. Zusätzlich zu dieser Person waren sie jedoch noch vier weitere Frauen, die zusammenarbeiteten. So arbeiten diese fünf Co-Kandidatinnen, die die „Juntas“ sind, nun in der gesetzgebenden Versammlung von Pernambuco als Landesabgeordnete. Das war auch ein beeindruckender Sieg.

Es gibt auch ein Beispiel aus São Paulo, wo es 9 Co-Kandidatinnen gibt. Eine Person, deren Name zur Wahl steht, und acht weitere, die dazu gehören. Und ich glaube, dass sich diese Art von Initiativen im Jahr 2020 noch verstärken wird. Alle diese Initiativen sind progressive, verbunden mit den Kämpfen des Volkes.

Was das Landgewinnen betrifft, so hat es anfangs zu Verwunderung und Misstrauen geführt, wie wir uns vorstellten: „Ein Mandat, zwei in einem, zwei Ratsmitglieder, aber nur ein Mandat, es nennt sich Gabinetona, was ist das?“ Aber in der Praxis haben es die Menschen verstanden. Im Rathaus haben wir Möglichkeiten geschaffen, die bürokratische Organisation des Hauses anzupassen. Beispielsweise indem wir nur eine Computerwartung anforderten, nicht zwei. Das sind winzige Beispiele dafür, wie wir die Kultur der Institution selbst verändert haben. Dies gilt auch in Bezug auf unser Hauptziel, den Prozess der Bürger*innen-Beteiligung zu gestalten. Früher haben wir gemeinsame Anhörungen durchgeführt. Und jetzt verbessern wir diese direkten Mechanismen zur Verbindung mit der aktiven Bürger*innenschaft weiter. Unser Modell ist also eines, das noch sehr am Anfang steht. Aber ich sehe, dass es anfängt Wurzeln zu schlagen.

Áurea Carolina

ist eine brasilianische Politikerin und seit 1.2.2019 Bundesabgeordnete für Minas Gerais in der Abgeordnetenkammer des Nationalkongresses. Sie ist Mitglied des Partido Socialismo e Liberdade (PSOL).

Lea Goncalves Crescenti

ist Geographie-Studentin und hat sich als Praktikantin beim Konzeptwerk Neue Ökonomie mit Themen rund um Sorgearbeit und Feminismus beschäftigt.

Teil 8 der Blogserie „Sorgearbeit im Zentrum“

Mit dieser Blogserie wollen wir deutschsprachige und internationale Diskussionen vorstellen, die sich damit beschäftigen, wie Sorgearbeit, ökologische und soziale Gerechtigkeit und unser wachstumsbasiertes Wirtschaftsystem zusammen hängen. Dafür wählen wir verschiedene Formate: wir stellen Videos vor, Ton-Mitschnitte aus Konferenzen, Podcasts und Texte. Wir wollen mit dieser Blogserie einen Wegweiser bieten über einiges bisher gedachte, und dazu einladen, darüber hinauszudenken.